Rühl: Nun, es ist eigentlich ein ganz vernünftiger und einleuchtender – zumindest ein einleuchtender – Schachzug, der wenig damit zu tun hat, ob nun eine neue Regierung nötig ist und mehr damit zu tun hat, wie man einerseits die Leute aufrütteln kann, zur Wahl zu gehen – man braucht ja eine Mindestwahlbeteiligung auch, was oft vergessen wird –, und andererseits die ansonsten ins Kraut schießenden Spekulationen umgehen kann, die die nächsten zwei, drei Wochen gefüllt hätten - wer wird die Regierung sein, wer wird der Premierminister sein? Durch diese überraschende Ankündigung hat er nun diese Spekulation auf ein paar Tage verkürzt. Und dann drittens ist es natürlich auch für jemanden, der oft beschuldigt wird, dass die Zustände oder die Umstände seiner Wahl nicht demokratisch seien und er sich dann zu Recht oder Unrecht zur Wehr setzt mit dem Argument, dass die Leute nun mal eben so abstimmen würden und auch im Parlament so abgestimmt hätten, natürlich auch politisch – vermute ich mal – ein kluger Schachzug, zu sagen, also hier stehe ich, und hier steht mein Team zur Wahl, so dass nicht im Nachhinein irgendjemand sagen kann, er habe nicht gewusst, für wen er da stimmen solle, außer den Präsidenten, der dann die Regierung bestimmt. Von daher, denke ich, macht das schon einen Sinn aus der Perspektive des Präsidenten.
Adler: Nun wird genau dieser Schachzug aber doch auch häufig kritisiert als Arroganz, nämlich bevor man den Wahlsieg eingefahren hat, sozusagen schon das Fell des Bären zu zerlegen. Es ist ein Zeichen eines doch sehr, sehr siegesgewissen Präsidenten.
Rühl: Das wäre auch denkbar, wenn man nicht so siegessicher ist. Man könnte es ja anders verstehen und sagen: Hier lässt jemand das Visier vorher runter und sagt eben: ‚Wenn Ihr mich wählt, dann bekommt Ihr den und den Premierminister’, und, wenn es vorher noch verkündet wird, ‚die und die Regierung’. Von daher denke ich nicht, dass das unbedingt ein Zeichen der Arroganz ist.
Adler: Ist das vereinbar mit dem Kriterium oder diesem Streben Putins nach Stabilität, was er ja auch immer hatte?
Rühl: Na ja, ich glaube, es gibt in Russland hier so das Grundproblem, dass viel zu viel spekuliert und viel zu wenig zugehört wird. Er hat ja relativ klar gesagt vorher, was er macht. Genau das scheint jetzt zu passieren. Und wie Sie schon sagten, wenn jemand mit einer so haushohen Mehrheit ins Rennen geht, warum sollte er sich selber schaden, indem er Regierungen beruft und abberuft und wieder beruft und abberuft. Das hat er gar nicht nötig. Ich meine, das dient also wirklich in erster Linie dazu, diese Linie der Offenheit und Stabilität fortzusetzen, und es scheint auch, diesen Zweck durchaus zu erreichen.
Adler: Ist denn mit dem neuen Premier, der am Freitag in der Duma bestätigt worden ist, ist mit diesem neuen Premier tatsächlich so viel mehr klar, so viel mehr sichtbar, wie der Wirtschaftskurs, der Kurs überhaupt, weitergeht?
Rühl: Das wird auf jedem Fall von der Wirtschaftsperspektive erst klarer, wenn man zwei Sachen weiß: a) die Zusammensetzung der Regierung und b) auch die Veränderung in der Struktur der Regierung. Es gibt ja durchaus also die Kritik, dass es zu viele Köche gibt, die im selben Brei rühren. Also, auf der einen Seite hat man bestimmte Reformprojekte vor, die groß und allumfassend sind, denken Sie an Erziehungsreform, Gesundheitsreform und vor allem an diese Reform der öffentlichen Verwaltung, und die – b – verschiedene Ministerien betreffen. Und dann hat man – c – nicht nur verschiedene Ministerien, die also da drum konkurrieren, wer dieses Reformprojekt dann an sich zieht, sondern auch die die Präsidentenverwaltung oben drüber, die mehr auf der Projektebene sich konzentriert. Da hätte ich schon die Vorstellung, dass man in Entscheidungsfindungsprozessen und auch die Durchsetzung der Reformen, wenn sie mal beschlossen sind und geplant sind, wesentlich effizienter gestalten kann, indem man also so die Entscheidungsebenen besser zentralisiert und nicht so viele Ebenen nebeneinander und übereinander her haben lässt. So, von diesen beiden Faktoren, wer das Reformteam sein wird und ob und in welchem Ausmaß die Regierung und die Präsidialverwaltung aufeinander besser abgestimmt werden, um Reformprojekte durchzuziehen, die politisch schwierig durchzusetzen sind, davon wird dann auch die Perspektive abhängen.
Adler: Als Präsident Putin Anfang der Woche Fradkow ernannt hat, da ging es den meisten so, dass man erst mal in dem Archiv nachgucken musste: Wer ist das eigentlich? Das ist ein Mann, der wenig aufgetaucht ist. Jetzt wissen wir es ein bisschen genauer. Wir wissen, wir haben erfahren, dass er unter anderem im Außenwirtschaft-Ministerium eben zu jener Zeit saß, als nämlich die Privatisierung der sowjetischen Volkswirtschaft vonstatten ging. Das heißt also, so schreibt es zum Beispiel der RUSSISCHE KURIER in dieser Woche, wenn die Oligarchen zu jemanden gehen mussten, um die Exportlizenzen zu erhalten, dann war das eben jener Michail Fradkow, der neue Premier. Ist unter diesem Mann möglicherweise eine Neuverteilung – eine Umverteilung – des Reichtums des Landes zu erwarten?
