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Rückzug ins Leben

Bis heute liest man Thoreaus "Walden oder Leben in den Wäldern" ebenso wie "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", als seien die Texte soeben erst erschienen. Man ist gebannt von diesem Denken, das sich nicht als Expertise tarnt und wichtig macht, sondern verblüfft, bis heute, mit der Wucht seiner Schlichtheit.

Von Walter van Rossum | 06.05.2012
    Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau in einer zeitgenössischen Aufnahme
    Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau in einer zeitgenössischen Aufnahme (picture alliance / dpa)
    "Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht leben konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ging, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde."
    Henry David Thoreau war 28 Jahre alt, als er im Jahre 1845 beschloss, eine kleine Hütte an einem See zu bauen, um sich dort für eine Weile dem Tumult der Zivilisation zu entziehen. Der See hieß Walden, und so hieß auch das Buch, das er später darüber schrieb: "Walden; or, Life in the Woods" - "Walden oder Das Leben in den Wäldern". Es ist eines der berühmtesten und der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur geworden.

    "Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren; und wenn es sich gemein erwiese, dann wollte ich seiner ganzen unverfälschten Niedrigkeit auf den Grund kommen und sie der Welt verkünden. War es aber erhaben, so wollte ich dies durch eigene Erfahrung erkennen und imstande sein, bei meinem nächsten Ausflug Rechenschaft darüber abzulegen. Denn die meisten Menschen scheinen mir in einer sonderbaren Ungewissheit darüber zu leben, ob es vom Teufel oder von Gott ist, und so haben sie einigermaßen übereilt geschlossen, dass der Hauptzweck des Menschen hier auf Erden sei, 'Gott in Ewigkeit zu loben und zu preisen'."

    Walden, der See, lag ungefähr zwei Meilen von Concorde entfernt, einer Stadt in Massachusetts, unweit von Boston und unweit von Harvard, wo Henry David Thoreau auch studiert hatte. In Concorde wurde Thoreau 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten geboren. Nach seinem Studium arbeitete er für kurze Zeit als Lehrer. Da er sich weigerte, seine Schüler zu prügeln, überwarf er sich mit der Schulleitung und quittierte den Dienst. Mit seinem Bruder betrieb er einige Jahre lang eine Privatschule, doch als der Bruder starb, musste die Schule geschlossen werden. Kurz darauf lernte Thoreau Ralph Waldo Emerson kennen, der – 14 Jahre älter – bereits ein berühmter Denker war. Durch ihn und seinen Kreis wurde Concorde in jenen Jahren eine Art intellektuelles Zentrum der Vereinigten Staaten. Dort lebten auch die Romanautoren Nathaniel Hawthorne, Bronson Alcott und ihre Tochter Louisa May. Und wenn man so will, dann ging es diesen später so berühmten Schriftstellern und Philosophen darum, einen "american way of thinking life" zu finden.

    Es war die Zeit, die man später die "crazy forties" nannte, die verrückten Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Neuengland, über die Ralph Waldo Emerson sagte:

    "Keiner, der lesen und schreiben kann, und nicht den Entwurf einer neuen Gesellschaft in der Brusttasche trüge."

    Emersons erstes Buch trägt den Titel Nature – eine Sammlung von Essays, die um den Gedanken kreisen, dass die westliche Zivilisation und ihre materialistische Einstellung den besten Teil des Menschen vernachlässigt. Die Idee, dass jeder sich selbst erforschen und prüfen muss und sich nach den Anweisungen seines Gewissens richten sollte, wurde zur Gebrauchsanweisung für Thoreaus Rückzugsexperiment.

