Allerdings, er war ein berühmter Regisseur gewesen, hatte Filme gedreht unter den Nazis, hatte also doch eine herausragende Position innegehabt. Kein Wunder also, daß der Sohn nach dem Krieg sich wehrte gegen diesen Vater und vor allem gegen das, was er verkörperte. Der Sohn war jung, er wünschte sich Klarheit, folgerichtig begann dieses Buch mit dem Satz: "Er hoffte, daß sie seinen Vater verurteilen würden."
"Sein Vater", das wußte damals jeder, damit war Veit Harlan gemeint. Der Sohn hieß in Wahrheit Thomas. Veit Harlan hatte beliebte Filme gedreht wie "Immensee" und "Prag, goldene Stadt" aber auch "Jud Süß", jenen antisemitischen Hetzfilm, der gern KZ-Wächtern gezeigt wurde, um sie für ihre grausame Arbeit zu motivieren. Ein Film, der Harlan den Beinamen "des Teufels Regisseur" einbrachte. Der Vater wurde nicht verurteilt, sowohl in der Realität als auch im Buch nicht. Der Richter, der ihn freisprach, so stellte sich später heraus, war selbst verstrickt gewesen. Für den Vater bedeutete der Freispruch, daß er unschuldig war, für den Sohn, daß er verstrickt blieb. Doch was heißt das?
Habe ließ den Sohn damals verschiedene Existenzen mit verschiedenen Namen durchlaufen. Er erzählte die Geschichte eines jungen Mannes, der den roten Faden sucht, ihn nicht findet, sich immer anders nennt, mal Christoph, dann Kristóf, dann Abraham, der in polnischen Archiven nach Tätern sucht, in Israel Schuld begleichen will, der zur Aufarbeitung das Mittel der Kunst entdeckt, ein Stück schreibt und am Ende zu sich selbst findet. Ganz nebenbei geht das Material, das der junge Mann gesammelt hat, verloren, es löst sich auf dem Weg zu seiner Veröffentlichung auf. Hans Habe hatte sich die Geschichte von Thomas Harlan selbst erzählen lassen, er schrieb sie mit dessen Erlaubnis.
35 Jahre später schreibt nun Thomas Harlan selbst ein Buch, er nennt es Roman, Titel "Rosa". Streng genommen setzt er noch einmal an derselben Stelle an. Thomas Harlan erzählt von dem, was er, der Sohn, in den polnischen Archiven fand und was er damit und daraus machte, bzw. von dem, was er nicht damit machte. Was die Sache mit der Verstrickung angeht, da ist er sehr direkt: "Machen sie sich keine Hoffnung, es ist ein Netzwerk, Sie kommen darin um"
Der Rest allerdings ist sehr viel komplizierter und keineswegs wie damals bei Habe konventionell erzählt. Doch auch Harlan teilt sich, den Erzähler, auf. Er ist vier, vier Personen zugleich, folglich etwas sehr Gehetztes und doch ist er immer er selbst.
" Links Berlin, liegen gelassen, Ring, Rieselfeld, Kupferhaus, mein Glienicke, mein Vater, seine Blutspur, mein Erbstück, mein bestes, meine beste, feuchte, hellrot noch ostwärts ungeronnen nach zwei Jahrzehnten verlaufende und, rechts schon, rechts des Stroms, ich Wunschkind, nun hier, zu Küstrin, unterwegs, ich & mein Wunsch, unwiderstehlich der Drang, dich, Lesender, dich im Unklaren zu lassen darüber, in der Schwebe, wer ich war, wer sprach, ich sagte, wer ich zu wem, wer ich zu Karol L. damals und wer die Freunde, wo wann die Mitreisenden, warum sie es waren, wer warum Bundesgenosse, wer wessen, warum über Nacht ich der ihre, wann wo wer ich war, wer du, wer niemand, wer nur ein Vorübergehender, wer es war, der wie ich hieß, wer wie du, wer seinen Namen in den Mund, wer ihn sich aus dem Mund, wer ihn dir nahm, wer, warum, welcher Erzeuger ihn getragen, welches Tragtier ihn dir aufgehalst hatte, welcher Hals ihn umgedreht, welche Wurzel ihn dir ausgerissen, welche Schnur sich an deinem Nabel erhängt, wer wessen fünf Finger sich nach deiner Totgeburt abgeleckt, mit welchem Kuchen welcher Mutter das Herz abgespeist nach welchem Infarkt, wessen Mödergrube gebuddelt, wer deinen Schöpfer angeklagt, wer wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit deinen Schöpfer, wer seinem freisprechenden Blutrichter verziehen..."
