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Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen.

Spätestens seit der jüngsten Diskussion, die das nationalsozialistische Deutschland vor allem als Opfer von Luftkrieg, Vertreibungen und alliierter Kriegsgreuel darstellt, haben viele Zeitgenossen ein klares Bild von jenen Rotarmisten, die 1945 gen Westen vorrückten. Hasserfüllte Barbaren seien das gewesen, die ermuntert von ihren Vorgesetzen nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als deutsche Frauen zu vergewaltigen und deutsche Besitztümer zu plündern. Nun kann und soll nicht bestritten werden, dass es diese Exzesse gegeben hat. Aber einordnen lassen sie sich erst, wenn man sie in den historischen Zusammenhang stellt und Differenzierungen zulässt. Das tut ein Band, den Elke Scherstjanoi im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte herausgegeben hat. "Rotarmisten schreiben aus Deutschland" ist er überschrieben und Stephan Berkholz hat ihn gelesen.

Von Stefan Berkholz |
    Als die jungen Rotarmisten sich Ende 1944, Anfang 1945 der "Höhle der Bestie" näherten, war die Stimmung in der Armee zunächst eindeutig: Die Heimat war zerstört, verblutet, geschändet, auf dem eroberten deutschen Terrain schien es den Bewohnern - nach erstem Augenschein - tatsächlich noch immer besser zu gehen als den Angehörigen in der Sowjetunion. Rache war der erste Gedanke, Vergeltung sollte geübt, die Deutschen für ihren Feldzug zur Rechenschaft gezogen werden. Michail Borisovic war Politstellvertreter in einer Nachrichtenkompanie eines Panzerregimentes. Er war an den Kämpfen südwestlich von Königsberg beteiligt. In einem Brief an seine Ehefrau schrieb Borisovic am 1. Februar 1945:

    Die Stunde der Vergeltung ist gekommen. Ihre Häuser brennen, ihr Besitz geht unter, ihr Vieh läuft unbeaufsichtigt herum und sie selber wurden obdachlos. Und man möchte jedem ins Gesicht sagen: So, das bekommst du für unser Leiden, so, das bekommst du für das Leiden meiner Familie und Hunderttausender anderer Familien. Und das ist für den Tod vieler hunderttausend Sowjetmenschen, für den Tod unserer Frauen und Kinder, die ihr gnadenlos vernichtet habt, nicht als Menschen angesehen und schlimmer als Tiere behandelt habt. Mit tiefer Abscheu siehst du auf diese Ausgeburten der Menschheit, egal ob es Männer, Frauen oder Kinder sind. Ihr Aussehen ist kläglich, aber es gibt kein Mitleid mit ihnen. Alles Deutsche ist widerlich.

    Grenzenloser Hass herrschte zu Beginn des Jahres 1945. Es gab reihenweise Plünderungen, es kam massenhaft zu organisierten und spontanen Vergewaltigungen, auch Hinrichtungen sind nachgewiesen, Eigenmächtigkeiten, Demütigungen, es wurde, etwa bis März 1945, massenhaft interniert und deportiert, "der zeitliche Höhepunkt der Willkür lag fraglos in den ersten zwei Monaten nach Beginn der Offensiven", schreibt die Herausgeberin Elke Scherstjanoi. Eine Stimme wie die von Abram Petrovic war also nicht die Ausnahme. Am 2. März 1945 schrieb jener Garde-Hauptmann und Redakteur einer Divisionszeitung an seine Ehefrau:

    Ach, wie sind sie uns allen zuwider. Du kannst es dir nicht vorstellen. Besonders hier auf preußischem Boden. Um das richtig zu verstehen und zu fühlen, muss man dieses Land und diese Leute gesehen haben. Stumpf und ekelerregend. Äußerlich Menschen, aber in Wirklichkeit Tiere, bereit zu jeder Gemeinheit. Jetzt sind sie bis zum Erbrechen liebenswürdig und buckeln, aber es ist zu sehen, dass das alles gespielt ist und, was die Hauptsache ist, was sie dazu bringt - das ist die Feigheit.
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    Abgrundtiefen Hass und Willkür also gab es. Doch es waren vorübergehende Erscheinungen, genau genommen ein paar Monate gegenüber jahrelangem Terror deutscher Soldaten. Die militärische Führung Stalins gab frühzeitig Direktiven heraus. Am 6. Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende, hielt Generalleutnant Okorokov auf einer Besprechung unter Mitarbeitern der Abteilung Agitation und Propaganda der Front einen Vortrag über den, so hieß es in dem Protokoll, "politisch-moralischen Zustand der sowjetischen Truppen auf dem Territorium des Gegners":

    Von allen Fragen, die hier aufgeworfen wurden, möchte ich besonders die Frage nach der Gefährlichkeit von Erscheinungen wie Trinkerei, Plünderung, Vergewaltigung, sinnloser Brandstiftung und so weiter, hervorheben. Die Gefährlichkeit dieser Erscheinungen besteht darin, dass sie die militärische Disziplin, Ordnung und Organisiertheit untergraben. Die Geschichte kennt viele Fälle, wo siegreiche Truppen beim Betreten des gegnerischen Territoriums alle Disziplin verloren und nicht mehr die Truppen waren, die sie vor der Einnahme des Territoriums des Feindes waren. Daher müssen wir alle diese Dinge strenger beurteilen, als wir sie hier behandelt haben. Es muss eine energische Wende vollzogen und das Übel bekämpft werden, unter Ausnutzung aller Formen und Methoden.

