Mittwoch, 24. April 2024

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"Romeo und Julia" in Stuttgart
Tollhaus der Liebe im Wachsfigurenkabinett

Romeo und Julia von William Shakespeare setzt in der Stuttgarter Inszenierung von Oliver Frljic auf Shakespeare pur und gewinnt: Sichtbar werden erschreckend zeitlose Familienpathologien, Fragen der sexuellen Identität, starke patriarchalische Machtstrukturen und – die Nachtseite der Liebe.

Von Cornelie Ueding | 25.11.2018
    Romeo und Julia von William Shakespeare in einer Inszenierung von Oliver Frljić am Schauspiel Stuttgart. Nina Siewert als Julia im Sarg und Gabriele Hintermaier als Lady Capulet im Hintergrund
    Nina Siewert als Julia in der Shakespeare-Inszenierung von Oliver Frljic. (Schauspiel Stuttgart / Thomas Aurin)
    Kaum hat sich der Vorhang gehoben – erfolgt schon die erste Überraschung des Abends: Romeo stürzt auf seinen Freund Mercutio zu und beide umschlingen und verschlingen einander in einer endlosen Kuss- und Liebesszene.
    Unmittelbar darauf die zweite Überraschung: der amouröse Totentanz zwischen Romeo und Julia ist schon zu Ende, wenn das Stück beginnt.
    Auf den Kopf gestellt oder kenntlich gemacht?
    Beide liegen bereits im Sarg. Und zwar nicht – dies ist die dritte Überraschung – als Opfer eines tragischen Irrtums wie bei Shakespeare, sondern eines gezielten Doppelselbstmords.
    Die berühmteste Liebesgeschichte der Weltliteratur auf den Kopf gestellt - oder zur Kenntlichkeit gebracht? Keine ganz einfach zu beantwortende Frage. Denn einerseits setzt Regisseur Oliver Frljic sehr grelle Akzente , andererseits hält er sich strukturell nahe am Text, wenn auch nur Kernelemente, Schlüsselstellen bleiben – Wortechos, die sich in unseren Köpfen wie auch in denen der Figuren festgesetzt haben: "meine Tochter gehört mir!", --- "Die Pest auf eure beiden Häuser!" – "an den Haaren werd ich dich zur Kirche schleifen!".
    Nein! In einer derartig dominanzaffinen Gesellschaft kann Liebe keine Chance haben. Da kann Julia noch so oft mit dem Kopf, dem ganzen Körper gegen die Wand rennen oder von unsichtbaren Mächten auf den Boden geschleudert werden: An den realen Machtverhältnissen ändert das nichts.
    Geisterstunde der Passion
    Prachtvoll verdüsterte Bilder grundieren diesen gespenstischen Pas de deux in den Abgrund. Da wird, zwischen Tollhaus der Leidenschaft und einem Wachsfigurenkabinett der Liebe, ein verstörendes Grundgefühl beschworen, ja fast verzweifelt herausgeschrien, als ginge es um’s Leben:
    Es geht um das Leben. Diese Geisterstunde der Passion lässt vitale junge Menschen zu bizarren Schatten ihrer selbst werden. Von Versöhnung der einander verhassten Clans der Capulets und der Montagues über den Särgen ihrer Kinder kann schon gar nicht die Rede sein. Stattdessen heben sie am Anfang die Toten aus den Särgen, richten sie auf, verschlingen sie kunstvoll ineinander. Ein makabres Schau-Spiel: Erst unterdrückt und tötet man Liebe – dann stellt man sie aus.
    Doch auch die Liebe selbst ist nicht makellos und unhinterfragbar:
    Ist Romeos Liebe zu Julia wirklich so rein und ungebrochen wie es scheint, oder ist sie bereits angenagt und unterminiert von seiner bisexuellen Leidenschaft? Julia scheint dies zu ahnen: weshalb sonst ihre dringlich-verzweifelte Bitte, ihre Frage nach seiner Liebe nicht zu beantworten? Und schließlich: ist die Verwandlung einer zerstörerischen Koinzidenz von unglücklichen Zufällen in einen gemeinsamen Liebestod wirklich glaubhaft? All diese Fragen kann man sich stellen, weil man aller choreographischen und visuellen Virtuosität zum Trotz zu keinem Moment der dichten, anderthalbstündigen Aufführung wirklich in den Bann des Geschehens gerät. Vielleicht auch nicht geraten soll.
    Warnung vor zerstörerischer Kraft der Feindseligkeiten
    Die Aufführung ist wie ein großes Bilderrätsel vor dunklem Hintergrund: bisweilen tauchen Menschen zwischen trügerischen Spiegelwänden wie in einem vergrößerten Albtraum auf, reden, hämmern aufeinander ein - um wenig später wieder geisterhaft zu verschwinden. Ein Pandämonium der Gefühle voller gespenstischer Mischwesen aus dem Arsenal Hieronymus Bosch’s, die die Menschen in Beschlag nehmen und vor sich hertreiben. Julia, hilflos und hartgesotten zugleich, auf einen Wink bereit, ihrem Geliebten bedenkenlos in den Tod zu folgen.
    Romeo – überschwänglich, kontrolliert und verzweifelt – beide belagert von hämmernden Vätern, gewaltversessen Clanmitgliedern. Frljic versteht diese Tode nicht als Brücke zur Versöhnung. Sie sollten uns dennoch vor der zerstörerischen Kraft irrationaler Feinseligkeiten beileibe nicht nur im mittelalterlichen Verona warnen können. Vielleicht haben Frljic‘s bosnische Erfahrungen ihn gelehrt, dass die externen Kräfte der Destruktion zu stark sind, als dass individueller Widerstand eine Chance hätte. So steht man dem grausamen Geschehen bis zum Schluss als Betrachter, nicht als Betroffener gegenüber.