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Rückschlag statt Fortschritt?

Grausame Fälle von Kindesmisshandlung oder -tötung beschäftigen immer wieder die Öffentlichkeit. Dann bestimmt die Frage die Diskussion, ob dieses nicht hätte verhindert werden können. Ein neues Kinderschutzgesetz soll dabei helfen, Familien mit hohem Risiko aufzuspüren, bevor die Spirale der Vernachlässigung in Gang ist. Am kommenden Mittwoch befasst sich der Familienausschuss des Deutschen Bundestags mit dem Entwurf.

Von Dirk-Oliver Heckmann |
    "In Darry in Schleswig-Holstein hat die Polizei die Leichen von fünf Kindern gefunden. Wie die Behörden gestern Abend in Kiel mitteilten, steht die Mutter im Verdacht, die Jungen im Alter von drei bis neun Jahren getötet zu haben."

    "Eine junge Frau soll ihre Zwillingsbabys getötet haben, noch im Mutterleib, durch Schläge auf den Bauch. Erst nachdem sie wegen Unterleibsschmerzen in einer Klinik behandelt wurde, kam die ganze Tragödie ans Licht."

    "Nach dem Hungertod eines fünfjährigen Mädchens in Schwerin hat Bundeskanzlerin Merkel zu mehr Wachsamkeit aufgerufen. Regierungssprecher Steg sagte in Berlin, das Schicksal des Kindes zeige, wie aufmerksam die zuständigen Behörden sein müssten und wie wichtig es sei, dass Nachbarn auf Vernachlässigung hinwiesen."

    "Die Tat geschah vor zwei Jahren in einem nordhessischen Dorf. Eltern ließen ihre 14 Monate alte Tochter Jacqueline verhungern. Heute wurden die beiden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt."

    Nachrichten wie diese schockierten in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit, und die Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen. Weitere grausame Fälle: Die siebenjährige Jessica, die am 1. März 2005 in Hamburg verhungert aufgefunden wird.

    Nur wenige Monate später: In der brandenburgischen Ortschaft Brieskow-Finkenheerd werden die Leichen von neun Babys entdeckt, verscharrt in mit Blumenerde gefüllten Gefäßen.

    10. Oktober 2006: Polizeibeamte finden in Bremen die Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank seines Ziehvaters.

    Durchschnittlich 100 Kinder im Jahr kommen durch die Hände ihrer Eltern oder anderer naher Bezugspersonen ums Leben. Sie sterben durch Verwahrlosung, durch Vergewaltigung, durch Gewalt, Mord und Totschlag. In den letzten Jahren ist die Zahl der Opfer etwas gesunken - auch wenn die mediale Berichterstattung etwas anderes nahezulegen scheint. Die Statistik ist erschreckend genug: Weitaus höher allerdings ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die dauerhaft Opfer von Misshandlungen werden, ohne dass diese einen tödlichen Ausgang nehmen. So unterschiedlich die Fälle auch sein mögen - eines ist ihnen gemein: Nachbarn, Verwandte, Bekannte wollen im Vorfeld nichts von den Zuständen erfahren haben - oder ihre Hinweise wurden in den Wind geschlagen; Jugendämter haben falsch reagiert, Informationen wurden nicht weitergegeben, gingen unter im Dickicht der Stellen, die für den Kinderschutz zuständig sind.

    Oft werden die Fälle erst bekannt, wenn es zu spät ist. Diesen Zustand zu beenden, hatten die beiden Kinderschutz-Gipfel zum Ziel, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Hungertod der fünfjährigen Lea-Sophie in Schwerin eingeladen hatte.

    Konkrete Folge: Eine Reihe von Modell-Projekten in allen 16 Bundesländern, mit deren Hilfe Erfahrungen gesammelt werden sollen, wie man Familien mit hohem Risiko aufspürt, bevor die Spirale der Gewalt und der Vernachlässigung in Gang ist und: Ein neues Kinderschutzgesetz. Am kommenden Mittwoch befasst sich der Familienausschuss des Deutschen Bundestags mit dem Entwurf von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. Geht es nach ihr, soll das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.