    "Noch immer leben wir niedrig wie die Ameisen, obgleich die Sage erzählt, wir seien schon vor langer Zeit in Menschen verwandelt worden. Wie Pygmäen kämpfen wir mit Kranichen; Irrtum häuft sich auf Irrtum und Flickwerk auf Flickwerk, und unsere besten Kräfte verwenden wir zu überflüssigen, vermeidbaren Jämmerlichkeiten. Unser Leben zersplittert sich in Kleinigkeiten. Ein Ehrenmann hat kaum nötig, mehr als seine zehn Finger abzuzählen; in außergewöhnlichen Fällen kann er ja seine zehn Zehen – und den Rest in Bausch und Bogen – hinzunehmen. Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Lass deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend, statt eine Million zu zählen, zähle ein halbes Dutzend und führe Buch auf deinem Daumennagel! Über dieser brandenden See des zivilisierten Lebens gibt es so viele Klippen und tausend andere Dinge, denen Rechnung getragen werden muss, dass der Mensch, wenn er nicht Schiffbruch leiden, versinken und nie den Hafen erreichen will, schnell seinen Überschlag zu machen imstande sein muss. Und der, dem es gelingt, muss einfach ein großer Rechenmeister sein. Vereinfache, vereinfache! Statt drei Mahlzeiten nimm, wenn es nötig ist, nur eine ein, statt hundert Gerichten iss fünf und reduziere das übrige im Verhältnis. ( ... ) Es wird zu schnell gelebt. Man glaubt, es sei zweifellos notwendig, dass die Nation Handel treibe, Eis exportiere, dass man durch den Telegraphen sprechen und dreißig Meilen in der Stunde fahren könne, ob man es nun tut oder nicht. Ob wir aber wie Paviane oder wie Menschen leben sollen, ist nicht ganz so sicher. Wenn wir aber, anstatt Schwellen herbeizuschaffen und Schienen zu schmieden und Tag und Nacht an die Arbeit zu wenden, an unserem Leben herumhämmern, um dieses zu verbessern, wer wird dann Eisenbahnen bauen? Und wenn keine Eisenbahnen gebaut werden, wie sollen wir zur rechten Zeit in den Himmel kommen? Bleiben wir aber zu Hause und kehren wir vor der eigenen Tür, wer braucht dann Eisenbahnen? Wir fahren nicht auf der Eisenbahn, sondern sie fährt auf uns."

    Thoreau war ein Aussteiger. Aber er war er ein Aussteiger auf Zeit, der eine Wahrheit bei sich suchte, um besser einsteigen zu können.
    Anfang des 19. Jahrhunderts zerrt ein unheimliches Wesen am Nervenkostüm der Menschen: die Moderne. Zu den Grundsätzen der Moderne gehört: Selbstverantwortung. Doch leider hat die Moderne den Menschen nie beigebracht, wie Selbstverantwortung denn funktioniert – jenseits der Sonntagsreden. Ja noch schlimmer: Die Moderne hat nie geklärt, ob Selbstverantwortung überhaupt funktionieren kann und woraus das Selbst denn überhaupt besteht. Deshalb geht Thoreau in den Wald. Er sucht nicht noch eine neue philosophische Wahrheit, sondern - Erfahrung, ein aufmerksames und gespanntes Bewusstsein des Lebens. Was passiert, wenn der Mensch sich aus Reichweite der Gesellschaft bringt? Würde jenseits der Imperative der Sitten, der Gesetze, der Rituale und der Ordnung das Selbst erscheinen? Thoreau findet darauf keine Antwort, die sich in Lehrsätze pressen ließe, es gibt keine Betriebsanleitung, kein Regelwerk darüber, was es heißt, ein wahrer Mensch zu sein, es gibt nur endlose Improvisation, ein Unterwegssein, durch das ein Mensch erst versteht, wer er ist. Es liegt gewissermaßen in der Natur der Selbstverantwortung, nicht verallgemeinerbar zu sein.

    Doch Thoreau macht eine ganz andere Entdeckung: Concorde, das Städtchen, wo er geboren wurde und wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte, bekam damals eine Eisenbahnlinie, war also auf einmal mit der großen Welt verbunden: Boston, New York usw.
    "Das Pfeifen der Lokomotive durchdringt meinen Wald im Sommer und Winter; es klingt wie der Schrei eines Falken, der über dem Bauernhofe schwebt und benachrichtigt mich davon, dass viele rastlose Kaufleute (...) in unsere Stadt gebracht werden."
    Und Thoreau sah in der Eisenbahn mehr als bloß eine technische Entwicklung. Er entdeckte darin das Symbol einer ungeheuren Vergesellschaftung: Einerseits kommt man mit der Eisenbahn überall hin, aber andererseits, damit die Züge fahren können, arbeiten die unterschiedlichsten Leute an den unterschiedlichsten Orten an derselben Sache. Der Einzelne ist nicht mehr, sagen wir: autonom oder selbstständig, sondern bei allem, was er tut, vernetzt mit allen möglichen Menschen und Apparaten.