Rühl: Na ja, Gott, mit demselben Recht könnte man sagen, der Mann war Chef der Steuerpolizei zu einem Zeitpunkt, wo die Steuerpolizei versucht hat, sehr aggressiv Steuern einzutreiben von eben jenen Ölmagnaten, die Sie erwähnen. Also, ich sehe da wiederum sehr viel Spekulationen und sehr wenig Wissen. Und ich glaube, auf der einen Seite könnte man ein bisschen was lernen von der amerikanischen Gelassenheit, mit der die an solche Sachen herangehen, und jedem Kandidaten, wenn er gewählt worden ist, erst einmal 100 Tage einräumen, um zu begutachten, wohin die Reise geht, und so, anstatt immer sich diesen in Russland sehr ins Kraut schießenden Spekulationen anzuschließen. Und auf der anderen Seite, was also diese Persönlichkeiten angeht: Man sollte ja nicht vergessen, Putin war auch jemand, den keiner kannte vorher. Ich kann es und will und werde es auch nicht beurteilen und zu beurteilen versuchen, wer Fradkow ist. Da halte ich es wirklich mit der – und da denke ich, sollte es jeder mit der fränkischen Volkswahrheit halten: ‚Schauen wir mal, dann sehen wir schon’, weil wirklich nach den paar Tagen, die der Mann gerade im Amt ist, sich diesen Spekulationen anzuschließen, das bedeutet nicht sehr viel, glaube ich.
Adler: Eines hat Putin natürlich mit diesem Schachzug erreicht – mit der Regierungsumbildung beziehungsweise mit dem Regierungsrücktritt und der Premierernennung so wenige Tage vor der Wahl –, dass man nur noch dieses Thema im Wahlkampf beredet, dass es das beherrschende Thema ist, dass kaum Bilanz gezogen wird und dass zum Beispiel auch kaum über das gesprochen wird, was Putin eigentlich erreichen wollte. Oberstes Ziel von Putin war, den Tschetschenienkrieg zu beenden. Das ist ihm nicht gelungen. Warum eigentlich nicht?
Rühl: Ich vermute mal, so wie so oft in solchen Angelegenheiten, sind diese militärischen Lösungen von so tief liegenden ethnischen und politischen Konflikten oft unmöglich oder nur zu Kosten erreichbar, die wirklich sehr hoch sind. Und da haben Sie recht: Das war ein großes Thema vor vier Jahren. Das ist kein großes Thema innenpolitisch. Aber natürlich außenpolitisch und auch in der Frage, wie Russland sich darstellt als ein Land für Investoren, da spielt es eine Rolle und wird auch nicht verschwinden, solange dieser Konflikt nicht politisch gelöst ist . . .
Adler:. . . ja, und auch unter dem Aspekt der Menschenrechte ist es nach wie vor ein Thema.
Rühl: Gut, Sie können mich jetzt als Volkswirt für zynisch halten oder so. Wenn Sie sich das Investitionsverhalten angucken in einem Land, was so riesig ist – wenn ich von hier nach Wladiwostok fliege, ist das weiter, als von hier nach Washington –, da kann man damit durchkommen, dass man unruhige Außenprovinzen hat, sage ich jetzt mal. Wo es natürlich ganz anders sich niederschlägt ist, wenn Sie sich angucken, was in den letzten Wochen oder auch im letzten Jahr hier in Moskau passiert ist, wenn es also überschwappt in Terrorismus in die Bevölkerungszentren. Da wird es dann direkt vor die eigene Haustür getragen. Und das ist ja die eigentliche Tragik, dass es so eine Spirale gibt, die anscheinend immer weiter auseinander gerät.
Adler: Christof Rühl, wenn wir noch mal ein bisschen auf die Amtszeit von Putin zurückblicken, dann sind zwei Tendenzen nicht zu übersehen. Das ist zum einen die sogenannte Stärkung der vertikalen Macht, die mit Putin betrieben worden ist, die zugleich einherging mit einem Abbau der Pressefreiheit, mit einem Abbau des Parlamentarismus, mit einer Einschränkung der Rolle des Föderationsrates. Das Volk steht hinter Putin, Putin hat unglaubliche Popularitätswerte. Was glauben Sie, ist für Russland besser: Tatsächlich die Autokratie, oder müssen wir bedauernd feststellen, dass das Experiment der liberalen Demokratie zumindest vorerst nicht weitergeführt wird?
Rühl: Also hier hat man nach hunderten von Jahren den Ansatz gemacht, Demokratie zu haben. Und erstens hat ja Putin weder die Verfassung gebrochen noch irgendwie das Regelwerk außer Kraft gesetzt. Zweitens ist er, wie Sie sagen, ja wirklich von der großen Mehrheit der Leute gewählt worden, und auch dieses Parlament - ob es einem gefällt oder nicht, der Mann hat die Mehrheit. Ist das jetzt irgendwie Ausdruck dafür, dass ein liberales Experiment gescheitert ist? Ich glaube nicht. Es war ja auch kein blühender Garten der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft hier vorher, es war einfach das nackte Chaos. So diese Mischung hinzukriegen aus Stabilität, die der Patient braucht, um sich zu erholen, und Demokratie, diese Balance um den Wettstreit von Ideen und dem Chaos, was man braucht, um Neues zu generieren – es geht halt nun mal nicht anders nach Plan – diese Spannung irgendwie aufrecht zu erhalten und diesen Akt zu balancieren, das wird die nächsten Jahre auch beeinflussen.
