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Rückbezug auf Lincoln

US-Präsident Obama hat im Wahlkampf Bilder mit vollem Körpereinsatz produziert. Dahinter steckt nicht einfach nur eine gute PR-Abteilung. Für den Rechtswissenschaftler Ulrich Haltern ist es ein fundamental anderes Verständnis des Politischen, das die USA von Europa unterscheidet.

Von Stefan Detjen | 25.01.2010
    So ein Buch aus der Feder eines deutschen Staatsrechtler hat man noch nicht in den Händen gehalten.

    Die ersten 25 von Ulrich Halterns gut 500 Seiten starker Studie über das Phänomen Barack Obama und sein Verständnis des Staates als politischem Körper sind ein Fotoalbum: Bilder des amerikanischen Präsidenten, wie man sie im letzten Jahr in Illustrierten und politischen Magazinen gesehen hat: Obama, Hände schüttelnd, umringt von Anhängern, sprechend vor das Bild füllenden Menschenmassen, Obama vor dem überlebensgroß, in weißem Marmor strahlenden Abbild Abraham Lincolns in Washington, Obama mit entblößtem Oberkörper in der Brandung am Strand von Hawaii.

    So wie der Popsong aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 illustrieren die Bilder am Beginn des Buches von Ulrich Haltern die zentrale These des Hannoveraner Verfassungsrechtlers: In der charismatischen Person Barack Obamas manifestiert sich ein Wesenskern des amerikanischen Staatsverständnisses, nämlich das Verschmelzen von Individuen zu einem großen Ganzen im staatlich verfassten Gemeinwesen.

    "Obama konzipiert den individuellen Körper als Teil des großen Körpers der politischen Gemeinschaft. Die mag uns aufgrund des Mystisch-Mythischen, das sich darum rankt, befremdlich erscheinen. Für Amerikaner ist es nicht befremdlich, sondern einsichtig. Sie folgen Obama ohne Weiteres – aber vielleicht folgt umgekehrt auch Obama einer amerikanischen Vorstellung und bringt sie durch seine Worte und durch seinen Körper plausibel zum Ausdruck. Vielleicht ist er der symbolische Punkt, an dem sich ohnehin vorhandene amerikanische Vorstellungen kreuzen."

    Ulrich Haltern zeichnet in seinem Buch nach, wie Obama seine Aneignung amerikanischer Tradition – insbesondere im historischen Rückbezug auf sein großes Vorbild Lincoln – nicht nur in Zitaten, sondern bis ins Physische hinein stilisiert. Zur Amtseinführung reiste Obama in einem historisch ausstaffierten Zug auf den Spuren Lincolns nach Washington, er legte den Amtseid auf der Bibel Lincolns ab und ließ sich am Abend das gleiche Essen servieren, wie 148 Jahre zuvor der 16. Präsident der Vereinigten Staaten.

    Vor diesem Hintergrund erscheint Obama nicht als großen Erneuerer der amerikanischen Politik, sondern als klassisch Wertkonservativer. Bush verriet die großen Freiheits- und Gemeinschaftsideale der Amerikaner. Obama führt die Nation an ihre Wurzeln zurück. Aus Ulrich Halterns Perspektive wird Obama zur Figur einer längst vergangenen historischen Epoche:

    "Überraschenderweise wendet sich Obama dem Bewahrungsmodell zu, das dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entstammt. Der Staat ist ein Organismus, der Volkssouverän steht im Zentrum; die Vergangenheit, der ehrfürchtig Referenz erwiesen wird, ist handlungsanleitend für die Gegenwart; die Bedeutung der Revolution, die in der Verfassung festgehalten ist, wird zum Kern politischer Entscheidung; die Verfassung leitete ihre Authentizität von den Opfern derjenigen ab, die für die Ideen der Revolution eingestanden sind; ihre Dienste für das Verfassungsprojekt sind Vorbild für die Dienste, die die heutige Generation leisten muss."