Noch eine weitere Seite lang ergießt sich dieser Satz, um zu enden mit der Erkenntnis, daß "tonnenweise Geifer & Liebe in Unklarem & Schwebe auf nichts anderes als Kindheiten zurückzuführen sind". Und dann heißt es aber doch: "... ich schüttele. Der Vater ist ab."
Das ist er freilich nicht, das sei vorweg gesagt. Wir kommen auf ihn zurück. Das Zitat zeigt aber wie erzählt wird, bruchstückhaft, assoziativ, sehr viel Material kommt hinzu, dokumentarisches und semidokumentarisches, poetisch wird erzählt zum Teil, vor allem aber ergußartig und den Leser im Unklaren lassend, in der Schwebe wie es heißt und das übrigens über jedes und alles. Der Autor bietet Stoff an und zieht ihn doch gleich wieder zurück: "Schieß durch deine Sätze ein paar Leuchtkugeln! – Wie bitte? – Erklär dich! – Nein."
Obwohl dies alles verdeutlicht, daß es unmöglich ist, hier dennoch der Versuch einer Inhaltsangabe. Harlan erzählt die Geschichte eines Feldes, eines Ackers in Polen, der durch seine Flora und Fauna Aufsehen erregte und in dessen Boden die Überreste von 97.000 Leichen liegen. Juden aus Thessaloniki und Lidzmannstadt, die dort von den Deutschen getötet wurden. Erschossen oder vergast mit damals, im Jahre 1941, erstmals zu diesem Zweck eingesetzten Lastwagen.
Am 13.12 1981 reist ein Filmteam dorthin, nach Kulmhof (Chelmno), um ein seit langem geplantes Projekt zu realisieren, nämlich einen Film zu drehen über jenes Feld, die Lichtung des Jagen 77. Das Team besteht aus Richard, dem Erzähler, Jack, Yvonne, Jelena und Eimar, Libgart S., der Harlan das Buch widmet, ist auch dabei. Es ist Winter und in Polen wurde gerade das Kriegsrecht ausgerufen. Es liegt Schnee auf dem Acker, das Licht ist grau, die Luft genau so, inmitten des Nebels entdeckt der Kameramann plötzlich etwas unglaubliches: Rauch. Die Erde birgt eine Wohnung, eine Art Höhle, in der ein alter Mann, Józef P. , eine zu Lebzeiten bereits vor sich hin verwesende Frau, Rosa, und ein Pferd, ein weißer Trakehnerwallach ohne Schweif, namens Franz, leben. Sie leben inmitten der Asche, kleingemahlener Knochen und sonstiger Menschenreste. Rosa auf ihrem Bett wie auf einem "Grabhügel" liegend. Mit Ringen geschmückt und einem Eimer rasselnder goldener Eheringe versehen. Ihrer ersten großen Liebe ist sie treu geblieben, dem Deutschen Nazi Franz Maderholz, Rottwacht- und Zahlmeister der Truppe, die auf eben dieser Lichtung des Jagen 77, der Lichtung mit den riesigen Birken, "holzgewordener Angst", eine der ersten großen Vernichtungsaktionen der Juden vornahm. Richard, Theologe und Veterinär, hatte von diesen Ereignissen schon früher erfahren, schon im Jahre 1961, als er in polnischen Archiven nach Material über Nazitäter suchte, und was als zersplittertes Wissen nur Facetten einer Geschichte bis dato spiegelte, setzt sich aufgrund dieser Begegnung nun zu einem Bild zusammen.
Das Zentrum der Geschichte bildet Rosa, eine Hehlerin, der die Schwägerin bei ihrer Hochzeit im Jahre 1948 aus Eifersucht das Auge mit einem Abendmahlkelch ausschlug, was zu Tumulten führte, weshalb man die Dorfbevölkerung verhörte, was wiederum Hinweise auf das historische Geschehen in diesem Landstrich gab:
"Ihr linkes Auge fehlte; als hätte die Augenhöhle aus sich selbst ausbrechen, oder das Licht auch nur aus ihr fliehen wollen, saß jetzt an ihrer statt wucherndes Fleisch. Der Klumpen, leicht geriffelt, scheckig, in Krampfaderfarbe, überragte Jochbein und Brauen, und war in die Nasenflügel gewachsen. Die Brauen bildeten große, wilde Büsche, nie beschnittenes Gestrüpp und, in ihrer Mitte, ineinander verhedderte drahtige Wurzeln, ..."
