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Ruanda
"Es war ein einziges Blutbad"

Paul Rusesabagina war während des Völkermordes in Ruanda Manager eines Hotels, in dem mehr als 1200 Flüchtlinge überlebten. Auch 20 Jahre danach herrsche immer noch Leiden und Elend, sagte Rusesabagina im DLF. Ruanda sei ein Vulkan, der jederzeit explodieren könne, auch weil über die Geschehnisse immer noch nicht ausreichend gesprochen werde.

Paul Rusesabagina im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.04.2014
    Christiane Kaess: Innerhalb von 100 Tagen wurden an die 800.000 Menschen getötet, die Mehrheit von ihnen Tutsi, aber auch moderate Hutu gehörten zu den Opfern. Als Völkermord in Ruanda ging dieses tragische Kapitel in die Geschichte ein. Der Konflikt strahlt bis heute auf eine ohnehin schon instabile Region aus. So flohen zum Beispiel etliche Ruander damals in den Ostkongo, wo sich bis heute verschiedene Rebellengruppen bekämpfen.
    Ruanda selbst ist seit damals stabil unter dem autoritären Präsidenten Paul Kagame. Kagame hat nicht nur für ein gewisses Maß an Versöhnung gesorgt. Unter ihm ist es auch gelungen, in dem Land ein kleines, aber beachtliches Wirtschaftswunder zu schaffen. In den letzten Jahren aber häufen sich die Vorwürfe, Kagame betreibe Klientelpolitik für eine aus dem Exil zurückgekehrte englischsprachige Tutsi-Elite. Für sie habe Kagame Ruandas Amtssprache auch von Französisch zu Englisch eingetauscht.
    Ein weiterer Vorwurf: Kagames Tutsi-Rebellen, die den Völkermord schließlich beendeten, hätten selbst zahlreiche Massaker begangen, über die bis heute nicht gesprochen werden darf.
    Ein prominenter Kritiker der aktuellen Situation in Ruanda ist Paul Rusesabagina. Er leitete 1994 ein Hotel in Ruandas Hauptstadt Kigali, wo während des Völkermordes mehr als 1200 Menschen überlebten. Die Geschichte wurde durch den Hollywood-Film "Hotel Ruanda" bekannt. Oft wird der Film allerdings als Kitsch und einseitige Heroisierung von Paul Rusesabagina kritisiert. Ich habe ihn vor der Sendung gefragt, wie für ihn die Erinnerung an den 6. und 7. April 1994 heute ist.
    "Als wäre es gestern geschehen"
    Paul Rusesabagina: Nach 20 Jahren ist diese Tragödie von Kigali immer noch ganz frisch in unserem Gedächtnis. Es ist so, als wäre das gestern geschehen, oder als geschähe es heute.
    Kaess: Wie gehen Sie mit dem Trauma aus dieser Zeit um?
    Rusesabagina: Am Anfang habe ich diesen Kummer ganz für mich behalten. Ich wollte von diesem schrecklichen Ereignis nicht sprechen. Viele Schriftsteller wandten sich an mich, sie wollten über die Tragödie in Ruanda schreiben. Dann kamen die Menschen, die den Film "Hotel Ruanda" machen wollten, aber umsonst. Ich habe alles in mir verschlossen, bis ich merkte, dass das ganze Ereignis für mich zu einem gewaltigen Trauma persönlicher Art geworden war und dass ich letztlich mich öffnen musste.
    Ich habe dann begonnen, über diese Tragödie zu sprechen. Mir wurde klar: Wenn ich die Welt verändern wollte, wenn ich etwas bewegen wollte, dann musste ich darüber sprechen, und so habe ich tatsächlich angefangen, das auszupacken. Das hat für mich eine enorm befreiende, lösende Wirkung gehabt. Der Kummer konnte mit anderen geteilt werden. Ich bedauere nur meine Landsleute, die diese Chance nicht hatten.
    Kaess: Was war für Sie der tragischste Moment während des Genozids?