    Eine erschlagene deutsche Greisin beschleunige nicht den Untergang Deutschlands, argumentierte Generalleutnant Okorokov weiter; Brandstiftung vernichte Häuser, die man vielleicht für Verwundete benötigte; der Hass auf den Feind müsse in die richtigen Bahnen gelenkt werden, also gegen den deutschen Soldaten, um dadurch den Untergang der Nazidiktatur zu beschleunigen. - Am 20. April 1945 schließlich gab Stalin einen Tagesbefehl heraus, der ein humaneres Verhalten zur deutschen Bevölkerung und zu den Kriegsgefangenen festschrieb. Die Direktive Nr. 11072 gilt als eines der zentralen Dokumente in diesem Zusammenhang. Auch dies ist in dem vorliegenden Band ergänzend und vollständig abgedruckt:

    Das Hauptquartier des Oberkommandos befiehlt: Von den Truppen ist zu verlangen, dass sie ihr Verhältnis zu den Deutschen, sowohl den Kriegsgefangenen als auch der Zivilbevölkerung, ändern und mit den Deutschen besser umgehen. Ein humaneres Verhältnis zu den Deutschen wird uns die Kampfführung auf ihrem Territorium erleichtern und die Hartnäckigkeit der Deutschen in der Verteidigung zweifellos mindern.

    "Soldatisches Dasein und Selbstverständnis unterschieden sich erheblich vor und nach dem Mai 1945", fasst die Herausgeberin zusammen. Zivilere Lebensumstände wirkten befriedend, auch erstes Mitleid mit zivilen Opfern regte sich, zudem kam es zu strengen Kontrollen durch die Militärstrafbehörden. Die von Stalin erwünschten Propagandisten reinen Kommunistengeistes waren die jungen Rotarmisten in ihrer Mehrheit offenbar nicht. Sie wollten möglichst schnell siegen und dann zu ihren Geliebten, Verlobten oder Familien nach Hause. Auf die Frage eines alliierten Offiziers, ob sie den Kommunismus in Deutschland einführen wollten, entrüstete sich Mitte 1945 ein russischer Oberst:

    Was, den Kommunismus? Solchen Schweinen den Kommunismus schenken? Wir wollen nur dafür sorgen, dass die Deutschen nie wieder Krieg gegen uns führen. Wir haben ganz gewiss nicht die Absicht, diesen Leuten ein so nobles Ideal wie den Kommunismus zu bringen.

    Das Verhalten und die Gedanken russischer Soldaten gegenüber deutschen Zivilisten ist bisher wenig erforscht. In der Sowjetunion war es tabu, mehr als das Heldenepos in Erfahrung bringen zu wollen, auf beiden Seiten der Ideologien verstellten Behauptungen die klare Sicht, der Kalte Krieg bestimmte die Fronten. Diese Quellensammlung mit 160 zumeist erstmals veröffentlichten (und chronologisch angeordneten) Briefen von Rotarmisten erhellt ein weitgehend unbekanntes Kapitel. Offizielle Berichte und Befehle der militärischen (und politischen) Führung ergänzen die persönlichen Dokumente, tiefgreifende Analysen russischer und deutscher Historiker veranschaulichen im zweiten Teil den historischen Hintergrund. Der Kriegsverlauf an der Ostfront und seine Auswirkungen auf Stimmungen in der Roten Armee werden untersucht; das Bild der Deutschen in der sowjetischen Militärpropaganda und die Vereinfachungen von Propagandisten; deutsche Erinnerungen an erste Begegnungen mit den Eroberern in Dörfern und Kleinstädten; die Kampfmoral der Roten Armee aus Sicht deutscher Wehrmachtsdienststellen. - In den authentischen Zeugnissen der jungen Rotarmisten aber lassen sich auch friedliebende, menschliche Töne ausmachen. Am 29. März 1945 schrieb der 21-jährige Aleksandr Aleksandrovic an seine Schwester:

    Hier ist der Frühling im vollen Gange. Die Bäume schlagen aus, auf den Wiesen und den Straßen grünt das junge Gras, die Wintersaat auf den Feldern ist wie Samt. Den ganzen Tag ist im Hain das Gurren der Vögelchen zu hören. Die Abende sind wunderbar, warm und still. Bald erblüht der Flieder. So ist es bei uns im Mai.

    Aleksandr Aleksandrovic sollte den kommenden Sommer nicht mehr erleben, am 17. Juni 1945 kam er um. - Mit dem vorliegenden Materialienband können Zerrbilder aus der Zeit des Kalten Krieges überprüft werden. Die extrem wissenschaftliche, wiederholt in ähnlichen Formulierungen vorgetragene vorsichtige Abwägung der Argumente strapaziert auf Dauer etwas die Geduld des Lesers. Eine grundsätzliche Bemerkung vorneweg hätte dem ernsthaften und differenzierten Tonfall der Aufsätze nichts von seiner Überzeugungskraft genommen. Doch der Band ist nützlich und fordert zu weiter führenden Forschungen heraus.

    Eine Rezension von Stephan Berkholz. Der Band "Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen." wird herausgegeben von Elke Scherstjanoi im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte. Das Werk ist erschienen als Band 14 der "Texte und Materialien zur Zeitgeschichte". K.G. Saur Verlag, München, 450 Seiten, 110 Euro.