Erzählt wird eine körperliche Geschichte, wie Rosa so ist auch die Natur, voller Geschwüre, Eiter, Verwesung und Absurditäten und um es noch einmal zu sagen, es ist nicht die Geschichte von Fakten, obwohl es eine Zeittafel, Fotos, Aktenauszüge und Gesprächsprotokolle enthält, bewiesen wird in diesem Buch nichts. Im Gegenteil, letztlich werden alle Geschehnisse in den Wahn man könnte auch sagen Wucher überführt, denn nicht um die Sache geht es dem Autor. Und in diesem Fall sind Autor und Erzähler eins, Es geht ihm vielmehr um Kunst:
"Der Anwurf, zwischen Kunst und Sachverstand hätten wir den Sachverstand gewählt, traf, wie sollte es anders sein – Richard irrte sich nicht – ins Schwarze. Wir hätten, hörten wir, das ursprüngliche Vorhaben, ein Kunststück, zur Sache gemacht und in die Justiz abstürzen statt es Exequien werden lassen, wie es sich für große Wälder gehört, ein Seelenamt, - kurz, wir hätten uns von dem eigentlichen Sroff, aus dem das Gedächtnis gemacht ist, aus dem Staub der Kunst gemacht, entfernt, und uns zu Verfolgern gemausert ..."
Keine Frage, Adornos Vorbehalt gegen das Gedicht nach Auschwitz ist lange her. Inzwischen ist der Holocaust freigegeben. Als Dokureihe in Guido-Knopp-Manier, mit schneller Schnitttechnik und leiser Klezmermusik, aber auch als Material für die Literatur. Aus der Geschichte werden Geschichten. Und Schriftsteller sind dazu da, selbige zu schreiben. Das muß man sich bewußt machen, wenn man über Harlans Buch spricht. Er ist ja nicht der einzige, das beweisen schon allein einige Titel dieser Saison, Josef Haslingers "Das Vaterspiel" steht dafür auch Marcel Beyers Spione. Und auch der letzte Roman Szczypiorskis mit dem Titel "Feuerspiele" thematisiert die Shoah, ist aber völlig fiktiv.
Dennoch unterscheidet sich der Roman "Rosa" in einer Sache völlig: Er setzt das Material weiter ein. Es ist übrigens größtenteils jenes Material, das in Habes eingangs erwähntem Buch verschwand, Aufzeichnungen über die Spurensuche nach den Tätern. In "Rosa" läßt Thomas Harlan es erneut verschwinden. Anders freilich, es wird unkenntlich gemacht, weil nicht mehr zu prüfen ist, was davon richtig ist, was eigentlich stimmt. Denn: wir erinnern uns, der Erzähler ist ja zugleich vier d.h., "es gibt keine einfachen Wahrheiten", sagte Jack, "und eine Sprache dafür erst recht nicht."
Eine Erkenntnis, die zur Produktion von Literatur berechtigt. Ganz allgemein gesprochen, ist dies sogar die Ausgangslage jeglicher Literatur. Doch berechtigt sie auch dazu, Fotos von Menschen abzudrucken, die mit der Geschichte, nichts aber auch gar nichts zu tun haben, die dem Autor einfach nur einmal begegnet sind, wie z. b. jene Helena M. Oder Menschen bei ihrem realen Namen zu nennen, aber völlig Falsches, ja zu ihrem Leben Konträres von ihnen zu behaupten?
Hinzukommt, der Autor Thomas Harlan hat eine Theorie, er hatte sie schon immer, er hat sie auch über diesen Roman gelegt, sie besagt, daß alles mit allem verwoben ist, daß man eine Verbindung sehen kann zwischen damals und heute, zwischen dem 3. Reich, Westdeutschland, Stammheim, dem deutschen Herbst und der Gegenwart, dem Jetzt. Weshalb Harlan nicht nur Goebbels herbeizitiert, sondern auch "Ulrike" und "die heilige Gudrun", "die heilige Beate", die "Sau Willy Brandt", Adenauer, den "Hunnen von Köln" und viele andere mehr. Eine bombastische, orgiastische Vermengung entsteht so zwischen der Geschichte des Jagens 77, der deutschen Vergangenheit, der polnischen, der sowjetischen, der fremden und der eigenen und Harlan immer mitten drin:
"... ihr, die ihr ihn nicht kanntet; den schönen; den weißen Minister; den weißen der Filmfestspiele in Venedig; ihr, die ich euch nicht kenne; nie sah; nie grüßte, nie vermutete; die ihr nichts seid neben allem was ist; ihr, die ihr; ihr tollen, blöden, Gerechten; ihr Gerechten; gedenket: meiner Schwäche, bitte, ich bitte euch, das Senfgas bedenkt ..."
Ja, wir kannten ihn nicht, seinen "Meister" Goebbels und wir wuchsen nicht auf in der "molligen Mutterluft der Hilde-Körber-Villa", wo jener Meister ihm, Thomas Harlan, einst die Märklineisenbahn schenkte. Aber Kindheiten berechtigen zu nichts, das hat der Autor selbst gesagt und rechtfertigen ebenso nichts und auch nicht dieses: den Rundumschlag quer durch die Geschichte.