    Rusesabagina: Wissen Sie, von Anfang an bis Ende. Das begann am 6. April. Die ganze Stadt war verbarrikadiert. Selbst die UNO-Truppen konnten einem nicht mehr weiterhelfen. Von da an war es ein einziges Blutbad. Beginnend vom nächsten Morgen an, hörte man überall Gewehrschüsse. Man merkte, wie die Menschen mit Gewehren und Macheten einander töteten, und das war eine tief traumatisierende Situation. Das ging dann wirklich für alle Herzen weiter. Jede Minute, jeder Tag brachte neues Leid und neue Verbrechen bis zum Ende über mehrere Monate hin.
    Elend erzeugt Fluchtgedanken: Flüchtlinge in Ruanda, 1996
    Elend erzeugt Fluchtgedanken: Flüchtlinge in Ruanda, 1996 (AP Archiv)
    Worte anstelle von Gewehren und Macheten
    Kaess: Wie haben Sie es geschafft, die Mörder von den Flüchtlingen im Hotel abzuhalten?
    Rusesabagina: Man fängt an zu reden. Man spricht, man verhandelt. Selbstverständlich kann man von einer Verhinderung des Massakers nicht sprechen, wenn die Machete geschwungen wird. Aber ich habe festgestellt: Jeder Mensch hat irgendwo, so verhärtet er auch ist, eine weiche Seite. Ich habe nichts anderes gemacht, als diese weiche Seite zu suchen, und dann mit ihr in Verhandlungen einzutreten. Ich habe nichts besonderes gemacht. Ich habe nur Worte verwendet an Stelle von Gewehren und Macheten.
    Kaess: Was werfen Sie heute im Rückblick der internationalen Gemeinschaft vor, die den Völkermord nicht verhindern konnte?
    Rusesabagina: Was ich der Staatengemeinschaft vorwerfe ist dasselbe, was ich ihr auch heute noch vorwerfe. Damals im Jahre 1994 hat sie sich einfach nicht gekümmert. Sie hat den Geschehnissen in Ruanda einfach den Rücken zugekehrt.
    Kaess: Und warum ist das heute das gleiche?
    Rusesabagina: Die Vereinten Nationen sind vor Ort. Sie treffen dieselben Entscheidungen wie damals. Sie sind sogenannte Beobachter. Aber sie mischen sich eigentlich nicht ein. Sie tun nichts. Man sieht es im Kongo. Dort sind ja 20.000 Blauhelm-Soldaten stationiert. Und dennoch sind über sieben Millionen Menschen ermordet worden. 300.000 Flüchtlinge aus Ruanda wurden dort massakriert. Die Präsenz der Blauhelm-Truppen hat also nichts bewirkt. Die sogenannte Mission ist im Grunde nur ein Feigenblatt, die aber an dem Leiden und dem Elend nichts ändert.
    "Alle Vorwürfe sind erfunden"
    Kaess: Herr Rusesabagina, Sie sind mit einer Menge Auszeichnungen für Ihr Engagement geehrt worden. Aber es gibt auch harte Vorwürfe gegen Sie, Sie hätten während des Genozids den Flüchtlingen in Ihrem Hotel eine Menge Geld abgepresst. Haben Sie aus der damaligen Situation Profit geschlagen?
    Rusesabagina: Nein! Nichts davon stimmt. Stellen Sie sich vor, man sollte von einem Bewohner Ruandas, der 100 US-Dollar pro Monat verdient, 200 US-Dollar für eine Übernachtung in diesem Hotel verlangen, und das über zwei bis drei Monate hinweg, denn durchschnittlich waren die Leute in der Tat drei Monate dort im Versteck. Das war ja ein ständiges Kommen und Gehen. Man läuft hin und her, man versteckt sich. Es war eigentlich gar keine geregelte Verbuchung möglich. Es wurde behauptet, ich hätte so was gemacht, aber niemand konnte eine Quittung vorlegen, denn ich hätte doch eine Quittung ausgestellt. Jetzt werden solche Quittungen gefälscht und in Umlauf gebracht. Andere behaupten, sie hätten mir einen Scheck gegeben. Aber irgendwann hätte ich diese Schecks ja einlösen müssen. Das heißt, das Ganze ist erfunden und nichts davon ist zutreffend.
    Kaess: Es wurde den Vereinten Nationen auch berichtet, Sie hätten nicht mit den Blauhelm-Soldaten kooperiert und sogar eine Liste an die damalige ruandesische Armee mit Namen weitergegeben und damit Menschen gefährdet.
