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Rote Rolle rückwärts

Sieben Jahre nach den Agenda-Reformen hat die SPD ein neues Arbeitsmarkt-Konzept erarbeitet, das auf mehr Leistungen für Beschäftigungslose hinausläuft. Die Abkehr von der Schröderschen Reform könnte sich für die SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bezahlbar machen.

Von Frank Capellan, Barbara Schmidt-Mattern und Christina Selzer | 19.03.2010
    "Sigmar Gabriel hat auf dem Dresdner Parteitag angekündigt, dass sich die Partei darum bemühen werde, die notwenigen Schritte zu machen, um die Seele der Partei der kleinen Leute, wiederzuentdecken, wiederzufinden. Und ich glaube, sie ist fündig geworden."

    DGB-Chef Michael Sommer gerät Anfang der Woche geradezu ins Schwärmen. Bei den Gewerkschaftsbossen konnte SPD-Chef Gabriel punkten.

    "Wieder Ordnung und Fairness auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen, das ist im Zentrum dessen, was wir heute beschlossen haben. Der soziale Arbeitsmarkt für diejenigen, die keine Arbeit finden, ist auch ein wichtiges Thema. Aber im Zentrum muss die Arbeitsgesellschaft stehen. Und Arbeit und Leistung muss sich wieder lohnen."

    Die Parteispitze hat sich auf ein neues Konzept verständigt, das auf mehr Leistungen für Beschäftigungslose beim Arbeitslosengeld I und bei Hartz IV hinausläuft. Es ist die Reform der Reform, die Abkehr von der bisherigen Hartz IV-Politik: sieben Jahre, nachdem Gerhard Schröder seine umstrittene Agenda 2010 verkündet hat; sieben lange Jahre, in denen die SPD dramatisch an Zustimmung verlor.

    Bis zum Parteitag im September soll das neue Konzept an der Basis diskutiert werden. Ein erster Test für den neuen Vorsitzenden ist der kommende Montag. Dann werden sich in Bochum die SPD-Betriebsräte aus ganz Deutschland mit der Parteispitze treffen.

    Maren Bullermann, Betriebsrätin des städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewoba in Bremen, ist zufrieden mit dem Fahrplan, den sich die Partei verordnet hat, mit den Vorschlägen sowieso. Endlich hat sie wieder den Eindruck, dass bei der SPD die Arbeitnehmerfragen im Fokus stehen.

    Betriebsräte hätten sich in den vergangenen Jahren nicht ernst genommen gefühlt. Politik sei von oben diktiert worden, sei belehrend und weit weg von den Sorgen der Basis gewesen. Ihr Fazit: Die SPD hat viel Potenzial verspielt.

    "Wir kämpfen bei uns um jeden einzelnen Arbeitsplatz, kämpfen dafür, dass frei werdende Stellen wieder besetzt werden. Ich glaube, da muss man sich mal an die Basis hinunterbegeben und den Betriebsräten auch für diese Arbeit Anerkennung zollen von der SPD-Seite aus und sagen, das ist wichtig, was ihr da macht. Weil ich glaube, die Betriebsräte sind per se politisch."

    Es hat in Bremen schon leichtere Zeiten für SPD-Betriebsräte gegeben. Sie mussten viel Prügel einstecken für die Arbeitsmarktreformen, die die rot-grüne Bundesregierung einst angestoßen hatte, und die bis heute das Verhältnis zwischen Genossen und Wählern vergiften. Wolfgang Jägers hat das schon oft zu spüren bekommen. Der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete ist Landesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, kurz Afa.

    "Der Ärger hat sich zum Beispiel dahin gehend geäußert, dass einige gesagt haben, wir wollen mit euch nichts mehr zu tun haben. Einige haben die Partei verlassen. Einige sind zu anderen Parteien gegangen. Am Tag nach der Bundestagswahl bin ich zu einer Betriebsratsversammlung gekommen, ein kleiner Betrieb hier in Bremen. Und da haben mir einige gesagt: 'Ist ja schlecht gelaufen für euch, wir haben die Linken gewählt. Aber das musst du nicht persönlich nehmen!'"

    Der Volkspartei ist das Volk abhandengekommen. Zehn Millionen Wähler hat die SPD in elf Regierungsjahren verloren. Für Wolfgang Jägers ist der Fall klar: Als Druckmittel hat Hartz IV unter Arbeitnehmern Angst und Schrecken ausgelöst. Die Ausbeutung hat seiner Ansicht nach deutlich zugenommen.

