Aber die Verhörspezialisten der Securitate waren ja, wie überall im kommunistischen Weltreich, nicht an der Wahrheit des Häftlings Schlattner interessiert, sondern daran, ihn in ein vorfabriziertes Verschwörungsszenario einzupassen. Der Paragraph, nach dem er sich schuldig gemacht hat, steht von Anfang an fest; es geht nur noch darum, dem Schuldigen das Geständnis zu entreißen sowie glaubwürdige Details und natürlich Namen, viele Namen von Komplizen. Bei Schlattner sind dies die Namen von Kollegen und Freunden, von Pfarrern, aber auch der seines jüngeren Bruders.
Anfangs sträubt sich der Beschuldigte, seine Rolle wie vorgesehen zu spielen. Seine Zelle misst sieben Quadratmeter, kein Strahl Tageslicht, kein Luftzug dringt hinein. Das Auge des Wärters ist allgegenwärtig, selbst die Schlafhaltung ist vorgeschrieben. Hofgang gibt es nicht; dafür die beengte, bedrängende Gemeinschaft mit bis zu sechs Mithäftlingen. Dann die Verhöre. Die Vernehmer sind höflich und raffiniert, lassen sich auf die Ansichten des jungen Literaten ein, lassen ihn sich und seine Freunde verteidigen. An anderen Tagen, in anderen Nächten geht es brutal zu, wird er beschimpft, bedroht, geschlagen, systematisch immer auf den Kopf.
Aber nicht der physische Druck ist entscheidend. Was den Willen zum Widerstand, der ja nichts anderes als ein Wille zur Wahrheit ist, letztendlich bricht, sind die psychischen Auswirkungen der Haft auf eine ohnehin labile Persönlichkeit, dazu die Aussicht auf eine endlose Strafe: Zuchthaus oder Zwangsarbeit. Nach Monaten gibt Schlattner auf, beschließt zu kollaborieren. Mehr noch: Er wechselt die Seiten. Um nicht nur ein willenloses Objekt in den Händen seiner Peiniger zu sein, gibt er ihnen nicht bloß, was sie wollen - regimekritische Äußerungen seiner Kollegen -, sondern versucht zu denken wie sie.
Schlattner ist nicht der erste, der unter mörderischem Druck aus der Not des Verrats die Tugend der Bekehrung machen will. Das eigene Gewissen indes lässt sich nicht täuschen; es drückt und zwickt bis an das Lebensende. Vorerst saugen die Vernehmer der Securitate den nunmehr gesprächigen Häftling weiter aus; der neue Gesinnungsgenosse ist für sie nichts weiter als ein nützlicher Idiot. Schlattner sagt im Verfahren gegen fünf deutschsprachige Schriftsteller aus; diese erhalten insgesamt 95 Jahre Gefängnis; der hilfreiche Zeuge kommt mit einem minderen Delikt - "Nichtanzeige von Hochverrat" - und zwei Jahren davon. 1959 ist er wieder in Freiheit. Aber in was für einer Freiheit? Die Universität hat ihn exmatrikuliert, seine Bücher sind eingestampft; das Arbeitsamt schickt ihn als Tagelöhner in die Ziegelei. Erst viel später hat Schlattner als Ingenieur arbeiten können, bis er in den Siebziger Jahren seine Berufung zur Theologie erfuhr. Bis vor kurzem war er Pfarrer in Rothberg bei Hermannstadt und betreute eine immer kleiner werdende Gemeinde. Denn die Siebenbürger Sachsen haben Rumänien nach und nach verlassen.
Was macht Eginald Schlattners Gefängnisroman "Rote Handschuhe" eigentümlich und einzigartig? Es ist zum einen der große Zeitabstand zu den Ereignissen. Er erlaubt es dem Autor, schonungslos, fast schamlos alles offen zu legen, was er damals erlebte, erlitt - und tat. Es ist ein fast gelassener Blick zurück, ohne Zorn und ohne Selbstmitleid. Wer gelassen ist, schaut genauer hin; und so ist Schlattners Bericht voll von jenen Details, die die Wahrheit der Literatur ausmachen. Die Zahl der Stufen beim Gang zum Verhör; die eiserne Brille, die jedesmal aufzusetzen war; die Kunst, sich ohne Klopapier nach der "Verrichtung" zu säubern. Daneben Kuriosa wie ein Hirsch, der eines Tages in der Zelle auftaucht, aber auch die Verzweiflung eines Mithäftlings, der, als er abgeholt wurde, seine beiden Töchter noch schnell in einen Apfel beißen ließ; dieser Apfel mit den Bissspuren ist das einzige, was ihm von ihnen geblieben ist.
Die Reizarmut des Zellenlebens lässt den Innenraum des Gefangenen aufgehen wie eine prächtige Seerose. Erinnerungen strömen ihm zu, retten ihn über die tote Zeit hinweg und schenken dem Leser einen höchst anschaulichen Einblick in die Nachkriegsjahre Rumäniens, als der Staat noch nicht alles gleichgeschaltete hatte, als in vergessenen Dörfern noch nach dem Rhythmus vergangener Jahrhunderte gelebt wurde und in den Städten leibhaftige Gräfinnen und Barone aus der k.u.k.- Monarchie lebten - oder vielmehr hausten, in Kellern oder Armenhäusern.
Es ist eine melancholische Lektüre. So viel geplünderter Reichtum, so viele zerstörte Biographien. Eginald Schlattner hat die seine nur mühsam wieder zusammenflicken können. Das Schreiben war dabei eine Hilfe. Und die Hilfe, die er anderen zukommen lässt: Noch heute betreut der pensionierte Pfarrer im Gefängnis von Aiud die Häftlinge, die geistlichen Beistand wünschen.