    Rusesabagina: Auch das ist falsch, was hier behauptet wird. Ich habe nicht und nie mit der ruandischen Armee zusammengearbeitet. Ich habe das getan, was ich konnte. Ich habe die Menschen versteckt. Und das nur als Beispiel genannt: Keiner der bei mir versteckten Menschen ist getötet worden, ist herausgeschleppt worden, ist verhört worden oder gefoltert worden. Alle sind heil davon gekommen, und das war eine echte Ausnahme.
    Kaess: Sind diese Anschuldigungen, die aus Ruanda kommen, ein Zeichen dafür, dass der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi nicht vorbei ist?
    Rusesabagina: Die ganze Lage ist komplexer als das, was Sie da sagen. Es ist nicht ein Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, sondern es ist ein Konflikt um die Macht. Die amtierende Regierung in Ruanda wird geführt von einem Präsidenten, der komplexbeladen ist und der alles tut, um zu verhindern, dass irgendjemand nachweisen könnte, dass er damals nützlich war für das, was getan wurde.
    Ich selbst war ja bis zum Jahr 2004 oder 2005 doch wirklich in der Gunst der Regierung in Kigali, bis ich dann die ersten Preise bekam für Heldenmut, für meine Opferbereitschaft und dergleichen. Und als ich dann anfing zu sprechen, da begannen mich die Leute wirklich zu verachten.
    Kaess: Sie kritisieren die aktuelle ruandische Regierung unter dem Präsidenten Paul Kagame scharf. Aber auf der anderen Seite hat Kagame das Land stabilisiert und die Wirtschaft ja wirklich vorangebracht.
    Rusesabagina: Ich bezweifele das. Das sind doch potemkinsche Dörfer. Wir haben ja zwei Ruanda, wie man so sagt: einerseits die Hauptstadt Kigali und alles andere ist irgendwie ferngesteuert. Man muss ja auch sagen, dass diejenigen, die 1994 vertrieben wurden und dann wieder zurückkehrten, alle diejenigen, die zwischenzeitlich Zuflucht gefunden hatten, vertrieben haben. Sie haben alle Wohnungen und Häuser in Beschlag genommen und plötzlich hieß es dann, die Sprache wird geändert. Stellen Sie sich vor, dass von einem Tag auf den anderen in Deutschland alle Arbeitnehmer plötzlich Chinesisch sprechen müssen. So war das auch in Ruanda. Alle diejenigen, die die neue Sprache nicht sprachen, verloren plötzlich ihre Arbeit.
    Eine Frau steht vor einer Schädelreihe: Gedenkstätte für den Völkermord in Ruanda
    Gedenkstätte für den Völkermord in Ruanda (picture alliance / dpa)
    "Ruanda ist ein brodelnder Vulkan"
    Kaess: Die dominierende Amtssprache ist jetzt Englisch und nicht mehr wie davor Französisch. – Herr Rusesabagina, kann ein Genozid in Ruanda wieder passieren?
    Rusesabagina: Das kann wieder geschehen. Das Land Ruanda ist ein Vulkan, der brodelt und der noch nicht explodiert ist. Wir haben ja diese Höhergebildeten, die auf Französisch ausgebildet worden sind. Sie haben keinerlei Arbeitsmöglichkeiten. Ihnen wird gleicher Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert. Die englischsprachigen Akademiker haben alle Posten übernommen. 80 Prozent der Bevölkerung haben keinerlei Perspektiven. Sie werden eingeschüchtert. Seit 20 Jahren gibt es auch keine richtige Freiheit. Es gibt keine Meinungsfreiheit, es gibt eine ständige Verletzung der Menschenrechte. Die damals hingeschlachtet wurden, die vergewaltigten Frauen und vergewaltigten Kinder, die Kindersoldaten, die Sexsklaven, von all dem zu sprechen, macht große Angst, und das ist noch überhaupt nicht begonnen worden.
    Kaess: Paul Rusesabagina – er war während des Völkermordes in Ruanda Manager eines Hotels, in dem mehr als 1200 Flüchtlinge überlebten. Danke für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.