    "Der Arbeitgeber braucht nur hingehen, und sagen: 'Wenn du machst, was ich will, denk an Hartz IV! Du fällst in ein tiefes Loch.' Lohndrückerei fängt mit Hartz an. Das sind die Vorwürfe, die ich Richtung Partei und SPD höre: Deine Partei, deine Partei hat das überhaupt möglich gemacht, das wir hier so unter Druck kommen. Das hat verheerend ausgewirkt auf den Arbeitsmarkt und auf die Psyche der Arbeitnehmer. Die sich nichts mehr trauen. "

    Vor allem aber trauen sie der SPD nicht mehr. Das soll sich nun ändern. Gerade noch rechtzeitig vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hofft Gabriel, enttäuschte Wähler mit der Sozialdemokratie zu versöhnen.

    Im Kern bleibt Hartz IV zwar bestehen, wird aber abgemildert. Die Partei müsse das tun, sagen die Betriebsräte aus Bremen, wenn sie wieder glaubwürdig sein will. Ein erleichtertes "endlich" fügen sie hinzu. Denn auch an der schwindenden Zahl der Genossen in den Betriebsräten lässt sich ablesen, was die Arbeitsmarktreformen ausgelöst haben, glaubt Hartmut Krenzer, Betriebsrat beim Flugzeugbauer Airbus zu wissen.

    "Wir hatten früher die klassischen Betriebsgruppen. Nur mit der Abnahme der Mitgliedschaft in der SPD, hat auch die Mitgliedschaft in den Betrieben abgenommen, sodass man sowohl politische und auch betriebliche Themen unter Sozialdemokraten nicht mehr diskutiert im Betrieb."

    Die SPD spielt auf Betriebsratsebene so gut wie keine Rolle mehr. Das schmerzt auch Markus Bendig, Arbeitnehmervertreter beim Stahlunternehmen Arcelor Mittal. Er hält es für wichtig, sich nicht nur gewerkschaftlich zu engagieren, sondern über seine Partei politisch auch Einfluss zu nehmen, damit Gesetze wie beispielsweise die "Rente mit 67" gar nicht erst verabschiedet werden. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sei ein Dauerthema bei seinen Kollegen, die jahrelang schwere körperliche Arbeit am Hochofen geleistet haben. Markus Bendig kann deren Wut verstehen.

    "Das Unverständnis, dass solche Beschlüsse gefasst werden, gerade an solch schwer belasteten Arbeitsplätzen. Das hat dann schon für große Enttäuschung gesorgt, und das hat sich ja dann auch in den Wahlen ausgedrückt. Ganz klar."

    Seit Anfang dieser Woche ist Markus Bendig wieder optimistisch: Er glaubt fest daran, dass die Parteispitze nun verstanden hat. Gabriels Vorschläge lassen ihn hoffen. Auch Wolfgang Jägers ist voll des Lobes: Es sei höchste Zeit, dass nun wieder ein Parteichef am Ruder ist, der an die Arbeitnehmer denkt.

    "Ich habe ihm das geglaubt. Das habe ich den anderen Parteivorsitzenden, oder einigen davon, nicht mehr geglaubt, wenn die überhaupt noch mit uns geredet haben als Arbeitnehmern in der SPD. Siegmar Gabriel glaube ich das. Das ist eine Frage von Vertrauen. Er ist auf dem Weg, das Vertrauen wiederzugewinnen. Ich glaube, das ist der Schlüssel."

    Am 14. März 2003 nimmt das Übel seinen Anfang. Zumindest sehen das heute viele Sozialdemokraten so. Gerhard Schröder präsentiert seine Agenda und kündigt in einer Regierungserklärung weitreichende Einschnitte im Sozialstaat an.

    "Wir werden, meine sehr geehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer. Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen. Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen."

    Erreicht haben wir, so meinen im Rückblick die Zyniker unter den Genossen, die SPD zu einer 23-Prozent-Partei zu degradieren. Die Agenda 2010 ist ihrer Ansicht nach Ursache für den Niedergang der Sozialdemokratie. Dabei wird der SPD-Kanzler damals zunächst mit Lob überschüttet. Eine Reform des Sozialstaates wird als unverzichtbar betrachtet, um den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu gewinnen. Doch Schröder gelingt es nicht, seine SPD-Mitglieder zu überzeugen, vor allem muss er die Partei per Basta-Erklärung auf seinen Reformweg zwingen.

    "Jeder, der sich abweichend verhält, muss wissen, dass es um sehr viel geht. Darum, ob die SPD die Partei ist, die die notwendigen Veränderungsprozesse in unserem Land organisiert oder nicht."

