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Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben

Ganz neu in den Buchhandlungen sind die von Gretchen Dutschke-Klotz herausgegebenen Tagebücher ihres 1979 an den Spätfolgen eines Attentats verstorbenen Mannes Rudi Dutschke. Die Aufzeichnungen zeigen die Galionsfigur der deutschen 68er Bewegung und späteren Mitbegründer der Grünen, der in der Öffentlichkeit zumeist sehr selbstsicher agierte, nicht nur -erwartungsgemäß - als einen brillanten politischen Denker, sondern auch als einen zweifelnden, verletzlichen, manchmal ratlosen Revolutionär.

Thomas Moser | 31.03.2003
    Es ist keine Zeit nüchterner, kalter, von Praxis getrennter Reflexion, sondern eine Zeit der Mobilisierung. Die Aufgabe der Intellektuellen ist mit der des Organisators der Straße, mit der des Wehrdienstverweigerers, mit der der lohnabhängigen Massen und deren Interessen insgesamt identisch, mit dem Volk und den lohnabhängigen Massen endlich zu sprechen, zu arbeiten und nicht mehr über das Proletariat zu sprechen, sondern mit dem Proletariat zu sprechen." – Beifall

    Rudi Dutschke, die Stimme der 68er-Protestbewegung, der Agitator der außerparlamentarischen Opposition APO, so wie ihn die Öffentlichkeit kannte. Doch derselbe Mann hört sich auch so an, Zitat:

    Die letzten Tage waren selten positiv, fast immer negativ, voller Depression, völlige Angst vor Lern- und Arbeitsunfähigkeit. Bin einfach in allen Bereichen schwach, kämpfe an vielen Stellen falsch. Der Besuch des Psychoanalytikers wird immer unerlässlicher.

    Die energische Rede mit der revolutionären Rhetorik stammt vom Februar 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung jener Zeit - die zitierten Sätze voller Ängste und Selbstzweifel wurden nur wenig später, im Sommer 1969, geschrieben. Sie sind aus den Tagebüchern von Rudi Dutschke, die seine Frau Gretchen Dutschke-Klotz jetzt, von wenigen Seiten abgesehen, vollständig vorgelegt hat. Im Revolutionär der Mensch mit Schwächen - dieses Bild, das Gretchen Dutschke-Klotz schon mit der Biografie über ihren 1979 verstorbenen Mann entwarf, wird mit den Tagebüchern nun noch genauer.

    Die zitierten Schwächen und Selbstzweifel waren einerseits eine Folge des Attentats im April 1968, das er schwerverletzt überlebte, andererseits aber auch der verlorengegangenen Bewegung. Dutschke und der Sozialistische Deutsche Studentenbund SDS – ein politisch äußerst widersprüchliches Verhältnis, das in den Geschichten von "68" meist ausgelassen wird, in Dutschkes Tagebüchern aber wie ein kleiner roter Faden immer wieder auftaucht. Kern des Konfliktes war die kritiklose DDR-und Ost-Orientiertheit des SDS. Die Tagebücher liefern eine Vielzahl von Beispielen für Dutschkes negative Beurteilung der kommunistischen Regime in Osteuropa wie umgekehrt für seine positiven Stellungnahmen zum politischen Widerstand in Osteuropa – die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion, den Prager Frühling in der CSSR oder die Arbeiterstreiks in Polen. Während eine SDS-Mehrheit die DDR verteidigte und in der SED einen Partner sah, wollte ein Flügel um Dutschke nicht nur die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik bekämpfen, sondern auch die im SED-Staat, wo Dutschke aufgewachsen und aus dem er geflohen war.

    Was für Knechtschaftsverhältnisse unter dem Schleier des ’Sozialismus’. Die Arbeiter und Bauern müssen es ihnen mal zeigen!

    Der Dutschke-Flügel forderte für die DDR, die Sowjetunion und die anderen Ostblockstaaten nichts weniger als eine "zweite Revolution" – so wie es zehn Jahre nach seinem Tod tatsächlich geschah. Die wachsende Opposition in der DDR in den 70er Jahren – verbunden mit den Namen Biermann, Havemann, Bahro oder Fuchs - beeinflusste Dutschke so sehr, dass er sogar überlegte, in die DDR zurückzukehren.

