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Rückwärts leben

Wenn die anderen altern, wird Benjamin Button jünger. Dem Helden in David Finchers neuem Film geht es ähnlich wie den ewig lebenden filmischen Kunstfiguren. Aus der falschen Richtung kommend berühren sie das Leben der anderen nur kurz: Sie sind verdammt zur Einsamkeit. Es spricht für Hollywood, dass derart existentielle Fragen Eingang ins Mainstreamkino finden können.

Von Josef Schnelle |
    Sollten Sie jemals der Meinung gewesen sein, dass es am Schönsten wäre, die erste Liebe mit der Erfahrung eines ganzen Lebens zu genießen, so wird Sie dieser Film schnell eines Besseren belehren. Der Augenblick geht schnell vorbei, bedeutet wenig und hinterlässt garantiert eine gewisse Melancholie, egal aus welcher Lebensrichtung man sich ihm annähert. Es ist auch gleichgültig, ob man die Liebe seines Lebens als alten Mann durch den Park führt, oder sie als Baby in den Armen hält.

    Diese ganze Verwirrung entsteht durch ein Gedankenexperiment, das F. Scott Fitzgerald 1921 in einer eher weniger beachteten Kurzgeschichte unternahm. In dieser Geschichte wird das Leben eines Mannes beschrieben, der als Greis geboren und im Laufe seines Lebens immer jünger werden wird, bis er als brabbelndes Baby von dieser Erde wieder verschwindet.

    Benjamin Button heißt die Figur, und Drehbuchautor Eric Roth hat daraus ein großes Hollywoodmelodram zu machen versucht. Man muss ihn vor dem Regisseur David Fincher, den Darstellern Brad Pitt und Cate Winslet und auch vor den Make-Up-Künstlern nennen, weil er schon einmal eine kuriose, zeitgeschichtlich bedeutsame Filmfigur erfunden hat: "Forrest Gump", den naiven Narren, dessen Erlebnisse so besonders gut das Leben und die Zeiten des Abstiegs Amerikas als Supermacht spiegelten.

    So ein Stoff ist auch "Der seltsame Fall des Benjamin Button", der ein Leben - buchstäblich - gegen den Strom der Zeit von 1918 bis zum Hurrikan Katrina 2005 beschreibt. Der Säugling mit dem Gesicht eines alten Mannes befindet sich von Anfang an im Streit mit sich selbst und wird bis auf ein paar kurze Episoden des Glücks stets ein Monstrum bleiben. Kindergeflüster verrät die Wahrheit.

    "Ich bin nicht so alt wie ich aussehe."
    "Hatte ich mir gedacht. Du kommst mir auch nicht vor wie ein alter Mensch. Nicht so wie meine Großmutter."

    Benjamin Button ist eine einsame Seele, mit nichts und niemandem vergleichbar und auch sicher ausgeschlossen vom großen dauerhaften Glück. Aus der falschen Richtung kommend - stets jünger werdend, wenn die anderen altern - berührt er das Leben der anderen nur kurz, bevor er wieder seinen Sonderweg "Zurück in die Zukunft" weiter gehen muss. Darin ähnelt er filmischen Kunstfiguren wie dem immer wieder geborenen "Highlander" aus der Erfolgsfilmserie und den ewig lebenden Wanderern durch die Zeiten, den Vampiren und Unsterblichen dank Zaubertrank.

    In der deutschen und englischen Schauerromantik wie auch in der Oper "Die Sache Makropoulos" von Leos Janacek ist dieser Titanen-Sonderweg stets vergiftet, denn er verurteilt zur Einsamkeit. Dem ewig Lebenden sterben die Partner ebenso weg, wie dem stets jünger Werdenden.

    So ergeht es natürlich auch Benjamin Button, und es spricht für das Hollywoodsystem, dass derart existentielle Fragen überhaupt Eingang in einen Film des Mainstreamkinos finden können. Ausgerechnet Superstar Brad Pitt stellt sich diesem kuriosen Ritt durch ein Leben, und weiß schon, dass die schöne Zeit der Liebe für ihn nur eine rasch vorbei gegangene Durchgangsstation ist.

    "Ich hab nachgerechnet. Du bist 1918 geboren vor 49 Jahren. Ich bin 43. Dann sind wir fast im selben Alter. Wir treffen uns also in der Mitte."
    "Dann haben wir uns endlich mal eingeholt. Warte, ich will mich an uns erinnern wie wir jetzt sind."

    Seine große Liebe hatte er schon im Altenheim kennen gelernt, wo er seine Zeit als altes Baby verbringt. Da war sie als Kind zu Besuch. Jetzt muss er warten bis auch sie einander treffen. Die schöne Daisy, eine Tänzerin, wird von Kate Winslet gespielt, der man anspürt, dass es gar nicht leicht ist, diesem krausen Gedankenexperiment zu folgen.

    Visuell ist der ehemalige Special-Effect Zeichner David Fincher - der mit "Seven" zu gruseln wusste, mit "Fight Club" verstörte und in "Panic Room" die Schattenseiten des Sicherheitswahns aufzeigte - auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Er sucht immer wieder nach besonders magischen Bildern für die anspruchsvolle Story des Films, muss sich aber in rekordverdächtigen 166 Minuten auch auf dramaturgische Ungereimtheiten einlassen und diverse Verkehrsstaus auf den Highways der Zeitreise überstehen.

    "Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, gelebt wird aber vorwärts." So hatte der Existenzphilosoph Sören Kierkegaard das Dilemma formuliert, das hier verhandelt wird. Wenn man aber rückwärts lebt, wie kann man lernen, wie verstehen? Philosophie aus Hollywood mit Superstars und Millionenbudget ist ein seltenes Gut. Aber wie man sieht, geht es doch.