"Es gibt einen großen Autor zu entdecken" - unzählige Rezensionen beginnen so oder so ähnlich. Der Rezensent macht sich damit selbst interessant, gibt er doch vor, ihm persönlich sei diese Entdeckung geglückt, an der er das Publikum nun teilhaben lässt. Zumindest lenkt das die Aufmerksamkeit auf das Sujet, hier gibt es etwas Neues, etwas Anderes, mehr als jede herkömmliche Rezension Ihnen bieten kann.
Dieses allen eingedenk, möchte ich an dieser Stelle dennoch - und ich schwöre: erstmalig in meiner Rezensentenlaufbahn sagen: Es gibt einen großen Autor zu entdecken, oder vielleicht besser: wieder zu entdecken. Denn Rudolf Lorenzen gab es immer, er veröffentlichte durchaus in renommierten Verlagen, wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt, aber die angemessene Aufmerksamkeit seitens des Betriebs wollte sich nicht einstellen. Ein Grund dafür mag sein, dass er ein Non-Konformist des Denkens und Schreibens ist, der keine Kompromisse macht. Als Lorenzen zu veröffentlichen begann, beherrschte die Gruppe 47 die Szenerie, zu ihr stand er nicht in den besten Verhältnissen:
" Nein. Was soll ich in einer Gruppe? Ich bin Einzelgänger und auch Einzelschreiber. Ich brauche keine Gruppe. Ich brauche keine Kritik von Kollegen. Ich bin immer Einzelgänger gewesen. Aus Überzeugung, ja. "
Was ist der Grund für diese so vehement bekundete Überzeugung?
" Ich hab ein anderes Thema, ich hab ein Thema aus der Arbeitswelt gehabt, und damals waren esoterische Themen ... über Schriftsteller, die nicht schreiben können. Wie Lettau. Die Kunst, Häuser zu bauen und so was Ähnliches. "
Lorenzen blickt nicht nur grundsätzlich auf eine bewegte Vergangenheit zurück, sondern auch, was das Schicksal seiner Bücher angeht. Einige seiner Werke waren über längere Zeit nicht mehr greifbar, was nicht nur aufgrund ihrer Qualität erstaunlich ist. Der Roman "Alles andere als ein Held" erschien etwa 1999 bei Schöffling & Co., verkaufte sich fünfstellig, stand auf der SWR-Bestenliste, wurde aber nicht mehr neu aufgelegt, was war der Grund?
" Eine Verlegerfrage. Die haben ein Taschenbuch rausgebracht, und wollten nicht mehr mit Hardcover das Taschenbuch stören. Obgleich da immer wieder Nachfragen des Sortimenter waren, wo bleibt das Buch. Aber die wollten's nicht mehr drucken. "
Nun hat sich der Verbrecher Verlag dieses Romans angenommen, und nicht nur seiner: Das kleine Unternehmen aus Berlin wird nun auch alle anderen Bücher Lorenzens verlegen. Im Jahr 2007 erschienen neben dem erwähnten Roman "Alles andere als ein Held" auch der Erzählband "Kein Soll mehr und kein Haben" sowie "Die Beutelschneider", ein Roman aus der Werbewelt der Fünfziger Jahre.
Lorenzens Themen sind eine Ausnahmeerscheinung im aktuellen literarischen Betrieb, eine Ausnahme aber, der wir bitter benötigen. Denn wie er selbst schon sagte, seine Romane spielen in der Welt der Arbeit, seine Figuren sind kleine Angestellte, Lehrlinge, die Realität der Firmen, in denen der Chef die Sonne ist, um die wie Trabanten seine Untergebenen kreisen. Besonders interessant, etwa beim Roman "Alles andere als ein Held" ist aber, dass Lorenzen diese Welt nicht nur für einen bestimmten "time slot" darstellt, sondern ein zeitgeschichtliches Panorama entwirft von der Nazizeit über die Kriegs- und Nachkriegszeit - alles aus der Alltagsperspektive des kaufmännischen Angestellten Robert Mohwinkel.
Wie kam es dazu, dass Lorenzen sich darauf verlegte, obwohl Ende der 50er Jahre, als er zu veröffentlichen begann, die Arbeitswelt alles andere als im Trend lag?