    Wesentliche Inhalte des Gesetzespakets: Das Berufsgeheimnis etwa von Ärztinnen und Ärzten wird gelockert. Sie werden nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, das Jugendamt einzuschalten, wenn sie Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls haben und ein Gespräch mit den Eltern nichts bewirkt. Auf diese Weise soll die bisher noch weit verbreitete Rechtsunsicherheit beispielsweise unter Kinderärzten beseitigt werden.

    Zweitens: Auch Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Ärzte - alle Personen, die mit der Ausbildung, Erziehung und Betreuung von Kindern zu tun haben - werden dazu verpflichtet, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, wenn sie Hinweise darauf haben, dass das Wohl eines Kindes oder eines Jugendlichen durch Gewalt oder Vernachlässigung gefährdet ist. Und sollte dieses Gespräch nichts erbringen, werden auch sie berechtigt, das Jugendamt einzuschalten. Personen, die sich im kinder- und jugendnahen Bereich auf einen Job bewerben - als Bademeister, Erzieher oder Trainer im Sportverein etwa - müssen in Zukunft ein sogenanntes "erweitertes Führungszeugnis" vorlegen, das auch Verurteilungen zu geringen Strafen aufführen würde, wenn sie wegen pädophiler Delikte verhängt wurden.

    Und: Das zuständige Jugendamt muss die entsprechende Behörde darüber informieren, wenn eine als Problemfall bekannte Familie in eine andere Stadt oder Gemeinde umzieht. Dabei sollen nicht nur die Akten weitergereicht werden, sondern es soll zwingend ein Übergabegespräch stattfinden. Das soll verhindern, dass eine gefährdete Familie bei einem Umzug sozusagen "vom Radar" des Jugendamts verschwindet. Als vielleicht wichtigste Einzelmaßnahme regelt das Gesetz, dass sich ein Mitarbeiter des Jugendamts ein persönliches Bild von einem Kind und seinem Zuhause zu machen hat, wenn er den Verdacht auf Vernachlässigung oder Misshandlung hegt.

    "Das mag sich einfach anhören, aber das ist bisher nicht eine Selbstverständlichkeit gewesen."

    Ursula von der Leyen, CDU, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

    "Wir haben bei der Rückschau, bei der Analyse der Fehler, die geschehen sind, gesehen, dass zu häufig über ein Kind, wo Verdacht auf Misshandlung und Verwahrlosung herrschte, nur nach Aktenlage entschieden wurde bzw. durch Berichte Dritter - Eltern, Großeltern - die sagten: "Es geht dem Kind gut"; und so über Monate das Kind nicht angeschaut worden ist."

    Doch was zunächst gut gemeint klingt, lässt bei Praktikern die Alarmglocken schrillen.

    Das Kinderschutzzentrum im Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg. Eine Handvoll Mütter erscheint hier regelmäßig, um sich Informationen zu holen über den richtigen Umgang mit Kindern; um über Probleme zu sprechen, die mit Überforderung zu tun haben - ein sogenanntes niedrigschwelliges Angebot. Für schwierigere Fälle bietet die Einrichtung Familientherapie, Therapien für Kinder und Jugendliche mit Gewalterfahrung, sie betreibt Jugendwohngruppen und ein Notruf-Telefon. Teils melden sich Mütter, Väter oder Kinder aus eigenen Stücken, ermutigt von Kinderärzten oder Erziehern, teils wird von den Behörden entsprechender Druck aufgebaut.

    Hier, im Kinderschutzzentrum, kennt man sich aus mit den Berührungsängsten der Betroffenen. Wie sieht man hier die Verpflichtung zum Hausbesuch?

    "Hört sich vernünftig an, ist auch in 95 Prozent der Fälle vernünftig."

    Georg Kohaupt, Leiter des Kinderschutzzentrums Berlin, ehrenamtlicher Co-Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinderschutzzentren.