    "Warum müssen wir uns so wahnsinnig beeilen, Erfolge zu erringen, und wozu stürzen wir uns in solch verzweifelte Unternehmen? Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tun er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen anderen Trommler hört. Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, wie auch ihr Takt und wie fern sie selbst auch sei."

    Henry David Thoreau entdeckt in der Stille seiner Idylle, in welchem Ausmaße ein jedes Menschenleben in der Moderne vergesellschaftet ist. Von der intimsten Empfindung über die Codierung jeder Erfahrung bis zur Steuerung durch gesellschaftliche Prozesse.

    "Wohin aber ein Mann gehen mag, überallhin verfolgen ihn die Menschen, packen ihn mit den Klauen ihrer schmutzigen Einrichtungen und zwingen ihn, ihrer verzweifelten Gesellschaft von Sonderlingen anzugehören. Ich hätte mich zwar mit mehr oder weniger Erfolg mit Gewalt widersetzen, gegen die Gesellschaft Amok laufen können. Ich zog aber vor, die Gesellschaft gegen mich Amok laufen zu lassen, da sie die verzweifelte Partei ist."

    So sinnt der Mann in seiner Blockhütte am See – und der gesellschaftliche Amok lässt nicht lange auf sich warten. Jäh erwischt Thoreau die Einberufung in den Gesellschaftsdienst.

    "Als ich eines Nachmittags gegen das Ende des ersten Sommers zum Dorfe ging, um beim Schuster einen Schuh zu holen, wurde ich verhaftet und ins Gefängnis geführt, weil ich (...) dem Staate eine Steuer nicht bezahlte oder dessen Autorität nicht anerkannte, der Männer, Frauen und Kinder wie das liebe Vieh an den Türen seines Senatshaus kauft und verkauft."

    Er hat Steuerschulden, doch er weigert sich, sie zu begleichen, weil er glaubt, mit seinen Steuern den amerikanisch-mexikanischen Krieg, der soeben entbrannt ist, mitzufinanzieren. Das führt dazu, dass er einen Tag im Gefängnis verbringen muss. Dann scheint jemand das Geld für ihn bezahlt zu haben – man weiß nicht, wer. Doch diese Erfahrung wird zu einem Grundthema seines ganzen Werkes. Und über diesen Akt zivilen Ungehorsams schreibt er seinen berühmten Essay, der in deutscher Übersetzung Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat heißt, 1849 unter dem Titel The Resistance to Civil Disobedience noch anonym und sodann 1866 unter dem Titel Civil Disobedience in Buchform erschien. Hören Sie einen Ausschnitt aus einer Aufnahme von Joseph Qualtinger, die mittlerweile als Hör-CD erschienen ist:

    "Ich finde, wir sollten erst Menschen sein und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich bereit einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint. Man sagt, dass vereinte Masse kein Gewissen hat – und das ist nur zu wahr; gewissenhafte Menschen aber verbinden sich zu einer Vereinigung mit Gewissen. Das Gesetz hat die Menschen nicht um einen Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlagern des Unrechts. Ein allgemeines und natürliches Ergebnis dieses ungebührlichen Respekts vor dem Gesetz sieht man zum Beispiel in einer Kolonne von Soldaten: Oberst, Hauptmann, Korporal, Gemeine, Pulverjungen und alles, wie sie in bewundernswerter Ordnung über Berg und Tal in den Krieg marschieren, wider ihren Willen, ja wider ihren gesunden Menschenverstand und ihr Gewissen – weshalb es ein recht anstrengender Marsch wird und beträchtliches Herzklopfen verursacht. Sie zweifeln nicht daran, dass es ein verdammenswertes Geschäft ist, mit dem sie sich da befassen; sie möchten alle friedlich sein. Aber was sind sie denn eigentlich? Sind sie überhaupt Männer, oder kleine bewegliche Verschanzungen und Waffenlager, und irgendeinem skrupellosen Menschen, der gerade an der Macht ist, zu Diensten? Geht doch einmal zu einem Kriegshafen und seht euch einen Matrosen an, eine Art Mensch, wie nur die amerikanische Regierung sie zustande bringt. Ein Ding, das sie mit ihren bösen Künsten aus einem Menschen gemacht hat – es ist nur noch ein Schatten und eine schwache Erinnerung von Menschentum, ein Mann, lebendig aufgebahrt und aufrecht, doch sozusagen schon unter Waffen begraben und von einem Leichenzug begleitet."
    Die Stimme von Joseph Qualtinger. Ein Ausschnitt aus Henry David Thoreaus Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". Dieser Essay über den zivilen Ungehorsam wird kommenden Generationen als eine Art Bibel dienen. Auf die Pflicht zum Ungehorsam berufen sich nicht nur Mahatma Gandhi und Martin Luther King, sie hat auch den weltweiten Studentenprotest der 60er- und 70er-Jahre mit schier unschlagbaren Argumenten ausgestattet. Und unweigerlich taucht Thoreaus schmales Traktat auf, wo Menschen sich weigern, Gesetze zu befolgen, die in Wirklichkeit dem Unrecht dienen. Man darf auch sagen, seine Überlegungen sind Thoreau selbst zum Lebensprogramm geworden.

    1854 schließt er sich der "Underground railway" an, eine Organisation, die man heute mit Sicherheit terroristische Vereinigung nennen würde. Dabei handelte es sich um ein Netzwerk von Menschen, die Fluchtrouten für entflohene Sklaven aus den Südstaaten nach Kanada - und also in die Freiheit organisierten. Harriet Beecher Stowes Roman "Onkel Toms Hütte" erzählt von diesen Fluchtwegen und der Organisation. Zugleich erklärt Thoreau in Vorträgen öffentlich, dass im Kampf gegen die Sklaverei ein gewisses Maß an Gewalt unumgänglich sei. Kurz darauf lernt er John Brown aus Kansas kennen, ein militanter Sklavenbefreier, der veritable Revolten gegen Sklavenhalter und Regierungstruppen organisiert. Thoreau ist der Einzige, der es wagt, den fieberhaft gesuchten Rebellen öffentlich zu verteidigen. Trotzdem heißt es in Walden oder Leben in den Wäldern:

    "Unser ganzes Leben ist erstaunlich moralisch. Es gibt darin keinen Moment lang Waffenstillstand zwischen Tugend und Laster. Güte ist die einzige Kapitalanlage, welche nie verlorengeht. In den Harfenklängen, die die Welt umzittern, ist sie der ewige Grundton, der uns erbeben lässt. Die Harfe ist der Geschäftsreisende für die Weltallversicherungsgesellschaft, die ihre Statuten anpreist, und unser bisschen Gutsein ist die ganze Einlage, welche wir bezahlen."

    Nach zwei Jahren in den Wäldern ist Thoreau wieder in die Stadt gezogen. Er war ein kühner Kopf, ein aufregender Zeitgenosse, und doch führte er eine lokale Existenz. Er hat fast ausschließlich in Concorde gelebt und zwar entweder allein oder bei seiner Mutter. Er war der Erbe einer Bleistiftfabrik und schlug sich doch lieber als Handelsvertreter oder Vortragsreisender durch.

    "Ich verließ den Wald aus einem ebenso guten Grunde, als ich ihn aufgesucht hatte. Vielleicht meinte ich, dass ich noch verschiedene Leben zu leben habe und für dieses keine Zeit mehr aufwenden könne."