" Das ist meine Vergangenheit. Ich bin groß geworden im kaufmännischen Beruf. Ich habe Schiffsmakler gelernt in Bremen. Und das ist meine Welt gewesen. Ich kann ja unmöglich über einen Flugkapitän schreiben, das ist nicht meine Welt. Und auch nicht über einen Arbeiter, wenngleich ich ja in meinem Roman "Alles andere als ein Held" den Angestellten als Arbeiter verfrachte nach Marseille. Also ich versteh was davon auch von der Arbeitswelt am Hafen. "
Der Anti-Held des "Helden"-Romans Mohwinkel ist Zeit seines Lebens ein Außenseiter, bei den Nazis nicht etwa aus innerer Überzeugung, sondern weil er in der "Sport- und Kameradschaftswelt" der Hitlerjugend nicht ankommt, was letztlich auch dazu führt, dass er das Gymnasium vorzeitig verlassen muss. Er beginnt stattdessen zu arbeiten und schildert den gewöhnlichen Tagesablauf der kleinen Leute mit ihren einfachen Vergnügungen zwischen Kneipe und Tanzkurs. Die Gräuel der Naziherrschaft bleiben außen vor, der junge Mann ist so sehr mit der Strukturierung seines eigenen kleinen Kosmos, seiner "Manneswerdung" beschäftigt, dass er sie gar nicht wahrnimmt. Meines Erachtens ist Lorenzens Roman schon deshalb eine absolute Ausnahmeerscheinung, weil hier ohne Eifer, ohne Zorn das ganz "normale" Leben während der Schreckensherrschaft nachzeichnet - ein Leben, das es eben auch gegeben hat, gegeben haben muss, weil die Naziherrschaft in ihren Anfängen sonst nie so erfolgreich bei der Bevölkerung hätte sein können.
Jedoch, der Krieg bricht aus, und daher ereilt den jungen Schiffsmakler das Schicksal aller seiner Altersgenossen, er wird eingezogen. Als Funker in der Etappe eingesetzt, hat er die längste Zeit Glück, vor dem Allerschlimmsten verschont zu bleiben. Der Unsinn des Krieges schlägt sich für ihn mehr in der Desorganisation des Heeresbetriebs nieder, die den jungen Soldaten sinnlos von hier nach da und wieder zurück verschickt. Schließlich wird er doch in Kampfhandlungen miteinbezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft.
Die Schilderung des sibirischen Gefangenenlagers ist eine weitere, in dieser Art einzigartige Darstellung aus der Kriegszeit, die sich so in der Texten der Gruppe 47 nicht finden lässt. Ohne jeden Revanchismus erzählt Lorenzen von den überharten Bedingungen der Lager, beschreibt beinahe mitleidslos, wie sein Alter Ego Robert knapp dem Tod durch eine Lungenentzündung entrinnt, und damit mehr Glück hat als viele Andere um ihn herum. Just genesen, hat er erneut den Tod vor Augen, da er nunmehr in einem anderen Lager unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten muss. Doch wieder verlässt ihn das Glück nicht: er kommt im Rahmen einer Propagandamaßnahme der Sowjets frei und wird per Zug nach Hause transportiert.
Nach dem Krieg geht alles weiter bis vordem, Mohwinkel steigt in seiner alten Firma ein, ist wieder nur ein kleiner Angestellter. Dass die Bosse von einst trotz Naziverstrickung wieder leitende Positionen bekleiden, ist Lorenzen nicht einmal eine Randnotiz wert, es ist einfach eine schlichte Tatsache, in der sozialen und politischen Verfasstheit der Welt begründet. Ebenso wie jene Tatsache, dass Mohwinkel zwar einen gewissen Aufstieg schafft, dann aber ohne ersichtlichen Grund vom Chef fallen gelassen und nach Frankreich weggelobt wird, wo sein Schicksal in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale mündet.
Trotz der harten Erlebnisse ist Lorenzens Ton stets neutral, nüchtern, fast objektiv. Er bemüht sich nicht, Mitgefühl für seinen Helden zu erheischen oder Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern er gibt einfach wieder, was geschah.
Er erweist sich damit als ein realistischer Schriftsteller von hohen Graden - wieder so ein Begriff, der heute nicht gern gehört wird, dabei ist es doch gerade die Blutarmut und Weltferne der deutschen Literatur, die häufig beklagt wird. Man ist geneigt zu sagen: jetzt schaut doch mal, hier ist einer, der weiß, wovon er spricht! Warum aber hat sich Lorenzen für diese Schreibweise entschieden, was ist seine Motivation?