    Ist es nicht unerlässlich, dorthin zu gehen, um die Kooperation des Widerstandes in BRD und DDR auf ein neues Niveau zu bringen, West- und Osteuropa als politisch-kulturelle und ökonomische Einheit zu antizipieren?

    In der deutschen Wiedervereinigung sah er einen Akt gegen Staats-Sozialismus und Kapitalismus. Diese politische Haltung war der wahre Grund für die schon 1967 zunehmenden Attacken innerhalb des SDS auf Dutschke, die u.a. zu dem Versuch führten, ihn auszuschließen. Einer der treibenden Kräfte war damals Hannes Heer, der in den 90er Jahren als Organisator der Wehrmachtsausstellung bekannt wurde. Den Namen von Heer legt Gretchen Dutschke-Klotz in einer Fußnote selbst offen und zeigt damit nebenbei, wie sie die Herausgabe der Dutschke-Tagebücher versteht: nicht als totes Dokument, sondern politisch-aufklärend.

    Rudi Dutschke benutzte sein Tagebuch nicht ständig. Dass er tägliche Eintragungen machte, war eher selten. Es kam zum Beispiel nach dem 2. Juni 1967 vor, dem Tag, als der Student Benno Ohnesorg auf einer Demonstration erschossen wurde - so etwas wie die Initialzündung für die außerparlamentarische Protestbewegung. Andererseits schrieb er monatelang gar nicht, viele Ereignisse tauchen überhaupt nicht auf. Von zwei Jahren gibt es keine Tagebücher; unklar ist, ob sie verschwunden sind oder ob Dutschke keine führte.

    Wichtig waren die Tagebücher für Dutschke Anfang der 70er Jahre, als er nach den Schüssen auf ihn mühsam um seine Wiedergesundung rang und diese Entwicklung schriftlich dokumentierte.

    Die angeschossene Seite reagierte immer sensibler, die Gefahr von Anfällen damit für mich andeutend. Es kam aber zu keiner Attacke. Sprachschwierigkeiten: Es kommt vor, dass erlernte und schon für das Gespräch im Kopf bereitstehende Teile nicht den Weg nach außen finden.

    Er verbrachte damals viel Zeit zu Hause und schrieb eine Menge Bemerkungen über die Kinder, über Erziehung oder über das Verhältnis von Männern und Frauen im allgemeinen und Rudi und Gretchen im besonderen. Diese familiären, privaten und auch intimen Stellen wollte Gretchen Dutschke-Klotz ursprünglich weglassen, zumal sie für die Beteiligten nicht unbedingt immer glorreich sind. Doch dann kam sie zu der Überzeugung, dass die Herausgabe der Tagebücher nur Sinn macht, wenn das Private drin bleibt. Nur so kann die Persönlichkeit Dutschkes, der Zusammenhang von politischer und privater Person, sichtbar werden. Für Gretchen Dutschke-Klotz selber war es ein mutiger Schritt, weil sie sich damit am wenigsten schont. Weggelassen hat sie lediglich etwa sechs Seiten, in denen es um Aussagen Dutschkes über ein paar Personen oder über das Bundeskriminalamt geht, die juristisch anfechtbar sein könnten.

    Als Dichter ist Rudi Dutschke nicht unbedingt bekannt. Gedichte aus seiner Jugend hat er später vernichtet, doch in den Tagebüchern finden sich nun ein paar, die er Anfang der 70er Jahre während seiner Rekonvaleszenz schrieb. Eine etwas gekürzte Kostprobe:

    "Die Lebenslage klagt in sich / Die Klassen regen sich / Der Schlaf entgeht dem Aufstand noch / Es singen die 3 Kinder / Es seufzen 2 Frauen voller Lust / Ein Mann steht unten / Die Siege sind Niederlagen / Diese Niederlagen lassen neue Siege ermöglichen..."