    Klingt ziemlich lakonisch. War er am Ende gar enttäuscht über sein Experiment? In seinem Buch hat er Zeugnis von seinen Erfahrungen und Erlebnissen abgelegt. Mehr gab es nicht zu sagen. Er hatte einige praktische Einsichten in ein gewissermaßen theoretisches Problem gewonnen: Was bleibt vom Menschen übrig, wenn er der Gesellschaft entsagt? So hatte er verstanden, was die Gesellschaft mit einem macht. Und er hatte keine Furcht, dieser Gesellschaft - wo nötig – die Gefolgschaft zu kündigen. Nein, am Ende seines Waldweges stand kein Lehrbuch der Lebenskunst, kein Brevier der Selbstoptimierung. Er hatte nur ein paar Lebensübungen absolviert. Er ist abgetaucht, um seine eigene Stimme zu hören:

    "Wer auf die leisen, aber unaufhörlichen Einflüsterungen seines Genius lauscht, welche sicherlich wahr sind, der sieht nicht ab, zu welchen Extremen, ja zu welchem Wahnsinn sie ihn führen werden; und doch verfolgt er, wenn er an Entschlossenheit und Treue wächst, den ihm gewiesenen Weg. Niemand ist jemals durch seinen Genius irregeführt worden."

    Man stellt sich unwillkürlich die Frage, warum ausgerechnet dieser Nonkonformist der populärste literarische Held Amerikas geworden ist. Wahrscheinlich verkörpert Thoreau ein Amerika, das es eigentlich nicht mehr wirklich gibt und vielleicht nie gegeben hat, so was wie den wahren amerikanischen Traum oder vielleicht: den amerikanischen Traum von der Wahrheit. Den Traum vom autonomen Individuum, das den Kern seiner Wahrheit in sich trägt, und das - um seine Wahrheit zu verstehen - weder Priester noch Professoren braucht. Das Gegenteil des Lebensgefühls von New York oder Los Angeles. Und wahrscheinlich glauben wir alle von Zeit zu Zeit, im falschen Film zu sitzen und träumen davon, aus den Schnellzügen auszusteigen, um in irgendeiner entrückten Hütte uns selbst zu begegnen. Und zugleich haben wir furchtbare Angst davor. Könnte ja sein, dass wir da niemanden mehr finden.

    Bis heute liest man Walden oder Leben in den Wäldern ebenso wie Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat als seien die Texte soeben erst erschienen. Man ist gebannt von diesem Denken, das sich nicht als Expertise tarnt und wichtig macht, fast schon pfadfinderartig sucht ein Mann da seinen Weg und verblüfft uns bis heute mit der Wucht seiner Schlichtheit.

    Doch wir dürfen nicht vergessen, Thoreau war ein Mann, der aufgebrochen ist, den verschütteten Gott in sich zu finden – und er hat ihn nicht gefunden. Er hat schon recht: Zuletzt müssen wir immer unseren eigenen Sternen folgen – so wir sie denn überhaupt gehisst haben. Aber sind wir dann je mehr als selbstgerecht? Es sind schon viele durch ihren vermeintlichen Genius in die Irre geführt worden. Und von wessen "Irre" ist die Rede? Wer befindet darüber? Der heroische Individualismus eines David Henry Thoreau hat seine Grenzen. Dem ratlosen Tumult der Moderne hält er moralische Entschlossenheit und die Verheißungen der Eigentlichkeit entgegen. Doch wie würde Thoreau erklären, dass er schreibt, dass er mit der Welt kommunizieren will? Wie würde er begründen, dass er sich bis zur Gewaltbereitschaft in die Missstände des Realen einmischt? Ist das Innenleben am Ende vielleicht stets nur eine reinigende, aber vorübergehende Ekstase?

    Henry David Thoreau ist am 6. Mai 1862 an einer Lungenentzündung gestorben, 44 Jahre alt.

    Henry David Thoreau: Walden oder das Leben in den Wäldern. Aus dem Amerikanischem von Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Diogenes Verlag, 496 S.; 16,90 Euro

    Henry David Thoreau: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". Zweisprachige Ausgabe.
    Deutsch von Walter E. Richartz. Diogenes Verlag, 151 S., 14,90 Euro

    Hör-CD: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", Diogenes Hörbuch, gelesen von Helmut Qualtinger, 17,90 Euro,
    Diogenes Verlag. Zürich 2012