" Weil ich nichts anderes verstehe, das andere interessiert mich auch nicht. "
" Ich will einfach nur erzählen. Ich hab ja kein Anliegen. "
In Lorenzens Texten herrscht eine tiefe Skepsis. Die Wirklichkeit wird wiedergegeben, so wie sie ist, nicht wirklich schön, oft grausam und schlecht.
Heute, in einer Welt, die vornehmlich der Unterhaltung bedarf, in der kaum jemand mehr den Spiegel vorgehalten bekommen mag, kritische Töne entweder zu einer tonalen Unisono vorgeblicher politischer Korrektheiten verkommen sind oder andernfalls nicht erwünscht sind, wer soll in dieser Welt Lorenzens Bücher lesen?
" Da habe ich eigentlich keinen Einfluss darauf, was die Leute lesen sollen. Ich schreibe, was ich schreibe, was ich gerne schreibe, weil ich hoffe, dass der Verleger das an die Sortimenter bringt, und die Bücher gekauft werden. "
" Ich will sie unterhalten. Mit Erzählungen. Das sind ja alles unterhaltende Erzählungen, die Sie da vor sich haben. "
Auch in seinem Roman "Die Beutelschneider", ursprünglich 1962 erschienen, liefert die Arbeitswelt den Hintergrund der Ereignisse, es geht um eine kleine Werbefirma in den End50er, 60er Jahren, der Chef ist ein Betrüger, aber sonnt sich in seiner vermeintlichen Machtfülle. Anders als beim "Helden" ist die Darstellung hier nicht so betont zurückgenommen, sondern sie trieft geradezu vor Ironie, auch wenn der Stil weiter unspektakulär bleibt. Die Hauptfigur Bruno Sawatzki ist ein zutiefst zynischer Mensch, der alles, was geschieht, die ganze Verlogenheit, die Festgefahrenheit der sozialen Verhältnisse ebenso wie seine eigene Ohnmacht, fast amüsiert registriert. Er weiß von Beginn an, dass er, wenn sein Chef fällt, genauso fallen wird, bewirbt sich gerade rechtzeitig auf eine andere Stelle, obwohl er so die aufkeimende Liebe zu einer jungen Zeitungsredakteurin opfern muss. Doch diese Liebe ist ohnehin so un-, ja, antisentimental, wie nur irgend möglich: beide, Frau und Mann, geben sich keinerlei Illusionen hin. Sie wissen, sie sind nur Gestalten in einem Spiel, das die sozialen Verhältnisse mit ihnen treibt. Sie sind gefangen in ihren Rollenmodellen, und die Liebe steht hinten an - reinster literarischer Existenzialismus...!
Neben diesem kaltschnäuzigen Blick auf die frühen 60er Jahre, dieser Atmosphäre aus Muff und Aussichtslosigkeit, karikiert Lorenzen in der Figur des Dichters Bodo Redwanz den damaligen Literaturbetrieb gleich mit. Redwanz ist käuflich - wie jeder in dieser Geschichte. Es kommt für alle nur darauf an, ihr kleines Stück vom Kuchen abzuschneiden, so lange zumindest, wie es funktioniert. Lorenzens Blick gleicht dem eines Insektenforschers, nur fehlt ihm wohl dessen Leidenschaft.
Seine Schilderungen der Arbeitsrealitäten in den 30er, 50er, 60er Jahren werfen die Frage auf, ob sich denn die heutige Erwerbswelt qualitativ gewandelt hat?
" Technisch nur. Das sich die Geräte gewandelt haben, dass wir heute Computer haben, statt Schreibmaschine, und das Handy statt Telefonen. "
Die Machtverhältnisse dagegen sind - so Lorenzen - genau dieselben. Auch hier also die historische Unausweichlichkeit, der tiefe Geschichtspessimismus, bei dem man sich immer wieder fragt, ob Lorenzen nicht leider völlig Recht hat damit, dass alles letztlich unabänderlich, also sinnlos ist. Oder ob die Hoffnung bleibt, dass auch das Rettende wächst?! Die Beantwortung dieser Frage kann keine Rezension und auch kein Autor leisten, diese Antwort liefert nur die Geschichte selbst.
Ebenso wie die Beantwortung jener Frage, wer denn nun wirklich im Jahr 2050 den Kanon der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden wird - Böll? Wirklich Grass, Walser - oder doch eher: Lorenzen?