Adler: Christof Rühl, Chefökonom der Weltbank im Moskau, sagen Sie, tut es Russland gut, wenn Putin jetzt noch seine zweite Amtszeit antritt?
Rühl: Die beste Antwort wäre wahrscheinlich, zu sagen, im Prinzip ‚ja’, weil er es geschafft hat, eine Stabilität herzustellen, die doch in einem Wirtschaftsaufschwung gemündet ist. Und diese Stabilität herzustellen war sehr wichtig in den Jahren nach diesen chaotischen 90er Jahren. Die Qualifizierung im Prinzip kommt dann daher, dass man ja nicht in der Stabilität stehen bleiben kann, sondern dass, was jetzt erforderlich ist, also noch einmal eine Verschärfung des Reformtempos erfordern würde, um die Wirtschaft in Gang zu halten und vor allem, um die Wirtschaft unabhängiger zu machen von diesen Erdölexporten, auf denen sie im Moment sehr fußt. Und über die letzten 12 bis 18 Monate hat es relativ wenig Anzeichen dafür gegeben, dass man wirklich also diesen Reformeifer da noch hat.
Adler: Sie haben es gerade schon angesprochen: Russlands Wirtschaftsdaten sind im Prinzip gut, sie haben Aufwärtstendenzen eigentlich in fast allen Bereichen, wenn nicht sogar in allen Bereichen. Steht es denn jetzt tatsächlich so gut um die Ökonomie, oder ist es nicht doch so, dass Russland einfach nur unglaubliches Glück gehabt hat in den letzten Jahren und von dem anhaltend hohen Ölpreis profitieren konnte?
Rühl: Es ist richtig, dass Russland sehr viel Glück hatte in den letzten Jahren nach dem Wirtschaftszusammenbruch, nach der großen Krise 1998. Es ist allerdings auch richtig, dass Russland vorher sehr viel Pech hatte und auch nicht unbedingt immer die beste Beratung hatte. Die Wirtschaft von Russland ist sehr erdöl- und gasabhängig. Es ist nach Saudi-Arabien inzwischen der zweitgrößte Erdölproduzent der Welt, das stellt man sich oft so nicht vor. Wir haben gerade Berechnungen angestellt, nach denen die Erdöl- und Gasproduktion ungefähr 25 Prozent, also ein Viertel des Bruttosozialprodukts ausmacht. Produziert wird dieses Öl und Gas von ungefähr einem Prozent der Beschäftigten. Und da sieht man schon, wo also so die Problemzonen liegen. Man kann auf dieser Grundlage keine balancierte Wirtschaft haben, die allen gleichzeitig Arbeit und Brot gibt. Und in allen großen Erdöl fördernden Wirtschaften hat man dieses Problem einer Schere zwischen arm und reich, die sehr groß sein kann. Jetzt zu den Daten, zu denen Sie gefragt haben. Wenn man sich Russlands Wirtschaft anguckt hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Daten, dann stehen sie wirklich sehr gut da. Sie sind alle im grünen Bereich, also Budgetüberschuss vier Jahre hintereinander, einen großen Leistungsbilanzüberschuss vier Jahre hintereinander, der Ölpreis, der sehr stark gestiegen ist nach der Krise 1998 und seitdem immer noch weiter steigt. Es sieht aus, wie so ein Schiff, das mit vollen Segeln fährt. Aber die Zeit, die man jetzt gehabt hat – diese drei, vier Jahre des Aufschwungs, der sehr stark von den Energiepreisen getragen war –, wurde nicht genutzt, um das Schiff wirklich fit zu machen, wenn sich das Wetter verschlechtert oder ändert. Mit anderen Worten: Wenn der Ölpreis morgen fallen würde, dann wäre Russlands Wirtschaft ziemlich stark am schlingern und die Gefahr eines Einbruchs wäre relativ groß. Wir sind der Meinung – man kann es ja ein bisschen berechnen – wir haben jetzt ein Wirtschaftswachstum gehabt von über sieben Prozent im Jahr 2003. Wir glauben, dass das Trendwachstum, das man erreichen könnte, wenn sich der Ölpreis nicht verändern würde, so zwischen vier und fünf Prozent liegt. Der Rest ist im Ansteigen des Ölpreises geschuldet, und es ist doch klar, dass das nicht ewig weitergehen wird, auch wenn es in den letzten Jahren passiert ist. In dem Sinne hat Russland viel Glück gehabt, aber auf die Dauer ist das natürlich keine haltbare Grundlage.
Adler: Man hat ja im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg auch immer in Russland im Auge gehabt, dass, sobald dieser Krieg vorbei ist, sobald die Verhältnisse sich im Irak stabilisiert haben und damit eben auch als Folge irakisches Öl auf den Weltmarkt kommt, dass dann der Ölpreis sinken wird. Ist es jetzt wieder nur Glück für Russland, dass die Krise im Irak länger dauert als erwartet, oder ist das eine Entwicklung, mit deren Prognosen man sich vielleicht auch vertan hat?