    Im Begriff des Opfers entdeckt Haltern den Schlüssel zur politischen Theologie Barack Obamas – der Tod als ultimative Form der physischen Hingabe des Einzelnen an das Gemeinwesen. In Obamas Inaugurationsrede vom 20. Januar vergangenen Jahres dechiffriert Haltern einen Opferkult, der für europäische Ohren vergiftet klingen muss: da wird das Bild vom blutgetränkten Schnee an den Ufern des Potomac im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nachgezeichnet, da streifen die amerikanischen Soldaten der Gegenwart durch entlegene Wüsten und Berge, da flüstern uns die toten Krieger auf dem Heldenfriedhof von Arlington Botschaften über die Jahrhunderte hinweg zu:

    "As we consider the road that unfolds before us, we remember with humble gratitude those brave Americans who, at this very hour, patrol far-off deserts and distant mountains. They have something to tell us, just as the fallen heroes who lie in Arlington whisper through the ages. We honour them not only because they are the guardians of our liberty, but because they embody the spirit of service; a willingness to find meaning in something greater than themselves. And yet, at this moment - a moment that will define a generation - it is precisely this spirit that must inhabit us all."

    Für uns Europäer – als Deutsche allemal – ist diese mystische, national überhöhte Verklärung des Opfertodes befremdlich und es mag manchen Leser des Buches von Ulrich Haltern verstören, dass sie den USA nicht allein von einem Kriegspräsidenten wie Bush propagiert wird, sonder auch Teil des wertkonservativen Traditionalismus Barack Obamas ist.

    In Deutschland haben Juristen wie der Kölner Staatsrechter Otto Depenheuer versucht, das nüchterne Staatsverständnis des Grundgesetzes mit dem Begriff eines Bürgeropfers aufzurüsten, um den Rechtsstaat gegen die neuen Bedrohungen des globalen Terrors wehrhaft zu machen. Das ist vollkommen zu Recht auf erbitterten, publizistischen Widerstand gestoßen. Auch Ulrich Haltern trauert dem politischen Opfer-Pathos des 20. Jahrhunderts keineswegs nach. Aber sein Blick auf Obama markiert eine Leerstelle in unserem historisch geläutertem Gemeinschaftsverständnis.

    In Deutschland, vielleicht auch in Europa denken wir häufig, es ist nur harte Arbeit. Wir besitzen keine Worte mehr für die Form des Opfers, und wo die Worte fehlen, geht bald auch jede Vorstellung verloren. Es scheint häufig, als sie uns der Widerpart zu Verantwortung und Arbeit abhanden gekommen.

    Obama wird damit aus deutscher Sicht zur Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem verlorenen Gemeinschaftsempfinden. Ulrich Haltern dies als Massenphänomen erlebt, als Obama im Juli 2008 seine Rede vor der Berliner Siegessäule hielt:

    "People of Berlin, People of the world - this is our moment, this is our time."

    Die deutsche Obamania erscheint am Ende von Ulrich Halterns erstaunlicher Studie als Ausdruck einer tiefen Wehmut:

    Aber es ist eine 'als ob', eine kurze Reise, in der wir Touristen der Geschichte und der Vorstellungswelten werden. Danach drehen wir uns um und hören Angela Merkels Kommentar in der Tagesschau. Die einzige Utopie, die an diesem Abend ganz und gar ausgeschlossen ist, ist diejenige, die ein junger Obama-Fan auf einem Plakat in Berlin mit sich herumtrug: 'Obama for Kanzler'. Barack Obamas Körper ist schon wieder woanders, als wir Angela Merkels Stimme als unsere eigene erkennen.

    Heute, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, mag man Obama schon wieder ganz anderswo wähnen: in den Niederungen der amerikanischen Innenpolitik, in den immer noch unlösbar wirkenden Verstrickungen der internationalen Konflikte.

    UIrich Halterns Buch hat dadurch nichts an seinem Erkenntnisreichtum verloren. Wer es liest, wird mit einen Schlüssel zum Verständnis amerikanischen Denkens und Empfindens belohnt, der weit über die Person des Präsidenten hinaus Perspektiven in Geschichte und Zukunft öffnet.

    Ulrich Haltern: Obamas politischer Körper, Berlin University Press, 580 Seiten, Euro 29,90 (ISBN 978-3-940432-76-6).