Dieses allen eingedenk, möchte ich an dieser Stelle dennoch - und ich schwöre: erstmalig in meiner Rezensentenlaufbahn sagen: Es gibt einen großen Autor zu entdecken, oder vielleicht besser: wieder zu entdecken. Denn Rudolf Lorenzen gab es immer, er veröffentlichte durchaus in renommierten Verlagen, wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt, aber die angemessene Aufmerksamkeit seitens des Betriebs wollte sich nicht einstellen. Ein Grund dafür mag sein, dass er ein Non-Konformist des Denkens und Schreibens ist, der keine Kompromisse macht. Als Lorenzen zu veröffentlichen begann, beherrschte die Gruppe 47 die Szenerie, zu ihr stand er nicht in den besten Verhältnissen:
" Nein. Was soll ich in einer Gruppe? Ich bin Einzelgänger und auch Einzelschreiber. Ich brauche keine Gruppe. Ich brauche keine Kritik von Kollegen. Ich bin immer Einzelgänger gewesen. Aus Überzeugung, ja. "
Was ist der Grund für diese so vehement bekundete Überzeugung?
" Ich hab ein anderes Thema, ich hab ein Thema aus der Arbeitswelt gehabt, und damals waren esoterische Themen ... über Schriftsteller, die nicht schreiben können. Wie Lettau. Die Kunst, Häuser zu bauen und so was Ähnliches. "
Lorenzen blickt nicht nur grundsätzlich auf eine bewegte Vergangenheit zurück, sondern auch, was das Schicksal seiner Bücher angeht. Einige seiner Werke waren über längere Zeit nicht mehr greifbar, was nicht nur aufgrund ihrer Qualität erstaunlich ist. Der Roman "Alles andere als ein Held" erschien etwa 1999 bei Schöffling & Co., verkaufte sich fünfstellig, stand auf der SWR-Bestenliste, wurde aber nicht mehr neu aufgelegt, was war der Grund?
" Eine Verlegerfrage. Die haben ein Taschenbuch rausgebracht, und wollten nicht mehr mit Hardcover das Taschenbuch stören. Obgleich da immer wieder Nachfragen des Sortimenter waren, wo bleibt das Buch. Aber die wollten's nicht mehr drucken. "
Nun hat sich der Verbrecher Verlag dieses Romans angenommen, und nicht nur seiner: Das kleine Unternehmen aus Berlin wird nun auch alle anderen Bücher Lorenzens verlegen. Im Jahr 2007 erschienen neben dem erwähnten Roman "Alles andere als ein Held" auch der Erzählband "Kein Soll mehr und kein Haben" sowie "Die Beutelschneider", ein Roman aus der Werbewelt der Fünfziger Jahre.
Lorenzens Themen sind eine Ausnahmeerscheinung im aktuellen literarischen Betrieb, eine Ausnahme aber, der wir bitter benötigen. Denn wie er selbst schon sagte, seine Romane spielen in der Welt der Arbeit, seine Figuren sind kleine Angestellte, Lehrlinge, die Realität der Firmen, in denen der Chef die Sonne ist, um die wie Trabanten seine Untergebenen kreisen. Besonders interessant, etwa beim Roman "Alles andere als ein Held" ist aber, dass Lorenzen diese Welt nicht nur für einen bestimmten "time slot" darstellt, sondern ein zeitgeschichtliches Panorama entwirft von der Nazizeit über die Kriegs- und Nachkriegszeit - alles aus der Alltagsperspektive des kaufmännischen Angestellten Robert Mohwinkel.
Wie kam es dazu, dass Lorenzen sich darauf verlegte, obwohl Ende der 50er Jahre, als er zu veröffentlichen begann, die Arbeitswelt alles andere als im Trend lag?