Rühl: Da spielen viele Elemente zusammen und das ist nicht nur ein glücklicher Zufall, weil Russland ja auch zum Teil Anspruch hat aus alten Verträgen auf Teile der Förderungsmengen im Irak in der Zukunft. Das weiß keiner so recht, wie das ausgehen wird. Man hat sicher in manchen Ländern, vor allem aber im Westen und nicht so sehr in Russland, zu früh darauf gesetzt, dass das Öl, was im Irak gefördert wird, massiv sofort auf den Markt kommt. Das ist nicht passiert. Wenn das passieren wird, dann wird sich der Ölpreis vielleicht kurzfristig ein bisschen einpendeln. Aber es gibt natürlich zwei ganz starke Tendenzen, die dem entgegenwirken. Das eine ist das Verhalten der OPEC, wo Russland kein Mitglied ist, aber natürlich davon profitiert, dass die also das Angebot immer weiter reduzieren. Und das andere ist die gestiegene Nachfrage vor allem in Asien, und hier vor allem in China. Was sich langfristig sehr, sehr günstig auswirken wird in Russland, ist die gestiegene Nachfrage, die aus China kommt. Und das betrifft Öl, das betrifft Gas, das betrifft Kohle, es betrifft Holz und es betrifft auch Metalle und solche Sachen. Da ist Russland natürlich in der Position, dass es einfach aufgrund seiner geografischen Lage mit dem Bau von zusätzlichen Pipelines oder anderen Transportmitteln diesen Markt relativ einfach bedienen kann.
Adler: Sehen wir einmal diese positive Entwicklung, die gerade im Gange ist – oder zumindest die Aufwärtszahlen, die positiven Zahlen. Wie weit spiegeln diese positiven Zahlen denn wirklich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wider, wie weit hat Russland tatsächlich eine moderne Wirtschaft? Wo klappt’s, wo klappt’s überhaupt nicht?
Rühl: Nein, sie spiegeln natürlich nicht die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wider, sondern sie spiegeln eben den hohen Ertrag auf natürliche Ressourcen wider, die exportiert werden. Und all diese Ölökonomien und ölabhängigen Ökonomien haben ja auch ihre Schattenseiten. Es gibt zwar das kanadische und norwegische Modell auf der einen Seite, Wirtschaften, die im Falle Norwegens vorher schon relativ reich waren und die richtigen Institutionen und rechtsstaatliches Verhalten und so was hatten. Aber es gibt auf der anderen Seite natürlich die ganzen Beispiele wie Indonesien, Nigeria und so, wo Ölabhängigkeit dazu geführt hat, dass es wirklich so Reichtumsinseln gibt in dem See der Armut. Und Russland läuft die Gefahr, also da sind beide Seiten offen, es kann sich nach beiden Seiten entwickeln. Jetzt konkret zu Ihrer Frage. Die russische Wirtschaft fing an von einer Position nicht nur des Staatseigentums, sondern eben auch einer rohen Überindustrialisierung. Sie hatten sehr viel Leute mehr, die in der Manufaktur und Produktion gearbeitet haben – in der Industrieproduktion –, als Länder mit vergleichbaren Einkommenslevels. Und da ist sehr viel passiert, da hat sich sehr viel abgebaut. Gleichzeitig – vor 15 Jahren – hatte Russland natürlich keinen Dienstleistungssektor. Und im Bereich der privaten Dienstleistung hat sich auch sehr viel getan. Er ist rapide gewachsen, aber er ist immer noch sehr viel kleiner, als die Statistiken ihn erscheinen lassen und auch sehr viel kleiner als in vergleichbaren Ländern. Was mir ein bisschen Sorgen macht, ist, dass Russland natürlich anfing auch mit einem großen Staatsdienstleistungssektor, also staatliche Dienste, die sehr aufgebläht waren – Gesundheitsvorsorge, Erziehung und so was. Und was man jetzt beobachtet hat über die letzten paar Jahre ist, dass die Anzahl derjenigen, die im öffentlichen Dienst beschäftigt werden, gestiegen ist, und zwar wesentlich höher jetzt als Anteil der Gesamtbeschäftigten, als in vergleichbaren Ländern. Und die Vermutung, dass es sich dabei allerdings nur um Bürokraten handelt und zusätzliche Verwaltungseinheiten, die geschaffen werden in Moskau oder in den Provinzhauptstädten, ist nicht richtig. Was hier passiert ist, ist, dass meistens die ärmsten Regionen Leute eingestellt haben, die ansonsten arbeitslos und ohne jedes Einkommen wären. Also, das soziale Netz ist ja nicht existent. Und die haben die eingestellt als Straßenfeger, als Reinigungskräfte in Krankenhäusern oder in Schulen, zum Teil sogar als Lehrer. Und da ist ein großes Potential von Leuten, die natürlich für ganz andere Tätigkeiten ausgebildet waren, die jetzt hier als Niedriglohnempfänger im öffentlichen Dienst die öffentliche Kasse belasten. Und weil das in den ärmsten Regionen stattfindet, sind das meistens auch die Regionen, die in der Tat dann ihre Löhne nicht bezahlen können und sich umdrehen und nach Transfers, vor allem nach Moskau nach mehr Transfereinkommen verlangen und die das in den letzten Jahren auch bekommen haben. Viele dieser Leute sind ja wirklich besser ausgebildet, müssten eigentlich wo anders hinziehen. Aber man vermeidet den kurzfristig schmerzhaften Anpassungsprozess und halst sich im Austausch ein langfristiges Problem auf, finanziert durch diese Öleinnahmen.
Adler: Wenn man jetzt schaut, dass es diesen Haushaltsüberschuss gibt, dann kann man ja vielleicht leicht auf die Idee kommen, dass man sagt: Wenn die Kassen jetzt gerade voll sind – warum erhöht man dann nicht die Renten, warum erhöht man dann nicht die Sozialleistungen?
Rühl: Das ist ja passiert, also es ist ja eine Neuerung, dass Renten überhaupt bezahlt werden. Und das ist wahrscheinlich das Element, das Putin mit am populärsten macht. Da ist es einerseits die politische Stabilität, die nach den Jahren, diesen unruhevollen, rastlosen Jahren, von Leuten einfach begrüßt wird, deren Naturell wahrscheinlich es auch eher entspricht, in stabilen Verhältnissen zu leben. Und zum anderen ist es so, dass Putin angekündigt hat und als erster auch eingelöst hat, dass Pensionen, Renten und auch Staatsgehälter pünktlich bedient werden. Er hat es ja auch um einiges erhöht, das muss man ihm auch zugestehen.