Diesen Schlag hätten so manche der Beteiligten wahrscheinlich eh anders geführt sehen wollen. Fritz Bauer, z. B., der in "Rosa" auftaucht, aber dort nichts mit Richard F. zu tun hatte. In Wahrheit arbeitete Harlan intensiv mit dem Staatsanwalt zusammen, seine Briefe an Harlan künden von Verzweiflung darüber, daß das gesamte gesammelte Aktenmaterial gegen die damals noch lebenden Nazitäter, das in Harlans Obhut war, verschwunden war. Die Briefe Bauers finden sich im Nachlaß der Zofie L., einer Auschwitzüberlebenden, die im Widerstand gewesen war, in Harlans Buch ist sie eine unverheiratete Frau in einer kleinen Wohnung, mit der Richard einmal schlief. Sie war eine einflußreiche Diplomatengattin und Autorin. Sie hat mit Harlan Jahre an einem Buch gearbeitet. Es sollte den Titel "Das 4. Reich" tragen. Der italienische Verleger Feltrinelli wollte es veröffentlichen, sie hatte wahrhaft viel riskiert für diese Recherche. Eine Arbeit, an deren Folgen die ganze Familie litt. Befremdend, daß die Kämpfer um das eigene Recht so klein gemacht werden, ausgerechnet sie. Ihnen freilich ging es nicht um Kunst, sie suchten Namen. Die Verfolgung in Polen, die Harlan in seiner dem Roman "Rosa" beigefügten Vita sehr geschickt so darstellt als sei er inhaftiert gewesen: "1963 Festnahme, Verfahren (gegen ihn und Dritte) vor polnischer Sejm-Kommission (Parlament) wegen Verrats von Staatsgeheimnissen, 1964 frei"
Diese Verfolgung, sie hatte für Harlan nur den Verweis des Landes bedeutet. Er saß nicht im Gefängnis, das hört sich nur so an, nein, es waren andere, die verfolgt wurden, der Lektor z. B. der entlassen wurde, auch er findet sich in "Rosa" und da stimmt es, er brachte sich aus Verzweiflung wirklich um. Der Mann hat sich aufgehängt. Thomas Harlan war zu der Zeit schon in Italien als Lieblingskind der linken Schickeria.
Was mit Harlans Stück "ich selbst und kein Engel" uraufgeführt in Berlin 1959 angefangen hatte (der Vater hatte Regie geführt, Klaus Kinski und Manfred Krug hatten die Mitarbeit gekündigt), das nahm in Polen seinen Lauf, führte zu einem Projekt, das "die Reise nach Kulmhof" heißen sollte und nie realisiert wurde und konnte in "Wundkanal" (aufgeführt in Venedig 1984) erneut betrachtet werden. Dieser Film sei ein Märchen erzählte Harlan damals. Er hatte einen alten Nazi vor die Kamera geholt, ihm Immensee gezeigt, was den Alten rührte und ihm dann so übel zugesetzt, daß die italienische Presse am Ende schrieb: "Harlan, der Faschist bist du!" Denn es war nicht mehr darum gegangen, wer, wieviel, wo, mit wem und durch was getötet hatte, es war nur noch darum gegangen, daß Harlan ihn fertig machte. Doch Harlan ist ja durchaus nicht dumm, er hatte sich filmen lassen dabei, sodaß ein zweiter Film ihn bei seiner Arbeit zeigte, aber wozu, wozu? Die Frage stellt sich bei "Rosa" erneut.
Es geht in diesem Buch um den Horror einer Auslöschung, schreibt ein Rezensent in der "Zeit", das ist sicher richtig. Derselbe Rezensent glaubt allerdings an einen "faktisch verbürgten Kern". Das Tragische ist, daß gerade dieser Kern ausgelöscht wird, durch die Art wie von ihm erzählt wird. Denn wer glaubt Bürgen, bei denen so vieles nicht stimmt. Doch inzwischen kann sich ja keiner mehr wehren. Auch die 97.000 toten Juden nicht, die in einer Vision der schwärenden Rosa, die ihr Gold einst geklaut hat und dennoch eine Heiligenerscheinung wird, in den Himmel hinterherziehen: "Die wilden, immer kleiner werdenden Buchstabenreihen enden in einem Wald von Kreuzen – abendländischem Wunschdenken, sagt er, ein endloser Hinweis auf nichts,..."