    "Es gibt aber fünf Prozent der Fälle, wo ein solcher Hausbesuch, der - wenn das Jugendamt unangemeldet vor der Tür steht - andere Zugangswege zur Familie versperrt: Wenn man also eine Meldung bekommt, hat man immer eine doppelte Aufgabe. Man muss einschätzen: Was ist da los? Und man muss in Kontakt kommen. Das heißt, man muss irgendwie einen Kontakt zu den Eltern herstellen, um mit ihnen darüber zu reden: Was soll jetzt passieren? Was wollen wir jetzt machen? Wie seht ihr das? Und manchmal kann ein Hausbesuch diesen Kontakt verunmöglichen, sondern es müssen andere Wege gesucht werden. Insofern ist die Regelhaftigkeit dieser Vorschrift nicht gut für den Kinderschutz."

    "Ich sehe das Gesetz insgesamt skeptisch."

    Rainer Zeddies, kommissarischer Leiter des Jugendamts Berlin-Lichtenberg, als Psychologe selbst seit Jahren im Kinderschutz an der Basis tätig. Er lässt keinen Zweifel an seiner Bereitschaft, notfalls hart durchzugreifen. Und dennoch:

    "Es ist gar keine Frage, dass ein richtiger Wille und ein richtiges Ziel dahintersteht, nämlich solche Kinderschutz-Katastrophen zu vermeiden. Aber das Gesetz ist ganz deutlich - und auch nach Aussage der Ministerin - von seinem Ende her, von der Spitze des Eisbergs her gestrickt, nämlich von den Katastrophen her. Und ich finde, es schaut zu wenig auf alles, was unter der Oberfläche ist, nämlich die große, große Zahl von Familien, die einen sozialpädagogischen, einen freundlichen, stärkenden Zugang braucht, damit ihnen geholfen werden kann. Dieses Gesetz schaut fast ausschließlich auf die Familien, wo nur noch Zwang, Kontrolle und Druck hilft, um die letzte Katastrophe zu vermeiden. Wir brauchen aber unbedingt beides."

    Eine Kritik, die Ursula von der Leyen nicht gelten lässt. Der Hausbesuch werde mit dem neuen Gesetz nicht zur Pflicht - auf diesen Unterschied legt die Bundesfamilienministerin Wert -, sondern eine "Regelverpflichtung".

    "Wir haben Fälle gehabt, wo fünfjährige Kinder unter den Augen des Jugendamts verhungert sind über Monate. Aus diesen Erfahrungen heraus ist es eine Regelverpflichtung, das Kind anzuschauen, auch sein häusliches Umfeld. Wenn ich sage: Zwei Drittel der Kinder, die getötet werden, sind jünger als ein Jahr, dann ist natürlich entscheidend: Wie lebt der Säugling, der außerhalb des Hauses nicht selbstverständlich gesehen wird? Aber, und das stelle ich ganz deutlich klar: Es gibt Ausnahmen, wo ein Hausbesuch gegebenenfalls die Situation zum Eskalieren bringen kann. Das ist zum Beispiel der Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Und deshalb ist nicht die Verpflichtung zum Hausbesuch im Gesetz festgehalten, sondern die Regelverpflichtung, das heißt, in der Regel muss der Hausbesuch da sein, aber bei begründeten Ausnahmen kann das Jugendamt selbstverständlich vom Hausbesuch absehen."

    Jugendamtsleiter Rainer Zeddies beruhigt das nicht.