Adler: Aber immer noch nicht in dem Maße, dass das Drittel unter dem Existenzminimum verschwindet.
Rühl: Man könnte sie vielleicht noch ein bisschen erhöhen mit diesem einen Prozent Überschuss, das man im Budget hat. Das würde aber niemanden besonders glücklich machen, weil die Erhöhung fast nicht spürbar ist, die der Einzelne hat. Man kann letzten Endes die Wirtschaft nicht da drauf fußen, dass man nur Umverteilung betreibt. Man sagt, der Staat nimmt es hier mit vollen Händen auf der einen Seite und gibt es dann den Pensionären und Staatsbediensteten auf der anderen Seite. Letzten Endes wird sich eine Veränderung dieser Armutssituation erst dann einstellen, wenn man eine differenzierte und breit entwickelte Wirtschaft hat, wo der Privatsektor eben stark genug ist, um auch Beschäftigung und Konsum und Investitionen zu tragen und der Privatsektor eben nicht nur aus dem Ölsektor besteht.
Adler: Die Wahl ist entschieden. Es gibt ein paar Kandidaten, bei denen man sich eigentlich scheut, überhaupt das Wort ‚Herausforderer’ zu benutzen. Dennoch, wenn Sie sich die Kandidaten angucken, gibt es da jemanden, wo Sie sagen: Wenn der- oder diejenige tatsächlich die Chance hätte, an die Macht zu kommen, das wäre gar nicht so schlimm für Russland oder vielleicht sogar besser für Russland als unter Putin?
Rühl: Nun, ich war schon immer der Meinung, dass im Prinzip diese Angst des Westens vor dem einen oder anderen Kandidaten oft fehlplaziert war und man viel eher gut daran getan hätte, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das ist ja in anderen Ländern Mitte der 90er Jahre überall passiert, dass sogar die Kommunisten, die drangekommen sind, sich sehr geändert hatten. In Russland haben sie sich bisher noch nicht geändert. Als Wirtschaftswissenschaftler finde ich zwei Kandidaten von Interesse. Da ist auf der einen Seite Frau Chakamada, die für den liberalen Wirtschaftsflügel steht, der gerade in den Parlamentswahlen eine fürchterliche Niederlage erlitten hat. Und es ist einfach interessant zu sehen, in welchem Ausmaß sie Unterstützung mobilisieren kann. Und ich vermute, dass es wirklich ein sehr geringes Ausmaß sein wird und ihre Stimmenanteile wieder unter fünf Prozent oder um die fünf Prozent sind. Und das sagt einem dann natürlich auch was über die Einstellung der Bevölkerung zu den sogenannten Reformern, die sich in dieser Person jetzt als Kandidatin verkörpern. Man muss einfach sehen, wenn der Durchschnittsrusse ‚Marktreformen’ hört, dann rennt er erst einmal in Deckung, weil die Erfahrungen nicht so glänzend sind. Der zweite Kandidat, den ich interessant finde, ist Herr Glasjew, und zwar einfach deswegen, weil in Russland die Fronten ja so verhärtet waren auf der einen Seite zwischen dem Jelzin-Camp und den sogenannten Reformern, und auf der anderen Seite dieser sehr starken kommunistischen Partei, die zumindest von außen her oder aus meiner Sicht komplett unreformiert aussah, also wirklich wie so ein Monolith aus sowjetischen Zeiten sich da herübergerettet hat. Und Glasjew ist eher so jemand, der so eine Art sozialdemokratischer Richtung verkörpert. Und ich glaube, so etwas wäre in Russland bitternötig, dass einfach sich verschiedene Traditionen entwickeln und es nicht nur diesen neokonservativen orthodoxen Wirtschaftsflügel gibt und die kommunistische Partei und dazwischen den Geheimdienstpräsidenten. Glasjew will ich jetzt nicht unterstützen und so. Aber die Ansätze, die da gemacht werden, wirtschaftspolitisch zu sagen, man müsste mehr umverteilen – genau was Sie gefragt haben –, man müsste den Ölüberschuss irgendwie einsammeln von Staats wegen und dann an die ärmeren Bevölkerungsteile verteilen, und das wäre machbar in so einem Ausmaß, dass eben jeder besser dran wäre, spürbar besser dran wäre: Das sind Thesen natürlich, die man in jedem westlichen Land auch hören würde, ohne dass man deswegen gleich Panikstimmung erzeugen würde. Und ich glaube, das ist ein Anzeichen von Modernisierung, dass sich also solche verschiedenen Elemente sich jetzt auch rausbilden. Und daher ist natürlich alles, was Wettbewerb erhöht, in der Politik immer begrüßenswert. Und von daher finde ich das ganz interessant. Auf der anderen Seite ist es so, dass keiner von den beiden eine ernsthafte Chance hat. Und wenn Sie mit irgendeinem Investment-Banker hier in Russland reden, der herkommt - die reden inzwischen von dem ‚Putin-Risiko’. Damit meinen sie nicht das Risiko, dass Herr Putin irgendwas falsch macht, sondern das Risiko, dass ihm irgendwas passiert. Die sagen, er ist so allein auf einsamer Strecke – wenn der weg ist, was passiert dann? Man sollte ganz genau hingucken, was passiert. Nicht diese nächsten vier Jahre, sondern ob es danach noch mal eine Zusatzperiode gibt oder nicht. Sie wissen, dass die Verfassung ja vorschreibt, dass der Präsident nur zweimal für vier Jahre gewählt werden kann. Und jetzt ist schon Spekulation in aller Munde – und man kann sich das ja vorstellen, wie so etwas geht –, Wie kann man denn so etwas ablehnen, wenn 80 Prozent der Bevölkerung rufen und so.