Ja, da sehnt man sich nach der simplen, platten, banalen Verstrickung von einst zurück. Harlan hat sie gesteigert. Das Feld das er zeigt, ist ein Sumpf. Aber Vorsicht: es ist nicht der Sumpf der Geschichte, es ist sein Sumpf, den er uns zeigt, wenn man mag, kann man ihn interessant finden.
"Sein Vater", das wußte damals jeder, damit war Veit Harlan gemeint. Der Sohn hieß in Wahrheit Thomas. Veit Harlan hatte beliebte Filme gedreht wie "Immensee" und "Prag, goldene Stadt" aber auch "Jud Süß", jenen antisemitischen Hetzfilm, der gern KZ-Wächtern gezeigt wurde, um sie für ihre grausame Arbeit zu motivieren. Ein Film, der Harlan den Beinamen "des Teufels Regisseur" einbrachte. Der Vater wurde nicht verurteilt, sowohl in der Realität als auch im Buch nicht. Der Richter, der ihn freisprach, so stellte sich später heraus, war selbst verstrickt gewesen. Für den Vater bedeutete der Freispruch, daß er unschuldig war, für den Sohn, daß er verstrickt blieb. Doch was heißt das?
Habe ließ den Sohn damals verschiedene Existenzen mit verschiedenen Namen durchlaufen. Er erzählte die Geschichte eines jungen Mannes, der den roten Faden sucht, ihn nicht findet, sich immer anders nennt, mal Christoph, dann Kristóf, dann Abraham, der in polnischen Archiven nach Tätern sucht, in Israel Schuld begleichen will, der zur Aufarbeitung das Mittel der Kunst entdeckt, ein Stück schreibt und am Ende zu sich selbst findet. Ganz nebenbei geht das Material, das der junge Mann gesammelt hat, verloren, es löst sich auf dem Weg zu seiner Veröffentlichung auf. Hans Habe hatte sich die Geschichte von Thomas Harlan selbst erzählen lassen, er schrieb sie mit dessen Erlaubnis.
35 Jahre später schreibt nun Thomas Harlan selbst ein Buch, er nennt es Roman, Titel "Rosa". Streng genommen setzt er noch einmal an derselben Stelle an. Thomas Harlan erzählt von dem, was er, der Sohn, in den polnischen Archiven fand und was er damit und daraus machte, bzw. von dem, was er nicht damit machte. Was die Sache mit der Verstrickung angeht, da ist er sehr direkt: "Machen sie sich keine Hoffnung, es ist ein Netzwerk, Sie kommen darin um"
Der Rest allerdings ist sehr viel komplizierter und keineswegs wie damals bei Habe konventionell erzählt. Doch auch Harlan teilt sich, den Erzähler, auf. Er ist vier, vier Personen zugleich, folglich etwas sehr Gehetztes und doch ist er immer er selbst.
" Links Berlin, liegen gelassen, Ring, Rieselfeld, Kupferhaus, mein Glienicke, mein Vater, seine Blutspur, mein Erbstück, mein bestes, meine beste, feuchte, hellrot noch ostwärts ungeronnen nach zwei Jahrzehnten verlaufende und, rechts schon, rechts des Stroms, ich Wunschkind, nun hier, zu Küstrin, unterwegs, ich & mein Wunsch, unwiderstehlich der Drang, dich, Lesender, dich im Unklaren zu lassen darüber, in der Schwebe, wer ich war, wer sprach, ich sagte, wer ich zu wem, wer ich zu Karol L. damals und wer die Freunde, wo wann die Mitreisenden, warum sie es waren, wer warum Bundesgenosse, wer wessen, warum über Nacht ich der ihre, wann wo wer ich war, wer du, wer niemand, wer nur ein Vorübergehender, wer es war, der wie ich hieß, wer wie du, wer seinen Namen in den Mund, wer ihn sich aus dem Mund, wer ihn dir nahm, wer, warum, welcher Erzeuger ihn getragen, welches Tragtier ihn dir aufgehalst hatte, welcher Hals ihn umgedreht, welche Wurzel ihn dir ausgerissen, welche Schnur sich an deinem Nabel erhängt, wer wessen fünf Finger sich nach deiner Totgeburt abgeleckt, mit welchem Kuchen welcher Mutter das Herz abgespeist nach welchem Infarkt, wessen Mödergrube gebuddelt, wer deinen Schöpfer angeklagt, wer wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit deinen Schöpfer, wer seinem freisprechenden Blutrichter verziehen..."
Noch eine weitere Seite lang ergießt sich dieser Satz, um zu enden mit der Erkenntnis, daß "tonnenweise Geifer & Liebe in Unklarem & Schwebe auf nichts anderes als Kindheiten zurückzuführen sind". Und dann heißt es aber doch: "... ich schüttele. Der Vater ist ab."
