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Roth fordert politische Lösung des Tschetschenien-Konflikts

Birke: In den "Informationen am Morgen" hier im Deutschlandfunk begrüße ich jetzt recht herzlich Claudia Roth, die Grünen-Politikerin und Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Schönen guten Morgen!

Moderation: Burkhard Birke |
    Roth: Schönen guten Morgen.

    Birke: Frau Roth, befürchten auch Sie wie viele Experten eine gewaltsame Befreiung der Geiseln und damit möglicherweise eine Neuauflage des Dramas im Musical-Theater in Moskau vor zwei Jahren?

    Roth: Ich bin natürlich sprachlos vor diesem entsetzlichen und grauenhaften Verbrechen. Es ist sehr, sehr schwierig, irgendwelche Vorschläge zu machen, wie dieses Drama zu retten ist. Ich glaube es wäre sicher falsch und eine nicht zu bremsende Eskalationsgefahr, wenn jetzt gewaltsam gestürmt würde. So wie es aussieht oder wie bisher gesagt wurde, soll es ja nicht eine gewaltsame Erstürmung des Gebäudes geben. Die freigelassenen Geiseln haben ja davon berichtet, dass sich weit mehr Menschen in Geiselhaft befinden, was die Anwohner ja auch gesagt haben. Man rechnet ja in der Zwischenzeit mit fast bis zu 1.000 Menschen, die in der Schule gefangen sind. Da wäre eine gewaltsame Erstürmung natürlich gleichbedeutend mit unendlich vielen Toten, die dabei ums Leben kommen würden.

    Birke: Damals, beim Musical-Theater, hatte der russische Präsident Putin genau wie in diesen Tagen auch vorgegeben, das Leben der Geiseln schützen zu wollen. Lässt das denn nun wirklich auf eine friedliche Lösung hoffen?

    Roth: Ich glaube die Tatsache, dass sich sehr, sehr viele Kinder in dieser Schule befinden, die Tatsache, dass natürlich die ganzen Angehörigen davor Angst haben, davor warnen, dass gewaltsam gestürmt wird, weil eine gewaltsame Stürmung immer auch den Tot von vielen Menschen bedeuten würde, die Tatsache, dass es große Demonstrationen in Tschetschenien, in Grosni, in Ingoschetien gibt, dem Nachbarland von Nordossetien, wo viele, viele Tschetschenen auf die Straße gegangen sind und die Geiselnehmer, die Terroristen aufgefordert haben, die Geiseln freizulassen, trägt mit dazu bei, dass die russische Seite, dass Präsident Putin, dass die Sicherheitskräfte ruhig bleiben, bedachte Lösungen finden und auf Verhandlungen setzen. Gleichwohl weiß ich, dass mit diesen Gewalttätern sehr wenig zu verhandeln sein wird. Es ist wirklich ungeheuerlich und grauenhaft, dass immer noch keine Nahrungsmittel zugelassen worden sind, dass keine Medikamente zugelassen werden, dass die medizinische Versorgung, die sicher dringend notwendig ist, von den Geiselnehmern nicht erlaubt wird.

    Birke: Frau Roth, Präsident Putin führt in Tschetschenien nach seinen Worten einen Kampf gegen den Terror. Kann man diesen Kampf mit dem internationalen islamischen Terrorismus, mit dem vergleichen, was wir im Irak und anderswo erleben, oder handelt es sich dabei um selbst ausgelöste Gewalt, wie unter anderem ja auch ein Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, nämlich Roland Götz behauptet?

    Roth: Wir erleben ja seit Jahren in diesem Tschetschenien-Konflikt keine Normalisierung. Was die russische Seite immer wieder sagt. Es wird immer wieder versucht, von der so genannten Normalisierung zu sprechen, es werden Wahlen durchgeführt, die man nun alles andere als demokratisch, als frei, als fair bezeichnen kann.

    Roth: Das heißt Sie teilen die Meinung von Bundeskanzler Schröder nicht, dass es in Tschetschenien keine empfindlichen Störungen der Präsidentschaftswahlen gegeben habe?