Adler: Welche Aufgaben sehen Sie für die zweite Amtszeit – reden wir erst einmal von der zweiten, von der vor Putin liegenden Amtszeit – für Russland?
Rühl: Also, in allererster Linie die Reformen wieder in Gang zu bringen. Und zwar gibt es da eine große Palette: Staatsmonopole müssen ausgelüftet werden, das Finanzsystem muss reformiert werden. Ganz wichtig: Die öffentliche Verwaltung muss reformiert werden, geändert werden, und dann natürlich das Gesundheits- und das Erziehungssystem. Das sind große Vorhaben und die haben alle zwei Sachen gemeinsam: Sie sind alle kompliziert, wie man jetzt in Deutschland auch lernt, und auf der anderen Seite sind sie alle Reformen, die jetzt gegen große Interessen verstoßen. Und diese Interessensvertretungen und Interessensverbände haben wirklich jahrelang jetzt Zeit gehabt, die Hacken einzugraben und zu lernen, wie man hinhaltend Widerstand leistet. Und das beobachten wir überall jetzt, also ob es um große Banken geht oder um die Bürokratie, die sich natürlich nicht selber zusammenstreicht, oder auch um so ganz simple Sachen, wie kommunale Dienstleistungen zu reformieren – was Preiserhöhungen bedeutet, wo dann die Leute dagegen rebellieren selbstverständlich. Überall hat man es mit diesen Interessensgruppen zu tun. Und es wird von daher sehr schwer und es wird einer ganz bestimmten Anstrengung bedürfen, das in Gang zu kriegen. Und ich bin gespannt, ob das erfolgt. Es ist nicht damit getan, wie jetzt geredet wird, die nächsten 22 Gesetze durch die Duma zu bringen, die natürlich allem zustimmen wird, sondern zu welchem Ausmaß die überhaupt angewendet werden und dann durchgesetzt werden. Das ist eine ganz andere Frage. Da hat man jetzt so lange gewartet, dass also wirklich so diese Mischung aus Ölreichtum und ‚wir haben ja schon so viel in der Vergangenheit gemacht und wollen von Reformen nichts mehr hören’ – das hat zu einem Klima geführt, wo sich gar nichts mehr bewegt. Das ist sehr gefährlich. Das ist das Erste und Wichtigste, um das aufzubrechen. Und dann natürlich, denke ich mal, dass die üblichen Probleme auch auf der Tagesordnung stehen, Russland weiter zu integrieren und aufzupassen, dass also – Russland hat ja schon Tendenzen zur Isolierung, dass das nicht schlimmer wird. Ich habe neulich eine Zahl gehört, dass im Jahr 2002 18 Millionen Grenzübertritte waren von Russland ins Ausland, inklusive der Nachbarländer, also der andern GUS-Staaten. Und wenn man sich überlegt, wie viele Pendler dann dabei sein müssen – Aserbeidschaner, Armenier, Kasachstaner –, dann heißt das unter dem Strich, dass für eine Nation von 144 Millionen ein extrem geringer Anteil eigentlich in andere Länder fährt oder andere Erfahrung sammelt. Und unter solchen Bedingungen ist es noch wichtiger als sonst schon, Offenheit zu gewährleisten und diesen vorhandenen isolationistischen und nationalsozialistischen Tendenzen nicht weiter nachzugeben.
Adler: Russland ist es unter Putin gelungen, in den regulären Kreis der G-8 aufgenommen zu werden. Wir wissen alle, dass Russland bei weitem nicht zu den acht wirtschaftlich stärksten Nationen der Welt gehört. Wann – Prognose des Chefs des Moskauer Büros der Weltbank Christof Rühl, Prognose: Wann wird Russland rechtmäßig sozusagen dazugehören?
Rühl: Unter die acht reichsten Pro Kopf-Einkommen? Ich glaube, irgendwann wird es der Fall sein, weil es einfach all diese Voraussetzungen mitbringt. Und ich würde denken, dass es bestimmt noch 25 Jahre dauert.
Adler: Nun wird genau dieser Schachzug aber doch auch häufig kritisiert als Arroganz, nämlich bevor man den Wahlsieg eingefahren hat, sozusagen schon das Fell des Bären zu zerlegen. Es ist ein Zeichen eines doch sehr, sehr siegesgewissen Präsidenten.
Rühl: Das wäre auch denkbar, wenn man nicht so siegessicher ist. Man könnte es ja anders verstehen und sagen: Hier lässt jemand das Visier vorher runter und sagt eben: ‚Wenn Ihr mich wählt, dann bekommt Ihr den und den Premierminister’, und, wenn es vorher noch verkündet wird, ‚die und die Regierung’. Von daher denke ich nicht, dass das unbedingt ein Zeichen der Arroganz ist.
Adler: Ist das vereinbar mit dem Kriterium oder diesem Streben Putins nach Stabilität, was er ja auch immer hatte?
Rühl: Na ja, ich glaube, es gibt in Russland hier so das Grundproblem, dass viel zu viel spekuliert und viel zu wenig zugehört wird. Er hat ja relativ klar gesagt vorher, was er macht. Genau das scheint jetzt zu passieren. Und wie Sie schon sagten, wenn jemand mit einer so haushohen Mehrheit ins Rennen geht, warum sollte er sich selber schaden, indem er Regierungen beruft und abberuft und wieder beruft und abberuft. Das hat er gar nicht nötig. Ich meine, das dient also wirklich in erster Linie dazu, diese Linie der Offenheit und Stabilität fortzusetzen, und es scheint auch, diesen Zweck durchaus zu erreichen.