Das ist er freilich nicht, das sei vorweg gesagt. Wir kommen auf ihn zurück. Das Zitat zeigt aber wie erzählt wird, bruchstückhaft, assoziativ, sehr viel Material kommt hinzu, dokumentarisches und semidokumentarisches, poetisch wird erzählt zum Teil, vor allem aber ergußartig und den Leser im Unklaren lassend, in der Schwebe wie es heißt und das übrigens über jedes und alles. Der Autor bietet Stoff an und zieht ihn doch gleich wieder zurück: "Schieß durch deine Sätze ein paar Leuchtkugeln! – Wie bitte? – Erklär dich! – Nein."
Obwohl dies alles verdeutlicht, daß es unmöglich ist, hier dennoch der Versuch einer Inhaltsangabe. Harlan erzählt die Geschichte eines Feldes, eines Ackers in Polen, der durch seine Flora und Fauna Aufsehen erregte und in dessen Boden die Überreste von 97.000 Leichen liegen. Juden aus Thessaloniki und Lidzmannstadt, die dort von den Deutschen getötet wurden. Erschossen oder vergast mit damals, im Jahre 1941, erstmals zu diesem Zweck eingesetzten Lastwagen.
Am 13.12 1981 reist ein Filmteam dorthin, nach Kulmhof (Chelmno), um ein seit langem geplantes Projekt zu realisieren, nämlich einen Film zu drehen über jenes Feld, die Lichtung des Jagen 77. Das Team besteht aus Richard, dem Erzähler, Jack, Yvonne, Jelena und Eimar, Libgart S., der Harlan das Buch widmet, ist auch dabei. Es ist Winter und in Polen wurde gerade das Kriegsrecht ausgerufen. Es liegt Schnee auf dem Acker, das Licht ist grau, die Luft genau so, inmitten des Nebels entdeckt der Kameramann plötzlich etwas unglaubliches: Rauch. Die Erde birgt eine Wohnung, eine Art Höhle, in der ein alter Mann, Józef P. , eine zu Lebzeiten bereits vor sich hin verwesende Frau, Rosa, und ein Pferd, ein weißer Trakehnerwallach ohne Schweif, namens Franz, leben. Sie leben inmitten der Asche, kleingemahlener Knochen und sonstiger Menschenreste. Rosa auf ihrem Bett wie auf einem "Grabhügel" liegend. Mit Ringen geschmückt und einem Eimer rasselnder goldener Eheringe versehen. Ihrer ersten großen Liebe ist sie treu geblieben, dem Deutschen Nazi Franz Maderholz, Rottwacht- und Zahlmeister der Truppe, die auf eben dieser Lichtung des Jagen 77, der Lichtung mit den riesigen Birken, "holzgewordener Angst", eine der ersten großen Vernichtungsaktionen der Juden vornahm. Richard, Theologe und Veterinär, hatte von diesen Ereignissen schon früher erfahren, schon im Jahre 1961, als er in polnischen Archiven nach Material über Nazitäter suchte, und was als zersplittertes Wissen nur Facetten einer Geschichte bis dato spiegelte, setzt sich aufgrund dieser Begegnung nun zu einem Bild zusammen.
Das Zentrum der Geschichte bildet Rosa, eine Hehlerin, der die Schwägerin bei ihrer Hochzeit im Jahre 1948 aus Eifersucht das Auge mit einem Abendmahlkelch ausschlug, was zu Tumulten führte, weshalb man die Dorfbevölkerung verhörte, was wiederum Hinweise auf das historische Geschehen in diesem Landstrich gab:
"Ihr linkes Auge fehlte; als hätte die Augenhöhle aus sich selbst ausbrechen, oder das Licht auch nur aus ihr fliehen wollen, saß jetzt an ihrer statt wucherndes Fleisch. Der Klumpen, leicht geriffelt, scheckig, in Krampfaderfarbe, überragte Jochbein und Brauen, und war in die Nasenflügel gewachsen. Die Brauen bildeten große, wilde Büsche, nie beschnittenes Gestrüpp und, in ihrer Mitte, ineinander verhedderte drahtige Wurzeln, ..."