    "Wir stellen uns mal vor - und so etwas kommt ja in der Tat häufig vor -, dass wir eine Familie haben mit mehreren kleinen Kindern, und dass eine Kita uns sagt: 'Na, die Dreijährige, die wir hier in der Kita haben, die sehen wir jeden Tag, wir sehen auch die Mutter, aber wir glauben, es geht denen da nicht gut'. Dann sind wir hier im Jugendamt, in der Frage jetzt eine Entscheidung zu treffen, welcher Schritt ist angemessen? Und dann ist es hier die Regel, dass mindestens zwei oder drei Kollegen sich schnell zusammentun und sagen: 'Was tun wir jetzt in diesem Fall? Kennen wir jemanden, den wir anrufen können? Ist zum Beispiel das Gesundheitsamt sowieso vor Ort? Müssen wir selber losziehen?' Es gibt ja auch Fälle, da muss man sofort die Polizei rufen! Das wäre hier sicherlich nicht der Fall. Also, was tun wir jetzt? Und in dieser Entscheidung könnte es sein, dass - wenn das so im Gesetz steht - dass man sich quasi rechtfertigen muss, wenn man nicht den persönlichen Hausbesuch gemacht hat, dass man dann vorschnell loslegt und sagt: 'Hier haben wir eine Kinderschutzmeldung! Wir müssen jetzt mal kontrollieren', und dass dann innerlich die Bereitschaft der Familie - in diesem Fall der alleinerziehenden Mutter -, Hilfe anzunehmen, auch leiden kann, als wenn man sagen würde, wir versuchen erst mal über die Kita-Leiterin zu sagen: 'Wenn die morgen kommt, sprechen Sie doch noch mal mit ihr, oder wir kommen hinzu morgen und sprechen mal zusammen mit ihr.' Also, das ganze Instrumentarium zur Verfügung zu haben, das in diesen Fällen helfen könnte. Im Moment treffen wir in jedem dieser Fälle eine Einzelfallentscheidung. Welches ist der richtige Weg? Das ist auch ein Risiko auf unserer Seite - gar keine Frage -, aber es ist eben auch immer die Balance, zwischen Kontrolle und Hilfe das richtige Maß zu finden."

    Bei aller grundsätzlichen Zustimmung: Auch bei den kommunalen Spitzenverbänden, bei denen viele Fäden zusammenführen, ist die Skepsis nicht zu überhören - zumindest was den umstrittenen Punkt des Hausbesuchs angeht. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes:

    "Manches Problem bleibt ja nach wie vor ungelöst: Die Frage, wenn der Hausbesuch verweigert wird, können Sie mit der Polizei das zwangsweise durchführen? Wollen Sie das? Nützt das dem Kindeswohl? Es ist ein sehr kompliziertes System. Und ob das so viel weiterführt, das wird man in der Praxis abwarten müssen!"

    "Ich glaube, der Kompromiss, der jetzt im Gesetzentwurf drinsteht, der ist ein guter Mittelweg. Damit können die Jugendämter leben und sollten sie auch leben."

    Prof. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und ehemaliger Landes-Justizminister, SPD.

    "Das Problem ist eher ein finanzielles. Diese Hausbesuche machen enorm viel Arbeit. Und die Personalausstattung der Jugendämter ist oft nicht so ... Sie sollen lieber froh sein, dass der Gesetzgeber ihnen jetzt ein Druckmittel an die Hand gibt, an ihre Kommunalparlamente heranzutreten und zu sagen: 'Durch das neue Gesetz von Frau von der Leyen, das wir im Kern begrüßen, brauchen wir mehr Personal!' Und dann haben sie auch recht!"

    Pfeiffer sieht Gefahr von einer ganz anderen Seite heraufziehen. Das neue Kinderschutzgesetz nämlich sieht vor - so seine Kritik - dass etwa ein Lehrer oder Trainer im Sportverein als erstes die Eltern zu informieren hat, wenn er nach Hinweisen auf eine Misshandlung mit dem betroffenen Kind gesprochen hat. Im konkreten Fall etwa den schlagenden Vater.

    "Das kann doch nicht wahr sein! Zwar gibt es da eine Einschränkung, die dann heißt: ' ... soweit dadurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.' Aber erst einmal wird als Regelfall die Pflicht aufgestellt, dass die Eltern informiert werden müssen. Das halte ich für falsch!"

    Nicht nur betroffene Kinder und Jungendliche werden sich in Zukunft noch stärker überlegen, ob sie um Hilfe bitten, befürchtet der Kriminologe. Auch die Bereitschaft eines Lehrers werde abnehmen, einen Schüler anzusprechen, an dem er etwa regelmäßig blaue Flecken feststellt.