" Das ist meine Vergangenheit. Ich bin groß geworden im kaufmännischen Beruf. Ich habe Schiffsmakler gelernt in Bremen. Und das ist meine Welt gewesen. Ich kann ja unmöglich über einen Flugkapitän schreiben, das ist nicht meine Welt. Und auch nicht über einen Arbeiter, wenngleich ich ja in meinem Roman "Alles andere als ein Held" den Angestellten als Arbeiter verfrachte nach Marseille. Also ich versteh was davon auch von der Arbeitswelt am Hafen. "
Der Anti-Held des "Helden"-Romans Mohwinkel ist Zeit seines Lebens ein Außenseiter, bei den Nazis nicht etwa aus innerer Überzeugung, sondern weil er in der "Sport- und Kameradschaftswelt" der Hitlerjugend nicht ankommt, was letztlich auch dazu führt, dass er das Gymnasium vorzeitig verlassen muss. Er beginnt stattdessen zu arbeiten und schildert den gewöhnlichen Tagesablauf der kleinen Leute mit ihren einfachen Vergnügungen zwischen Kneipe und Tanzkurs. Die Gräuel der Naziherrschaft bleiben außen vor, der junge Mann ist so sehr mit der Strukturierung seines eigenen kleinen Kosmos, seiner "Manneswerdung" beschäftigt, dass er sie gar nicht wahrnimmt. Meines Erachtens ist Lorenzens Roman schon deshalb eine absolute Ausnahmeerscheinung, weil hier ohne Eifer, ohne Zorn das ganz "normale" Leben während der Schreckensherrschaft nachzeichnet - ein Leben, das es eben auch gegeben hat, gegeben haben muss, weil die Naziherrschaft in ihren Anfängen sonst nie so erfolgreich bei der Bevölkerung hätte sein können.
Jedoch, der Krieg bricht aus, und daher ereilt den jungen Schiffsmakler das Schicksal aller seiner Altersgenossen, er wird eingezogen. Als Funker in der Etappe eingesetzt, hat er die längste Zeit Glück, vor dem Allerschlimmsten verschont zu bleiben. Der Unsinn des Krieges schlägt sich für ihn mehr in der Desorganisation des Heeresbetriebs nieder, die den jungen Soldaten sinnlos von hier nach da und wieder zurück verschickt. Schließlich wird er doch in Kampfhandlungen miteinbezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft.
Die Schilderung des sibirischen Gefangenenlagers ist eine weitere, in dieser Art einzigartige Darstellung aus der Kriegszeit, die sich so in der Texten der Gruppe 47 nicht finden lässt. Ohne jeden Revanchismus erzählt Lorenzen von den überharten Bedingungen der Lager, beschreibt beinahe mitleidslos, wie sein Alter Ego Robert knapp dem Tod durch eine Lungenentzündung entrinnt, und damit mehr Glück hat als viele Andere um ihn herum. Just genesen, hat er erneut den Tod vor Augen, da er nunmehr in einem anderen Lager unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten muss. Doch wieder verlässt ihn das Glück nicht: er kommt im Rahmen einer Propagandamaßnahme der Sowjets frei und wird per Zug nach Hause transportiert.
Nach dem Krieg geht alles weiter bis vordem, Mohwinkel steigt in seiner alten Firma ein, ist wieder nur ein kleiner Angestellter. Dass die Bosse von einst trotz Naziverstrickung wieder leitende Positionen bekleiden, ist Lorenzen nicht einmal eine Randnotiz wert, es ist einfach eine schlichte Tatsache, in der sozialen und politischen Verfasstheit der Welt begründet. Ebenso wie jene Tatsache, dass Mohwinkel zwar einen gewissen Aufstieg schafft, dann aber ohne ersichtlichen Grund vom Chef fallen gelassen und nach Frankreich weggelobt wird, wo sein Schicksal in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale mündet.
Trotz der harten Erlebnisse ist Lorenzens Ton stets neutral, nüchtern, fast objektiv. Er bemüht sich nicht, Mitgefühl für seinen Helden zu erheischen oder Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern er gibt einfach wieder, was geschah.
Er erweist sich damit als ein realistischer Schriftsteller von hohen Graden - wieder so ein Begriff, der heute nicht gern gehört wird, dabei ist es doch gerade die Blutarmut und Weltferne der deutschen Literatur, die häufig beklagt wird. Man ist geneigt zu sagen: jetzt schaut doch mal, hier ist einer, der weiß, wovon er spricht! Warum aber hat sich Lorenzen für diese Schreibweise entschieden, was ist seine Motivation?
" Weil ich nichts anderes verstehe, das andere interessiert mich auch nicht. "
" Ich will einfach nur erzählen. Ich hab ja kein Anliegen. "
In Lorenzens Texten herrscht eine tiefe Skepsis. Die Wirklichkeit wird wiedergegeben, so wie sie ist, nicht wirklich schön, oft grausam und schlecht.
Heute, in einer Welt, die vornehmlich der Unterhaltung bedarf, in der kaum jemand mehr den Spiegel vorgehalten bekommen mag, kritische Töne entweder zu einer tonalen Unisono vorgeblicher politischer Korrektheiten verkommen sind oder andernfalls nicht erwünscht sind, wer soll in dieser Welt Lorenzens Bücher lesen?