    Dutschke-Lyrik von eigenem Charme. - Die Tagebücher liefern auch einige Details, die sachlich von Interesse sind. Dutschke wirft z.B. die Frage auf, ob sein Attentäter Josef Bachmann wirklich ein Einzeltäter war oder ob er nicht vielleicht einen Auftrag hatte, es sich also um eine Verschwörung handelte. Eine Frage, die bis heute niemals öffentlich in Erwägung gezogen und diskutiert wurde.

    Mein Fehler war, mit ihm die Kontakte nicht aufrechtzuerhalten, ich bin sicher, dass er bald zum ’Singen’ bereit gewesen wäre.

    Auch der Titel, den seine Frau für die Herausgabe der Tagebücher wählte – "Jeder hat sein Leben ganz zu leben" – geht auf die Beschäftigung mit dem Attentäter Bachmann zurück, der sich 1970 in der Haft umbrachte. Nach einem Gespräch mit Wolf Biermann, der meinte, "Rudi habe durch seine menschlichen Briefe den Bachmann in den Selbstmord getrieben", notierte Dutschke:

    Ziemlich verdreht, aber wie es auch immer sei – jeder hat sein Leben ganz zu leben und nie schon früh aufzugeben, auch wenn die Lage noch so beschissen ist. Die Lage von mir nach der Schießerei und die von Wolf nach der Ausbürgerung – Welten liegen dazwischen. Er ist am realen gesellschaftlichen Leben dran und drin, ich musste x Jahre wie verrückt schuften, um überhaupt wieder heranzukommen.

    Eine andere Einzelheit betrifft einen Polizeiübergriff auf ihn. Im Dezember 1978 hatten ihn Polizisten in Hamburg am Rande einer Demonstration erkannt, festgenommen und absichtlich auf den Kopf geschlagen. Der Vorfall war Dutschke offensichtlich so wichtig, dass er ihn an mehreren Stellen im Tagebuch erwähnt. Als er im Dezember 1979 während eines epileptischen Anfalls starb, hatte er bis dahin acht Jahre lang keinen mehr gehabt; die gesundheitlichen Attacken galten als überstanden. Die Frage, die auch seine Frau beschäftigt, ist, ob die Schläge mit den Polizeiknüppeln auf seinen Kopf diesen letzten tödlichen Anfall nicht mitbewirkt haben.

    Was die Tagebücher von Rudi Dutschke vermitteln, was hängen bleibt, ist zum einen der unabhängige Denker – und zum anderen der einsame Revolutionär. Ein Bild, das vor allem aus seinem Kampf gegen Enttäuschungen über ehemalige Mitstreiter oder gegen Erstarrungstendenzen nach dem Zerfall der 68er-Bewegung kommt. Aber vielleicht auch aus seiner Vorstellung vom Leben. Das reale "Sein" war für Dutschke ein "Noch nicht-Sein". Nichts ist fertig, alles ist in Bewegung, ein unendlicher Prozess von Veränderung.

    Dutschkes Frau Gretchen, 61 Jahre alt, lebt heute in den USA und engagiert sich zur Zeit in der amerikanischen Frauen- und Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg der Bush-Regierung. Sie versteht das politische Leben ihres Mannes als Beispiel: "Manches, was Rudi gedacht hat, kann Antrieb sein, sich mit der Welt heute auseinanderzusetzen", schreibt sie im Nachwort zu den Tagebüchern. Auf einer Lesung in Dutschkes Heimatstadt Luckenwalde bei Berlin sagte sie es vor ein paar Jahren so:

    Dass Rudi wiederum auch eine besondere Person war, der für die Geschichte Bedeutung hat, würde ich schon sagen. Also, die Geschichte besteht nicht nur aus irgendwelchen abstrakten, ja, Geschehnissen, Kriege oder Daten oder so was, sondern besteht auch aus Menschen und was Menschen getan haben. Es ist eine Inspiration, aber es ist nicht eine endgültige Antwort, das ist klar. Also was man heute tun muss, das muss man selbst herausfinden, das kann Rudi denen natürlich nicht sagen.

    Rudi Dutschke: "Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979". Herausgegeben von Gretchen Dutschke-Klotz im Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 256 Seiten für 22,90.