Adler: Ist denn mit dem neuen Premier, der am Freitag in der Duma bestätigt worden ist, ist mit diesem neuen Premier tatsächlich so viel mehr klar, so viel mehr sichtbar, wie der Wirtschaftskurs, der Kurs überhaupt, weitergeht?
Rühl: Das wird auf jedem Fall von der Wirtschaftsperspektive erst klarer, wenn man zwei Sachen weiß: a) die Zusammensetzung der Regierung und b) auch die Veränderung in der Struktur der Regierung. Es gibt ja durchaus also die Kritik, dass es zu viele Köche gibt, die im selben Brei rühren. Also, auf der einen Seite hat man bestimmte Reformprojekte vor, die groß und allumfassend sind, denken Sie an Erziehungsreform, Gesundheitsreform und vor allem an diese Reform der öffentlichen Verwaltung, und die – b – verschiedene Ministerien betreffen. Und dann hat man – c – nicht nur verschiedene Ministerien, die also da drum konkurrieren, wer dieses Reformprojekt dann an sich zieht, sondern auch die die Präsidentenverwaltung oben drüber, die mehr auf der Projektebene sich konzentriert. Da hätte ich schon die Vorstellung, dass man in Entscheidungsfindungsprozessen und auch die Durchsetzung der Reformen, wenn sie mal beschlossen sind und geplant sind, wesentlich effizienter gestalten kann, indem man also so die Entscheidungsebenen besser zentralisiert und nicht so viele Ebenen nebeneinander und übereinander her haben lässt. So, von diesen beiden Faktoren, wer das Reformteam sein wird und ob und in welchem Ausmaß die Regierung und die Präsidialverwaltung aufeinander besser abgestimmt werden, um Reformprojekte durchzuziehen, die politisch schwierig durchzusetzen sind, davon wird dann auch die Perspektive abhängen.
Adler: Als Präsident Putin Anfang der Woche Fradkow ernannt hat, da ging es den meisten so, dass man erst mal in dem Archiv nachgucken musste: Wer ist das eigentlich? Das ist ein Mann, der wenig aufgetaucht ist. Jetzt wissen wir es ein bisschen genauer. Wir wissen, wir haben erfahren, dass er unter anderem im Außenwirtschaft-Ministerium eben zu jener Zeit saß, als nämlich die Privatisierung der sowjetischen Volkswirtschaft vonstatten ging. Das heißt also, so schreibt es zum Beispiel der RUSSISCHE KURIER in dieser Woche, wenn die Oligarchen zu jemanden gehen mussten, um die Exportlizenzen zu erhalten, dann war das eben jener Michail Fradkow, der neue Premier. Ist unter diesem Mann möglicherweise eine Neuverteilung – eine Umverteilung – des Reichtums des Landes zu erwarten?
Rühl: Na ja, Gott, mit demselben Recht könnte man sagen, der Mann war Chef der Steuerpolizei zu einem Zeitpunkt, wo die Steuerpolizei versucht hat, sehr aggressiv Steuern einzutreiben von eben jenen Ölmagnaten, die Sie erwähnen. Also, ich sehe da wiederum sehr viel Spekulationen und sehr wenig Wissen. Und ich glaube, auf der einen Seite könnte man ein bisschen was lernen von der amerikanischen Gelassenheit, mit der die an solche Sachen herangehen, und jedem Kandidaten, wenn er gewählt worden ist, erst einmal 100 Tage einräumen, um zu begutachten, wohin die Reise geht, und so, anstatt immer sich diesen in Russland sehr ins Kraut schießenden Spekulationen anzuschließen. Und auf der anderen Seite, was also diese Persönlichkeiten angeht: Man sollte ja nicht vergessen, Putin war auch jemand, den keiner kannte vorher. Ich kann es und will und werde es auch nicht beurteilen und zu beurteilen versuchen, wer Fradkow ist. Da halte ich es wirklich mit der – und da denke ich, sollte es jeder mit der fränkischen Volkswahrheit halten: ‚Schauen wir mal, dann sehen wir schon’, weil wirklich nach den paar Tagen, die der Mann gerade im Amt ist, sich diesen Spekulationen anzuschließen, das bedeutet nicht sehr viel, glaube ich.
Adler: Eines hat Putin natürlich mit diesem Schachzug erreicht – mit der Regierungsumbildung beziehungsweise mit dem Regierungsrücktritt und der Premierernennung so wenige Tage vor der Wahl –, dass man nur noch dieses Thema im Wahlkampf beredet, dass es das beherrschende Thema ist, dass kaum Bilanz gezogen wird und dass zum Beispiel auch kaum über das gesprochen wird, was Putin eigentlich erreichen wollte. Oberstes Ziel von Putin war, den Tschetschenienkrieg zu beenden. Das ist ihm nicht gelungen. Warum eigentlich nicht?
Rühl: Ich vermute mal, so wie so oft in solchen Angelegenheiten, sind diese militärischen Lösungen von so tief liegenden ethnischen und politischen Konflikten oft unmöglich oder nur zu Kosten erreichbar, die wirklich sehr hoch sind. Und da haben Sie recht: Das war ein großes Thema vor vier Jahren. Das ist kein großes Thema innenpolitisch. Aber natürlich außenpolitisch und auch in der Frage, wie Russland sich darstellt als ein Land für Investoren, da spielt es eine Rolle und wird auch nicht verschwinden, solange dieser Konflikt nicht politisch gelöst ist . . .
Adler:. . . ja, und auch unter dem Aspekt der Menschenrechte ist es nach wie vor ein Thema.