" Da habe ich eigentlich keinen Einfluss darauf, was die Leute lesen sollen. Ich schreibe, was ich schreibe, was ich gerne schreibe, weil ich hoffe, dass der Verleger das an die Sortimenter bringt, und die Bücher gekauft werden. "
" Ich will sie unterhalten. Mit Erzählungen. Das sind ja alles unterhaltende Erzählungen, die Sie da vor sich haben. "
Auch in seinem Roman "Die Beutelschneider", ursprünglich 1962 erschienen, liefert die Arbeitswelt den Hintergrund der Ereignisse, es geht um eine kleine Werbefirma in den End50er, 60er Jahren, der Chef ist ein Betrüger, aber sonnt sich in seiner vermeintlichen Machtfülle. Anders als beim "Helden" ist die Darstellung hier nicht so betont zurückgenommen, sondern sie trieft geradezu vor Ironie, auch wenn der Stil weiter unspektakulär bleibt. Die Hauptfigur Bruno Sawatzki ist ein zutiefst zynischer Mensch, der alles, was geschieht, die ganze Verlogenheit, die Festgefahrenheit der sozialen Verhältnisse ebenso wie seine eigene Ohnmacht, fast amüsiert registriert. Er weiß von Beginn an, dass er, wenn sein Chef fällt, genauso fallen wird, bewirbt sich gerade rechtzeitig auf eine andere Stelle, obwohl er so die aufkeimende Liebe zu einer jungen Zeitungsredakteurin opfern muss. Doch diese Liebe ist ohnehin so un-, ja, antisentimental, wie nur irgend möglich: beide, Frau und Mann, geben sich keinerlei Illusionen hin. Sie wissen, sie sind nur Gestalten in einem Spiel, das die sozialen Verhältnisse mit ihnen treibt. Sie sind gefangen in ihren Rollenmodellen, und die Liebe steht hinten an - reinster literarischer Existenzialismus...!
Neben diesem kaltschnäuzigen Blick auf die frühen 60er Jahre, dieser Atmosphäre aus Muff und Aussichtslosigkeit, karikiert Lorenzen in der Figur des Dichters Bodo Redwanz den damaligen Literaturbetrieb gleich mit. Redwanz ist käuflich - wie jeder in dieser Geschichte. Es kommt für alle nur darauf an, ihr kleines Stück vom Kuchen abzuschneiden, so lange zumindest, wie es funktioniert. Lorenzens Blick gleicht dem eines Insektenforschers, nur fehlt ihm wohl dessen Leidenschaft.
Seine Schilderungen der Arbeitsrealitäten in den 30er, 50er, 60er Jahren werfen die Frage auf, ob sich denn die heutige Erwerbswelt qualitativ gewandelt hat?
" Technisch nur. Das sich die Geräte gewandelt haben, dass wir heute Computer haben, statt Schreibmaschine, und das Handy statt Telefonen. "
Die Machtverhältnisse dagegen sind - so Lorenzen - genau dieselben. Auch hier also die historische Unausweichlichkeit, der tiefe Geschichtspessimismus, bei dem man sich immer wieder fragt, ob Lorenzen nicht leider völlig Recht hat damit, dass alles letztlich unabänderlich, also sinnlos ist. Oder ob die Hoffnung bleibt, dass auch das Rettende wächst?! Die Beantwortung dieser Frage kann keine Rezension und auch kein Autor leisten, diese Antwort liefert nur die Geschichte selbst.
Ebenso wie die Beantwortung jener Frage, wer denn nun wirklich im Jahr 2050 den Kanon der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden wird - Böll? Wirklich Grass, Walser - oder doch eher: Lorenzen?
Bibliographie
Rudolf Lorenzen, Kein Soll mehr und kein Haben, Erzählungen, 257 Seiten, 13.00 Euro
Rudolf Lorenzen, Alles andere als ein Held, Roman, 600 Seiten, 28.00 Euro
Rudolf Lorenzen, Die Beutelschneider, Roman, 420 Seiten, 24.00 Euro
Alle: Verbrecher Verlag, Berlin.
Rudolf Lorenzen, Alles andere als ein Held, Roman, 600 Seiten, 28.00 Euro
Rudolf Lorenzen, Die Beutelschneider, Roman, 420 Seiten, 24.00 Euro
Alle: Verbrecher Verlag, Berlin.