    Erklärtes Ziel des Kanzlers: Die Hartz-Reformen sollen die Arbeitslosenzahlen halbieren. Umstrittenster Punkt ist Hartz IV: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sorgt von Anfang an für Ärger. Der SPD-Arbeitsmarktexperte Ottmar Schreiner ist lange Zeit Wortführer des innerparteilichen Widerstandes. Er kritisiert massiv die Zumutbarkeitsregeln: Wer Arbeitsangebote ablehnt, auch solche, die deutlich unter seiner früheren Bezahlung liegen, muss mit Sanktionen rechnen.

    "In Zukunft kann Arbeitslosen zugemutet werden, Arbeit anzunehmen mit einem Einkommen unterhalb der sozialen Hilfeschwelle. Es ist auch die erklärte strategische Absicht, einen neuen Niedriglohnsektor zu öffnen für Arbeitslose. Das wird von mir strikt abgelehnt, weil ich nicht weiß, wie Menschen mit Hungerlöhnen leben können."

    Dabei liegen die Sätze für das Arbeitslosengeld 2 in der Regel über denen der ehemaligen Sozialhilfe. Allerdings: Weil Zusatzleistungen wie Zuschüsse für Kleidung, Schul- oder Wohnbedarf im alten System deutlich höher waren, brachte das neue Arbeitslosengeld für viele Betroffene eine spürbare Verschlechterung. Mit der Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 liegt die Grundhilfe bei monatlich 345 Euro im Westen und 331 Euro in den Neuen Ländern. Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband warnen umgehend vor einer Verarmung - die damalige Vorsitzende Barbara Stolterfoth:

    "Wir haben festgestellt, dass die Regelsätze um fast ein Fünftel zu niedrig angesetzt sind, um vor Armut zu schützen."

    Besonders schmerzlich trifft die Sozialdemokraten, dass die Hartz-Gesetze die Partei von den Gewerkschaften entfremden. Die SPD verliert weite Teile ihrer alten Wählerklientel.

    "Bis jetzt wusste ich nicht, dass Trillerpfeifen zu den gewerkschaftlichen Argumenten gehören."

    Es bleibt nicht bei Pfeifkonzerten. Vor allem Gewerkschafter sind es, die den Widerstand gegen Schröders Gesetze auf die Straße holen und dabei an die Montagsdemonstrationen der Wendezeit anknüpfen. Im Westen gründet sich eine neue Partei, die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit. Für die Sozialdemokraten besonders bitter: Ihr Ex-Vorsitzender Oskar Lafontaine erlebt sein politisches Comeback.

    "Es geht mir sehr gut. Und ich tue meines dazu beizutragen, dass die Politik in Deutschland wieder auf den richtigen Weg kommt. Denn es geht nicht um einen Einzelnen, es geht um Millionen Arbeitnehmer, um Millionen Arbeitslose. Und für die müssen wir Vorschläge machen, die den Weg aus der Krise zeigen."

    Später ist es Lafontaine, der die WASG mit der PDS im Osten zusammenführt. Die Linke wird gegründet. Aus der kleinen Protestpartei im Westen wird eine ernste Gefahr für die Sozialdemokraten. Doch auch in der Großen Koalition hält die SPD an der Agenda Schröders fest. Franz Müntefering kämpft für das Erbe des Kanzlers.

    "Ich sage nicht, dass alles, was wir gemacht haben, gut ist. Und ich sage nicht, dass man es weiter vorantreiben muss. Aber ich sage, dass wir uns nicht schämen dürfen dafür, dass wir gute Sachen gemacht haben. Etwa zwei Millionen mehr haben Beschäftigung, nicht alle überzeugende. Aber doch viel überzeugende Beschäftigung mit mehr als vor 2 1/2 Jahren. Und das ist etwa,s auf das wir stolz sein können und stolz sein müssen."

    Doch die Kontroverse um die Arbeitsmarktpolitik lässt die Sozialdemokraten nicht mehr los. Im Herbst 2007 legt sich SPD-Chef Kurt Beck mit Franz Müntefering, damals Vizekanzler und Arbeitsminister, an. Erfolgreich setzt der Pfälzer eine verlängerte Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld 1 durch. Vorsichtige Korrekturen, die im Wahlkampf aber nichts bewirken.