    Roth: Ich war ja nicht dabei bei dem, was der Bundeskanzler gesagt hat. Ich teile aber die Meinung nicht, wenn er sagt, dass er glaubt, dass es bei den Wahlen fair zugegangen ist, dass es keine Einschränkungen gegeben hat. Man muss jetzt noch mal genau hören, was die Wahlbeobachter sagen. Es gibt wieder ein großes Auseinanderklaffen zwischen dem, was offizielle Stellen sagen. Das hat ihm sicher Präsident Putin dann auch so vermittelt. Die offiziellen Stellen haben Feiern bei Wahlveranstaltungen gezeigt und die inoffiziellen Stellen, Teile der Journalisten, die überhaupt noch Zugang haben, und internationale Beobachter haben davon gesprochen, dass es doch massive Einflussnahmen gab, dass es Wahlfälschungen gab, dass es Manipulationen gab. Ein Journalist hat davon gesprochen, dass er insgesamt viermal gewählt hat. Wichtig war aber, dass es eigentlich gar keine Wahl gab, denn der Sieger stand von Vornherein fest. Es war von Moskau ein eingesetzter ehemaliger bisheriger tschetschenischer Innenminister. Es war der einzige, der Zugang zu den Medien hatte, und der einzige wirkliche ernsthafte Gegenkandidat, ein Moskauer Geschäftsmann, wurde mit fadenscheinigen Begründungen von der Wahl ausgeschlossen.

    Birke: Sie, Frau Roth, wenn ich Sie richtig interpretiere, kritisieren damit öffentlich auch die Haltung der russischen Regierung bei dieser Wahl in Tschetschenien?

    Roth: Ja. Ich glaube, dass die russische Politik gegenüber Tschetschenien, eine Politik der bedingungslosen Härte, der Bekämpfung des Terrorismus mit jedem Mittel unter pseudodemokratischer Einsetzung moskautreuer Stadthalter in Grosni - das ist ja nun schon seit geraumer Zeit passiert -, dass diese Politik eben nicht zu einer Normalisierung führt, dass diese Politik nicht zum Vertrauen der Menschen führt, sondern dass diese Politik auch weitere Eskalation von Gewalt auslöst.

    Birke: Sollte der Bundeskanzler, sollte der Außenminister das Herrn Putin auch laut und öffentlich sagen?

    Roth: Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass genau das auch immer wieder Joschka Fischer gesagt hat. Der Bundeskanzler hat ja auch betont, dass die einzige Lösung eine politische Lösung ist. Eine politische Lösung der Tschetschenien-Frage kann nur im Vertrauen und gemeinsam mit den Menschen dort und nicht in der Konfrontation passieren. Ich glaube und ich befürchte, dass am Sonntag mit dieser erneuten Wahl in der Tat eine Chance vergeben worden ist, die Hand auszustrecken und zu sagen ja, wir wollen eine Aussöhnung, wir wollen eine politische friedliche Perspektive und wir wollen sozusagen nicht eine gnadenlos harte Politik der russischen Regierung.
    Ich will nur eines sagen: Natürlich gibt es die Gewalt in Tschetschenien. Aber die Übergriffe, die Menschenrechtsverletzungen der russischen Streitkräfte dort rechtfertigen überhaupt nicht terroristische Gewaltakte wie jetzt die Entführung, wie der Bombenangriff in Moskau oder wie der Anschlag auf die beiden Flugzeuge. Aber es macht eben deutlich, dass es eine intelligente, eine ruhige, eine gemäßigte Politik der russischen Regierung braucht, die mit rechtstaatlichen Mitteln arbeitet, weil wir sonst eine weitere Gewalteskalation erleben.

    Birke: Frau Roth, Sie sagten eben, dass Sie sicher sind, dass Joschka Fischer auch diese Problematik anspricht. Joschka Fischer hat heute aber der "Frankfurter Rundschau" auch gesagt, mit öffentlicher Kritik sei nichts zu erreichen. Deutsche Leistungsnachweise im Sinne von Äußerungen auf Pressekonferenzen könnten in Wirklichkeit nichts bewegen. Sind Sie da anderer Meinung?