    "Nun ja, der wird dann gar nichts tun. Wenn er die Eltern informieren muss, da fragt er sich: Was passiert eigentlich, wenn ich dieser Pflicht nicht nachkomme? Dann guckt er eher weg. Also, da ist etwas am Behördenschreibtisch entstanden, was mit der Lebenswirklichkeit von geprügelten Kindern zu wenig zu tun hat. Kinder müssen wissen, dass sie sich Hilfe holen können, ohne dass der Helfer gleich zum Hörer greifen muss und den Vater oder die Mutter informiert. Erst wenn die wissen: Ich bin Subjekt, und ich kann mir Hilfe holen, und ich habe ein Recht, mit diesem Helfer - Kinderschutzbund beispielsweise - erst einmal intensiv zu sprechen, stimmt das Gesetz. So werden die Kinder nur Objekte, aber nicht Subjekte ihres Grundrechtes auf gewaltfreie Erziehung."

    Ähnliches gilt aus Sicht der Skeptiker auch für die Rolle von Ärztinnen und Ärzten. Auch sie sollen per Gesetz verbindlich zum Handeln gebracht werden - mit möglicherweise fatalen Folgen.

    "Viele Menschen sehen die Ärzte als die letzte vertrauensvolle Instanz."

    Ekin Deligöz, Bündnis90/Die Grünen, Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestags. Wenn man Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch aufdecken und Opfer aktiv schützen möchte, davon ist Deligöz überzeugt, müsse man Stellen schaffen, die Vertrauen bilden - und nicht das Gegenteil.

    "In Deutschland sagen wir: 70 bis 80 Prozent der Fälle finden innerhalb der Familie statt. Das heißt, die Vertrauensperson - der Vater, der Bruder, der Onkel, der vertraute Nachbar - sind die Täter. Und es ist nicht gar so einfach für ein Opfer, für ein Kind, den eigenen Vater zu verklagen und zu sagen: 'Das ist aber ungerecht oder unfair oder gar nicht erlaubt!' Kinder sind noch nicht so weit. Deshalb brauchen wir Vertrauensebenen, und da gehören nun mal Ärzte dazu, und an dieser Patienten-Vertrauensbasis sollten wir auch gar keinen Zweifel lassen, weil das wird im Zweifelsfall dazu führen, dass man sich überhaupt nirgendwo mehr hinwendet!"

    Nicht nur ein Großteil der Einrichtungen, die mit Kinderschutz zu tun haben, nicht nur die Opposition läuft Sturm gegen die Pläne von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. Auch die Sozialdemokraten gehen auf Distanz.

    "Die Mehrzahl der Kinderschutz-Expertinnen und Experten kritisiert diesen Gesetzentwurf, und da dürfen wir doch nicht abtauchen und weghören!"

    Caren Marks, Obfrau der SPD-Fraktion im Familienausschuss, bei der ersten Lesung des Kinderschutz-Gesetzes im Deutschen Bundestag.

    "Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe sagt: 'Die vorgeschlagenen Neuregelungen bleiben in ihren Formulierungen vielfach unpräzise und werden den fachlichen Herausforderungen im Kinderschutz nicht gerecht.' Der Deutsche Verein für Öffentliche und Private Fürsorge sagt: 'Der Gesetzentwurf geht an den tatsächlichen Erfordernissen eines effektiven Kinderschutzes vorbei.' Auch das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht und der Deutsche Kinderschutzbund warnen vor problematischen Folgen. Diese geballte Kritik der Fachleute nehmen wir in der SPD-Fraktion wirklich sehr ernst."

    Und deshalb werde man den Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren auf Herz und Nieren prüfen - und die besonders kritischen Passagen zu stoppen versuchen. Besteht also die Gefahr, dass das Kinderschutzgesetz am Ende mehr schadet als nutzt, wenn es so bliebe wie geplant?

    "Zumindest ist es nicht auszuschließen, dass das, was gut gemeint, am Ende vielleicht in die falsche Richtung geht."

