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Rosen und Romantik

1844 gründete der gerade einmal fünfzehn Jahre junge Maler John Everett Millais zusammen mit Mitstudenten an der Royal Academy in London "die präraffaelitische Bruderschaft". Die akademische Malerei, die ihrer Meinung nach mit Raffael begann, lehnten sie ab. Natur gehöre wieder ins Bild, lautete das Glaubensbekenntnis der Malergruppe. Millais ist bis heute der wohl bedeutendste Maler der Präraffaeliten geblieben. An ihn erinnert nun eine große Werkschau in der Tate Britain in London, wo alles begann.

Von Hans Pietsch |
    Auf dem Rücken liegend treibt sie flussabwärts. Ihr langes silbernes Kleid ist mit Blumen bestickt, auf dem Wasser schwimmen Wiesenblumen, die sie zu einem Strauß gebündelt hatte. Einige hält sie noch in der Hand. Ihr Mund ist halb geöffnet, bald wird das Wasser sie verschlungen haben.

    John Everett Millais' "Ophelia" ist das mit Abstand beliebteste Werk in der Tate Britain, und wer es dort nicht gesehen hat, der kennt es von Postkarten. Der Künstler war eine Art Mozart der englischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Mit drei begann er zu zeichnen, mit 11 wurde er in die Kunstschule der Royal Academy aufgenommen, auch heute noch der jüngste Schüler dieser illustren Akademie, mit 16 gewann er seine ersten Preise, und im Alter von 19 war er einer der Mitbegründer der Bruderschaft der Präraffaeliten, des Malerbundes, der sich an Kunst vor der Renaissance ausrichtete.

    Die bisherige Lesart seiner Laufbahn als Künstler war, dass der Begabteste der Präraffaeliten als junger Maler viel versprach, eine Zeit lang innovative Meisterwerke schuf, wie Hamlets tote Geliebte, und sich dann dem Mammon verschrieb - der erfolgreichste und wohlhabendste englische Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein echter Malerfürst.

    Die Schau in der Tate Britain versucht nun seine Rehabilitierung, und wohl deshalb entschieden sich die Kuratoren für eine thematische Hängung - "Der Präraffaelit", "Romanzen und Genrebilder", "Ästhetizismus", "Porträts", "Späte Landschaften". Sie wollen zeigen, dass er in allen seinen Arbeitsphasen Meisterwerke produzierte, nicht nur in den ersten zehn Jahren, wo ihm einige erstaunliche Gemälde gelangen: "Die Brautjungfer" von 1851, das leicht nach oben gerichtete Gesicht gerahmt von zwei Wasserfällen aus rötlich-goldenem Haar. Ihre Augen sind voller Hoffnung und Verlangen. Oder das zwischen 1854 und 56 entstandene "Blinde Mädchen". Es sitzt auf einem mit Gras bewachsenem Abhang, im Hintergrund ein Regenbogen, die Freundin daneben dreht sich nach diesem um. Man riecht fast das feuchte Gras und die Erde nach dem Regen. Und das Porträt des einflussreichen Kunsttheoretikers John Ruskin, aufrecht an einem Wasserfall stehend, mit einem Anflug von Lächeln, er selbst und die ihn umgebende Landschaft mit präraffaelitischer Detailbesessenheit gemalt - eines der großen Porträts des 19. Jahrhunderts. Dass der Maler kurz nach Vollendung des Porträts seinem Mentor die Frau abspenstig machte, geht aus dessen Gesichtsausdruck nicht hervor.
    In den nächsten 40 Jahren dann der Aufstieg zum begehrtesten viktorianischen Künstler. Er malt Genreszenen und biblische Geschichten mit Moral, Landschaften, die auf Gedichtzeilen fußen, und Porträts, jedes einzelne exquisit, doch alle wie über einen Kamm geschoren - gleiche Pose, gleicher Hintergrund. Die starkfarbige Palette des Präraffaeliten macht einer dunkleren Platz, der Pinselstrich wird lockerer, schneller. Die Kuratoren sagen, er orientiere sich nun an Rembrandt. Er aber sagt, er könne es sich nicht leisten, Tage an einem münzengroßen Stück Leinwand zu verbringen. Seinen internationalen Ruhm bezeugt ein "Selbstporträt" von 1880, das von den Uffizien in Florenz für ihre Sammlung von Selbstbildnissen in Auftrag gegeben wurde. Dort hing es neben Velazquez, Bernini und Dürer, eine hohe Ehre für einen lebenden Künstler.

    Am besten gelingt die Rehabilitierung im letzten Raum mit den späten schottischen Landschaften. Zwölf dieser großformatigen Leinwände haben die Kuratoren zusammengetragen, einige von ihnen hängen noch in den Schlössern, für die sie in Auftrag gegeben wurden. Zwar ist Millais kein John Constable und kein William Turner, er kann nicht mit einem Pinselstrich ein Blatt zum Leben bringen und auch nicht einen Berg in Nebel auflösen. Doch seine Ansichten der Highlands haben eine erstaunliche Frische. Eine ganz besonders: "Stechginster mit Morgentau", entstanden 1889, eines seiner letzten Landschaftsbilder. Die Morgensonne scheint von hinten direkt ins Auge des Betrachters, bricht sich auf dem Tau, auf beiden Seiten symmetrisch gerahmt von dunklen Tannen. Die Mitte des Bildes ist ganz flimmerndes Licht. Hier wagt sich Millais fast bis an die völlige Abstraktion heran.

    Und doch: So ganz will man den Kuratoren auf ihrem Weg nicht folgen. Er war in der Tat ein progressiver Künstler. Bereit, Risiken einzugehen, manchmal sogar gefährliche. Doch danach hat man, trotz seiner technischen Virtuosität, nie das Gefühl, sich in der Gegenwart eines wirklich großen Malers zu befinden. Obwohl er sich ständig veränderte, trat er irgendwie auf der Stelle, bewegte sich nicht nach vorne.