Erzählt wird eine körperliche Geschichte, wie Rosa so ist auch die Natur, voller Geschwüre, Eiter, Verwesung und Absurditäten und um es noch einmal zu sagen, es ist nicht die Geschichte von Fakten, obwohl es eine Zeittafel, Fotos, Aktenauszüge und Gesprächsprotokolle enthält, bewiesen wird in diesem Buch nichts. Im Gegenteil, letztlich werden alle Geschehnisse in den Wahn man könnte auch sagen Wucher überführt, denn nicht um die Sache geht es dem Autor. Und in diesem Fall sind Autor und Erzähler eins, Es geht ihm vielmehr um Kunst:
"Der Anwurf, zwischen Kunst und Sachverstand hätten wir den Sachverstand gewählt, traf, wie sollte es anders sein – Richard irrte sich nicht – ins Schwarze. Wir hätten, hörten wir, das ursprüngliche Vorhaben, ein Kunststück, zur Sache gemacht und in die Justiz abstürzen statt es Exequien werden lassen, wie es sich für große Wälder gehört, ein Seelenamt, - kurz, wir hätten uns von dem eigentlichen Sroff, aus dem das Gedächtnis gemacht ist, aus dem Staub der Kunst gemacht, entfernt, und uns zu Verfolgern gemausert ..."
Keine Frage, Adornos Vorbehalt gegen das Gedicht nach Auschwitz ist lange her. Inzwischen ist der Holocaust freigegeben. Als Dokureihe in Guido-Knopp-Manier, mit schneller Schnitttechnik und leiser Klezmermusik, aber auch als Material für die Literatur. Aus der Geschichte werden Geschichten. Und Schriftsteller sind dazu da, selbige zu schreiben. Das muß man sich bewußt machen, wenn man über Harlans Buch spricht. Er ist ja nicht der einzige, das beweisen schon allein einige Titel dieser Saison, Josef Haslingers "Das Vaterspiel" steht dafür auch Marcel Beyers Spione. Und auch der letzte Roman Szczypiorskis mit dem Titel "Feuerspiele" thematisiert die Shoah, ist aber völlig fiktiv.
Dennoch unterscheidet sich der Roman "Rosa" in einer Sache völlig: Er setzt das Material weiter ein. Es ist übrigens größtenteils jenes Material, das in Habes eingangs erwähntem Buch verschwand, Aufzeichnungen über die Spurensuche nach den Tätern. In "Rosa" läßt Thomas Harlan es erneut verschwinden. Anders freilich, es wird unkenntlich gemacht, weil nicht mehr zu prüfen ist, was davon richtig ist, was eigentlich stimmt. Denn: wir erinnern uns, der Erzähler ist ja zugleich vier d.h., "es gibt keine einfachen Wahrheiten", sagte Jack, "und eine Sprache dafür erst recht nicht."
Eine Erkenntnis, die zur Produktion von Literatur berechtigt. Ganz allgemein gesprochen, ist dies sogar die Ausgangslage jeglicher Literatur. Doch berechtigt sie auch dazu, Fotos von Menschen abzudrucken, die mit der Geschichte, nichts aber auch gar nichts zu tun haben, die dem Autor einfach nur einmal begegnet sind, wie z. b. jene Helena M. Oder Menschen bei ihrem realen Namen zu nennen, aber völlig Falsches, ja zu ihrem Leben Konträres von ihnen zu behaupten?
Hinzukommt, der Autor Thomas Harlan hat eine Theorie, er hatte sie schon immer, er hat sie auch über diesen Roman gelegt, sie besagt, daß alles mit allem verwoben ist, daß man eine Verbindung sehen kann zwischen damals und heute, zwischen dem 3. Reich, Westdeutschland, Stammheim, dem deutschen Herbst und der Gegenwart, dem Jetzt. Weshalb Harlan nicht nur Goebbels herbeizitiert, sondern auch "Ulrike" und "die heilige Gudrun", "die heilige Beate", die "Sau Willy Brandt", Adenauer, den "Hunnen von Köln" und viele andere mehr. Eine bombastische, orgiastische Vermengung entsteht so zwischen der Geschichte des Jagens 77, der deutschen Vergangenheit, der polnischen, der sowjetischen, der fremden und der eigenen und Harlan immer mitten drin:
"... ihr, die ihr ihn nicht kanntet; den schönen; den weißen Minister; den weißen der Filmfestspiele in Venedig; ihr, die ich euch nicht kenne; nie sah; nie grüßte, nie vermutete; die ihr nichts seid neben allem was ist; ihr, die ihr; ihr tollen, blöden, Gerechten; ihr Gerechten; gedenket: meiner Schwäche, bitte, ich bitte euch, das Senfgas bedenkt ..."
Ja, wir kannten ihn nicht, seinen "Meister" Goebbels und wir wuchsen nicht auf in der "molligen Mutterluft der Hilde-Körber-Villa", wo jener Meister ihm, Thomas Harlan, einst die Märklineisenbahn schenkte. Aber Kindheiten berechtigen zu nichts, das hat der Autor selbst gesagt und rechtfertigen ebenso nichts und auch nicht dieses: den Rundumschlag quer durch die Geschichte.