    Malu Dreyer, SPD, Sozialministerin von Rheinland-Pfalz. Es wäre ein regelrechtes Risiko für gefährdete Kinder, meint sie, wenn Lehrer oder Ärzte, die dazu gar nicht ausgebildet seien, dazu verpflichtet würden, das Gespräch mit überforderten oder schlagenden Eltern führen zu müssen. Und: durch massenhafte Meldungen - aus Angst, selbst in Schwierigkeiten zu kommen - würden die Jugendämter in ihrer Arbeit eher behindert, meint sie. Das Gesetz ziele zu stark in Richtung Restriktion und versäume es, Erfahrungen aus den Ländern aufzugreifen.

    "Wir haben Modellprojekte, zum Beispiel 'Der gute Start ins Kinderleben'. Das funktioniert nach dem Prinzip, dass bereits in der Geburtshilfe Risiko-Familien identifiziert werden und die von Anfang an auch Unterstützung erhalten. Die Projekte laufen in allen Ländern, wo sie durchgeführt werden, hervorragend. Wir haben da ganz klaren Handlungsbedarf, um diese Projekte flächendeckend in unser Land zu bringen. Und das müsste dieses Kinderschutzgesetz eigentlich aufgreifen, um sinnvoll tatsächlich etwas zu tun für den Kinderschutz."

    Wenn Familienministerin von der Leyen nicht bereit sei, an den maßgeblichen Stellen Änderungen vorzunehmen, wäre es besser, das ganze Projekt auf die nächste Legislaturperiode zu verschieben, meint Dreyer.

    "Denn die Fortschritte in diesem Gesetz sind nicht so durchgreifend, als dass wir nicht auch ohne leben könnten zur Zeit, zumal in vielen Landeskinderschutzgesetzen wesentliche Dinge schon geregelt worden sind. Man sollte sich dann eher die Zeit nehmen und noch mal einen neuen Start machen. Ich fände es aber trotzdem sehr schade, denn dieses Gesetz gibt auch die Möglichkeit - aufgrund der vielen fachlichen positiven Stellungnahmen, was an Änderungen aufzunehmen ist - tatsächlich etwas Gutes zu bewegen, und das könnte man durchaus in dieser Legislaturperiode auch noch machen."

    Eine Verschiebung des Gesetzes auf die nächste Legislaturperiode? Für die CDU-Bundestagsabgeordnete Michaela Noll wäre das eine fatale Entscheidung. In der Bundestags-Debatte weist sie darauf hin, dass das Leben von Kindern möglicherweise hätte gerettet werden können:

    "Das Kriminologische Institut in Niedersachsen hat festgestellt, dass bei 200 Kindstötungen eindeutige Hinweise darauf sind, dass das Jugendamt die Kinder nicht angeschaut hat. Und das gilt auch gerade für Lea-Sophie. Bei dem Termin im Jugendamt sind die Eltern zwar hingegangen, aber nicht mit Lea-Sophie, sondern mit dem neugeborenen Bruder. Und das Jugendamt hat Lea-Sophie nie gesehen. Und ich glaube, wenn es wirklich einen Hausbesuch gegeben hätte, wenn wirklich Lea-Sophie sichtbar geworden wäre, hätte man das Kind vielleicht retten können. Denn ein fünfjähriges Kind verhungert nicht in 24 Stunden. Das ist ein langsamer Prozess. Und deswegen glaube ich, dass dieser Ansatz, zu sagen: 'In der Regel uns die Kinder anzugucken' - es gibt Ausnahmesituationen, die auch genauso geregelt sind, wenn zum Beispiel eine Gefährdung ist, sexuelle Gewalt im Haushalt stattfindet, dann sagen wir Nein, dann gibt es keinen Hausbesuch - aber die Regel muss sein: Schauen wir uns bitte die Kinder an!"

    Ob das geplante Kinderschutzgesetz in dieser Legislaturperiode noch kommt oder nicht - eines steht jetzt schon fest: Der nächste Fall grausamer Kindesmisshandlung oder -tötung wird schon bald die Öffentlichkeit beschäftigen. Und auch dann wird die Frage die Diskussion bestimmen, ob dieser nicht hätte verhindert werden können.