    Frank-Walter Steinmeier - unter Schröder Kanzleramtsminister - steht zu sehr für dessen umstrittene Reformen. Und in denen wird eine wesentliche Ursache des 23-Prozent-Debakels bei der Bundestagswahl gesehen. Dass Fraktionschef Steinmeier jetzt die Reform der Reform mittragen muss, verschafft dem neuen Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel ein Glaubwürdigkeitsproblem. Deshalb gesteht er auch Fehler ein: Die Förderung von Zeit- und Leiharbeit, auch ein Teil der Schröder-Agenda, habe am Ende Dumpinglöhne gefördert:

    "Wir haben mal gemeinsam - übrigens mit Gewerkschaften - gewollt, dass Überstunden abgebaut werden. Und stattdessen Menschen für Auftragsspitzen auch über die Leih- oder Zeitarbeit in Beschäftigung kommen. Heute stellen wir fest: Nirgendwo gibt es so viele Tarifverträge wie in der Leiharbeitsbranche - allerdings Scheintarifverträge mit Scheingewerkschaften, die sich dann auch noch christlich nennen."

    Auf eine Vermögensanrechnung soll bei der Bewilligung von Hartz-IV-Leistungen nach SPD-Vorstellungen künftig verzichtet werden. Allein Einkünfte aus Eigentum würden demnach verrechnet. Das eigentliche Vermögen habe in der Vergangenheit ohnehin nur bei einem Prozent der Antragsteller eine Rolle gespielt, aber für eine Verunsicherung der Bürger gesorgt.
    Ende September könnte ein Parteitag die Korrektur der Hartz-Gesetze dann beschließen. Und Schröders Jahrhundertreform wäre in Teilen Geschichte.

    Dortmund - die Herzkammer der Sozialdemokratie, nirgendwo singen die Genossen so gerne wie hier. Es ist Ende Februar, auf ihrem Parteitag legt die NRW-SPD den Entwurf für ihr Wahlprogramm vor: Arbeitsmarkt, Bildung, kommunale Finanzmisere, mit diesen Themen wollen die Sozialdemokraten die Wähler am 9. Mai überzeugen, dass sie nach nur fünf Jahren in der Opposition in Nordrhein-Westfalen wieder regierungsfähig sind. Die Landesvorsitzende Hannelore Kraft wird zur Spitzenkandidatin gekürt. Das Votum ist einstimmig, denn auch diese Botschaft soll von Dortmund ausgehen: Geschlossenheit und Einigkeit - in der SPD keine Selbstverständlichkeit. Generalsekretär Michael Groschek:

    "Viele Sympathisanten haben jetzt das Gefühl, dass zusammenwächst, was zusammengehört, nämlich die Programmatik, die Stimmung in der SPD und viele Skeptiker, die vorher auf dem Sofa saßen."

    Eines ist den Sozialdemokraten auf jeden Fall rechtzeitig vor dem 9. Mai gelungen: Schluss mit Wundenlecken. Ein halbes Jahr nach der für die SPD so verheerenden Bundestagswahl verschafft sich die Partei wieder Gehör.

    Die Vorschläge, die das Präsidium in Berlin Anfang der Woche zur Arbeits- und Sozialpolitik vorlegte, verstehen die Genossen an Rhein und Ruhr als Bestätigung ihrer eigenen Hartz-IV-Vorschläge. Denn zwei Wochen zuvor hatte sich Hannelore Kraft aus der Deckung gewagt. In einem "Spiegel"-Interview vertrat die gelernte Ökonomin die Meinung, ein Viertel der Langzeitarbeitslosen sei langfristig nicht mehr vermittelbar. Ein paar Linke aus der Partei heulten auf, doch Kraft bleibt bei ihrer Linie: Sie will Hartz-IV-Empfänger stärker für gemeinnützige Arbeit einsetzen und fordert dafür die Schaffung eines sozialen Arbeitsmarktes, finanziert mit drei Millionen Euro aus Steuermitteln. Bei der eigenen Klientel kommen diese Vorschläge gut an, und auch von der Bundes-SPD sieht Kraft sich unterstützt:

    "Das läuft sehr gut zusammen. Wir haben gleichgerichtete Positionen, und wir haben auch die Situation, dass man zwar an der einen oder anderen Stelle versucht, uns gegeneinander zu fahren, aber das gelingt ja nicht, weil die inhaltliche Position sehr stark übereinstimmt."

    Doch jenseits der SPD-nahen Kreise erntete Kraft Kritik von allen Seiten: Ihre Vorschläge seien nicht finanzierbar, überdies in Wahlkampfzeiten zu kompliziert und kämen - nur kurz nach den Westerwelle-Vorschlägen - zum völlig falschen Zeitpunkt.