Diesen Schlag hätten so manche der Beteiligten wahrscheinlich eh anders geführt sehen wollen. Fritz Bauer, z. B., der in "Rosa" auftaucht, aber dort nichts mit Richard F. zu tun hatte. In Wahrheit arbeitete Harlan intensiv mit dem Staatsanwalt zusammen, seine Briefe an Harlan künden von Verzweiflung darüber, daß das gesamte gesammelte Aktenmaterial gegen die damals noch lebenden Nazitäter, das in Harlans Obhut war, verschwunden war. Die Briefe Bauers finden sich im Nachlaß der Zofie L., einer Auschwitzüberlebenden, die im Widerstand gewesen war, in Harlans Buch ist sie eine unverheiratete Frau in einer kleinen Wohnung, mit der Richard einmal schlief. Sie war eine einflußreiche Diplomatengattin und Autorin. Sie hat mit Harlan Jahre an einem Buch gearbeitet. Es sollte den Titel "Das 4. Reich" tragen. Der italienische Verleger Feltrinelli wollte es veröffentlichen, sie hatte wahrhaft viel riskiert für diese Recherche. Eine Arbeit, an deren Folgen die ganze Familie litt. Befremdend, daß die Kämpfer um das eigene Recht so klein gemacht werden, ausgerechnet sie. Ihnen freilich ging es nicht um Kunst, sie suchten Namen. Die Verfolgung in Polen, die Harlan in seiner dem Roman "Rosa" beigefügten Vita sehr geschickt so darstellt als sei er inhaftiert gewesen: "1963 Festnahme, Verfahren (gegen ihn und Dritte) vor polnischer Sejm-Kommission (Parlament) wegen Verrats von Staatsgeheimnissen, 1964 frei"
Diese Verfolgung, sie hatte für Harlan nur den Verweis des Landes bedeutet. Er saß nicht im Gefängnis, das hört sich nur so an, nein, es waren andere, die verfolgt wurden, der Lektor z. B. der entlassen wurde, auch er findet sich in "Rosa" und da stimmt es, er brachte sich aus Verzweiflung wirklich um. Der Mann hat sich aufgehängt. Thomas Harlan war zu der Zeit schon in Italien als Lieblingskind der linken Schickeria.
Was mit Harlans Stück "ich selbst und kein Engel" uraufgeführt in Berlin 1959 angefangen hatte (der Vater hatte Regie geführt, Klaus Kinski und Manfred Krug hatten die Mitarbeit gekündigt), das nahm in Polen seinen Lauf, führte zu einem Projekt, das "die Reise nach Kulmhof" heißen sollte und nie realisiert wurde und konnte in "Wundkanal" (aufgeführt in Venedig 1984) erneut betrachtet werden. Dieser Film sei ein Märchen erzählte Harlan damals. Er hatte einen alten Nazi vor die Kamera geholt, ihm Immensee gezeigt, was den Alten rührte und ihm dann so übel zugesetzt, daß die italienische Presse am Ende schrieb: "Harlan, der Faschist bist du!" Denn es war nicht mehr darum gegangen, wer, wieviel, wo, mit wem und durch was getötet hatte, es war nur noch darum gegangen, daß Harlan ihn fertig machte. Doch Harlan ist ja durchaus nicht dumm, er hatte sich filmen lassen dabei, sodaß ein zweiter Film ihn bei seiner Arbeit zeigte, aber wozu, wozu? Die Frage stellt sich bei "Rosa" erneut.
Es geht in diesem Buch um den Horror einer Auslöschung, schreibt ein Rezensent in der "Zeit", das ist sicher richtig. Derselbe Rezensent glaubt allerdings an einen "faktisch verbürgten Kern". Das Tragische ist, daß gerade dieser Kern ausgelöscht wird, durch die Art wie von ihm erzählt wird. Denn wer glaubt Bürgen, bei denen so vieles nicht stimmt. Doch inzwischen kann sich ja keiner mehr wehren. Auch die 97.000 toten Juden nicht, die in einer Vision der schwärenden Rosa, die ihr Gold einst geklaut hat und dennoch eine Heiligenerscheinung wird, in den Himmel hinterherziehen: "Die wilden, immer kleiner werdenden Buchstabenreihen enden in einem Wald von Kreuzen – abendländischem Wunschdenken, sagt er, ein endloser Hinweis auf nichts,..."
Ja, da sehnt man sich nach der simplen, platten, banalen Verstrickung von einst zurück. Harlan hat sie gesteigert. Das Feld das er zeigt, ist ein Sumpf. Aber Vorsicht: es ist nicht der Sumpf der Geschichte, es ist sein Sumpf, den er uns zeigt, wenn man mag, kann man ihn interessant finden.