    Roth: Joschka Fischer hat zum Beispiel bei der UNO-Menschenrechtskommission in Genf sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es in Tschetschenien zu einer politischen Lösung kommen muss und dass der Terrorismus mit rechtstaatlichen Mitteln zu bekämpfen ist, dass die Demokratien nur eine Chance haben, wenn sie terroristische Gewalt mit rechtstaatlichen Mitteln bekämpfen. Wir erleben ja etwas – und auch das ist in Moskau immer wieder angesprochen worden -, dass das was in Tschetschenien passiert, sich nicht nur auf Tschetschenien begrenzt, sondern wir erleben eine Entdemokratisierung in Russland. Wir erleben zum Beispiel eine massive Einschränkung von Freiheitsrechten wie der Pressefreiheit, dem Zugang zu Informationen. Wir erleben – und das finde ich besonders dramatisch und das ist eben auch gefährlich für Russland – eine ganz schlimme Stimmung gegen Menschen aus dem Kaukasus. Jeder wird von Vornherein verdächtigt, Terrorist zu sein. Es gibt Diskriminierungen im Alltag gegenüber Menschen aus dem Kaukasus. Es gibt Diskriminierung was den Zugang zur Arbeit und zur Wohnung angeht. Diese Stimmung, dieser latente und schon offen gezeigte Rassismus vergiftet natürlich auch eine positive Entwicklung insgesamt in Russland. Deswegen ist dieses, das auch deutlich anzusprechen, nicht antirussisch oder gegen Putin gerichtet, sondern im allerbesten Sinne eine kritische Solidarität, im Sinne einer Demokratisierung Russlands.

    Birke: Frau Roth, sie sind ja auch die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Was kann die Bundesregierung, was kann getan werden auch auf europäischer Ebene, um hier den Druck auf Russland zu verstärken, um die Einhaltung der Menschenrechte – die Verletzung haben Sie ja gerade angesprochen - durchzusetzen?

    Roth: Noch einmal ganz deutlich zu machen, dass eine harte, eine gnadenlose Politik gegenüber Tschetschenien nicht Vertrauen schafft, dass sie nicht eine friedliche Lösung, eine Aussöhnung mit sich bringt. Terrorismus zu bekämpfen, da gibt es selbstverständlich jede Unterstützung. Aber Terrorismusbekämpfung kann nicht heißen, dass eine ganze Bevölkerung unter Verdacht gerät. Dass die Gewalt in Tschetschenien ein Ende hat, dass die Flüchtlinge, die es immer noch gibt, viele, viele Tausend Flüchtlinge in Ingoschetien, würdig und menschlich behandelt werden und dass wir insgesamt weltweit klar machen, dass wir in einer Zeit, in der die Welt wirklich in Unruhe ist, in der die Welt bedroht ist von terroristischen Gruppen, von Geiselnahmen, von Hinrichtungen, die live auf Fernsehsendern gezeigt werden, von einem Anwachsen an Gewalt und an Bedrohung, dass die Demokratien nur eine Chance haben, wenn sie diese Auseinandersetzung strikt rechtstaatlich und auf der Basis von Menschenrechten führen. Nur dann schafft man es, den terroristischen Gewalttätern nicht noch mehr Unterstützung zu geben, sondern sie zu trennen von den Menschen und deutlich zu machen, es geht um den Kampf gegen Gewalt, aber es geht auch um eine Demokratisierung in Tschetschenien. Das ist die politische Unterstützung und das ist im besten Sinne prorussisch, denn die russische Demokratie leidet jeden Tag weiter, wenn dieser Krieg und diese Gewalt weitergeht. Wir sollten aufhören in Deutschland, Tschetschenen nach Russland abzuschieben. Das passiert immer wieder. Menschenrechtspolitik fängt auch zu Hause an. Tschetschenische Menschen in Russland sind nicht ohne Gefahr. Sie sind bedroht. Sie werden verdächtigt. Auch das wäre ein wichtiges Signal. Und jetzt in der aktuellen Geiselnahme kann man nur sagen: wir stehen bereit mit allen Mitteln, beispielsweise bei der medizinischen Versorgung zu helfen.

    Birke: Vielen Dank! – Claudia Roth war das, die Grünen-Politikerin und Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Vielen Dank für das Gespräch!

    Roth: Ich danke Ihnen sehr und auf Wiederhören!