    Hannelore Kraft ist es mit ihrem Hartz-IV-Vorstoß erstmals in diesem früh angelaufenen Wahlkampf gelungen, bundesweite Aufmerksamkeit zu erlangen. Balsam auf die Seele der geschundene Landes-SPD, die 2005 nach 39 Jahren Herrschaft abgewählt wurde. In den Umfragen holt die Partei seit Wochen stetig auf. Seit die Sponsoren-Affäre der CDU von Jürgen Rüttgers Anfang März einen jähen Absturz bescherte, liegen Schwarz-Gelb und Rot-Grün in der Wählergunst fast gleichauf. Die SPD wittert bereits Morgenluft: Unter dem Stichwort "Kümmererpartei" will sie ihre Kernwähler zurückgewinnen, die Arbeiter und Angestellten. Generalsekretär Michael Groschek:

    "Ich glaube, in diesem Erneuerungsprozess sind wir viel weiter, als wir das nach der verheerenden Bundestagswahl gedacht haben. Und das Arbeitsmarkt-Paket, das jetzt geschnürt wurde, versöhnt große Teile, die skeptisch der SPD gegenüberstanden, wieder mit ihrer Partei. Ich glaube, viele werden jetzt neue Lust bekommen haben, SPD zu wählen."

    40 Kilometer nordwestlich von Düsseldorf liegt in Bochum-Hamme die verrauchte Kneipe des Kleingartenvereins Carolinenglück - das Domizil des SPD-Ortsvereins. Hamme ist nicht irgendein Ortsverein. In Carolinenglück haben sie Anfang 2008 den Parteiausschluss von Wolfgang Clement beantragt, weil der im hessischen Landtagswahlkampf empfohlen hatte, nicht die Ypsilanti-SPD zu wählen. Die Bochumer Genossen zogen mit ihrem Alleingang den Zorn der Landes- und Bundes-SPD auf sich. Die "Ewiggestrigen" wurden sie genannt, ein bisschen nagt das noch immer an ihnen. Doch jetzt, acht Wochen vor der Landtagswahl, fühlen sie sich bestätigt. Die SPD, sagt Klaus Amoneit, kehre endlich zu ihren Wurzeln zurück:

    "Nun weiß auch der Parteivorstand in Berlin, oh wie schön, dass wenn man Politik verändern will - und die verändert sich ja zurzeit in der SPD, dass man dafür die Unterbezirke, die Städte, die Kreise, die Ortsvereine braucht, die müssen sich beteiligen können, ob wir einen Mindestlohn brauchen, ob wir die Arbeitnehmerrechte stärken, und so weiter!"

    Die Hoffnung, als Basis wieder ernster genommen zu werden, stimmt versöhnlich. An Parteiaustritt, gar ein Überlaufen zur WASG, heute Linkspartei, hätten sie nie gedacht, sagt Rudolf Malzahn, der Vorsitzende des Ortsvereins. Doch genauso wie Hannelore Kraft will sich auch Malzahn in der Koalitionsfrage mit der Linkspartei nicht festlegen, obwohl er sie mehr als skeptisch beurteilt.

    "Ich war eine Zeit dafür, eine Koalition mit den Linken einzugehen, aber nachdem ich dann gehört habe, wie die sich hier geoutet haben in Nordrhein-Westfalen, muss ich sagen, solange die diese Meinung vertreten, Verstaatlichung von Banken - Aussagen, die die Linken gemacht haben, kann ich sagen, das lehn ich grundsätzlich ab."

    Diesen Slogan hat sich die Parteispitze in Düsseldorf zum Thema Rot-Rot verordnet. Lieber als über Koalitionsspekulationen reden die Genossen in diesen Tagen über sich und ihre "Wiederauferstehung". Dass es aufwärts, um nicht zu sagen, vorwärts geht, sorgt an Rhein und Ruhr für neues Selbstbewusstsein. Rudolf Malzahn vom Ortsverein Bochum-Hamme:

    "Wir haben schon ganz, ganz tief unten an der Erde gelegen, wir hatten manchmal Tränen in den Augen, wenn wir die Ergebnisse gesehen haben. Aber ich würde sagen, die Seele der Partei ist im Aufwind. Wir sind hier eigentlich begeistert, auch dass wir den Siegmar Gabriel haben, der könnte da wirklich noch was bewegen, auch in Richtung Nordrhein-Westfalen."

    Ob sich die Abkehr von der Schröderschen Reform für die SPD bezahlt macht, wird sich am 9. Mai an der Wahlurne zeigen.