Rühl: Gut, Sie können mich jetzt als Volkswirt für zynisch halten oder so. Wenn Sie sich das Investitionsverhalten angucken in einem Land, was so riesig ist – wenn ich von hier nach Wladiwostok fliege, ist das weiter, als von hier nach Washington –, da kann man damit durchkommen, dass man unruhige Außenprovinzen hat, sage ich jetzt mal. Wo es natürlich ganz anders sich niederschlägt ist, wenn Sie sich angucken, was in den letzten Wochen oder auch im letzten Jahr hier in Moskau passiert ist, wenn es also überschwappt in Terrorismus in die Bevölkerungszentren. Da wird es dann direkt vor die eigene Haustür getragen. Und das ist ja die eigentliche Tragik, dass es so eine Spirale gibt, die anscheinend immer weiter auseinander gerät.
Adler: Christof Rühl, wenn wir noch mal ein bisschen auf die Amtszeit von Putin zurückblicken, dann sind zwei Tendenzen nicht zu übersehen. Das ist zum einen die sogenannte Stärkung der vertikalen Macht, die mit Putin betrieben worden ist, die zugleich einherging mit einem Abbau der Pressefreiheit, mit einem Abbau des Parlamentarismus, mit einer Einschränkung der Rolle des Föderationsrates. Das Volk steht hinter Putin, Putin hat unglaubliche Popularitätswerte. Was glauben Sie, ist für Russland besser: Tatsächlich die Autokratie, oder müssen wir bedauernd feststellen, dass das Experiment der liberalen Demokratie zumindest vorerst nicht weitergeführt wird?
Rühl: Also hier hat man nach hunderten von Jahren den Ansatz gemacht, Demokratie zu haben. Und erstens hat ja Putin weder die Verfassung gebrochen noch irgendwie das Regelwerk außer Kraft gesetzt. Zweitens ist er, wie Sie sagen, ja wirklich von der großen Mehrheit der Leute gewählt worden, und auch dieses Parlament - ob es einem gefällt oder nicht, der Mann hat die Mehrheit. Ist das jetzt irgendwie Ausdruck dafür, dass ein liberales Experiment gescheitert ist? Ich glaube nicht. Es war ja auch kein blühender Garten der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft hier vorher, es war einfach das nackte Chaos. So diese Mischung hinzukriegen aus Stabilität, die der Patient braucht, um sich zu erholen, und Demokratie, diese Balance um den Wettstreit von Ideen und dem Chaos, was man braucht, um Neues zu generieren – es geht halt nun mal nicht anders nach Plan – diese Spannung irgendwie aufrecht zu erhalten und diesen Akt zu balancieren, das wird die nächsten Jahre auch beeinflussen.
Adler: Christof Rühl, Chefökonom der Weltbank im Moskau, sagen Sie, tut es Russland gut, wenn Putin jetzt noch seine zweite Amtszeit antritt?
Rühl: Die beste Antwort wäre wahrscheinlich, zu sagen, im Prinzip ‚ja’, weil er es geschafft hat, eine Stabilität herzustellen, die doch in einem Wirtschaftsaufschwung gemündet ist. Und diese Stabilität herzustellen war sehr wichtig in den Jahren nach diesen chaotischen 90er Jahren. Die Qualifizierung im Prinzip kommt dann daher, dass man ja nicht in der Stabilität stehen bleiben kann, sondern dass, was jetzt erforderlich ist, also noch einmal eine Verschärfung des Reformtempos erfordern würde, um die Wirtschaft in Gang zu halten und vor allem, um die Wirtschaft unabhängiger zu machen von diesen Erdölexporten, auf denen sie im Moment sehr fußt. Und über die letzten 12 bis 18 Monate hat es relativ wenig Anzeichen dafür gegeben, dass man wirklich also diesen Reformeifer da noch hat.
Adler: Sie haben es gerade schon angesprochen: Russlands Wirtschaftsdaten sind im Prinzip gut, sie haben Aufwärtstendenzen eigentlich in fast allen Bereichen, wenn nicht sogar in allen Bereichen. Steht es denn jetzt tatsächlich so gut um die Ökonomie, oder ist es nicht doch so, dass Russland einfach nur unglaubliches Glück gehabt hat in den letzten Jahren und von dem anhaltend hohen Ölpreis profitieren konnte?
Rühl: Es ist richtig, dass Russland sehr viel Glück hatte in den letzten Jahren nach dem Wirtschaftszusammenbruch, nach der großen Krise 1998. Es ist allerdings auch richtig, dass Russland vorher sehr viel Pech hatte und auch nicht unbedingt immer die beste Beratung hatte. Die Wirtschaft von Russland ist sehr erdöl- und gasabhängig. Es ist nach Saudi-Arabien inzwischen der zweitgrößte Erdölproduzent der Welt, das stellt man sich oft so nicht vor. Wir haben gerade Berechnungen angestellt, nach denen die Erdöl- und Gasproduktion ungefähr 25 Prozent, also ein Viertel des Bruttosozialprodukts ausmacht. Produziert wird dieses Öl und Gas von ungefähr einem Prozent der Beschäftigten. Und da sieht man schon, wo also so die Problemzonen liegen. Man kann auf dieser Grundlage keine balancierte Wirtschaft haben, die allen gleichzeitig Arbeit und Brot gibt. Und in allen großen Erdöl fördernden Wirtschaften hat man dieses Problem einer Schere zwischen arm und reich, die sehr groß sein kann. Jetzt zu den Daten, zu denen Sie gefragt haben. Wenn man sich Russlands Wirtschaft anguckt hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Daten, dann stehen sie wirklich sehr gut da. Sie sind alle im grünen Bereich, also Budgetüberschuss vier Jahre hintereinander, einen großen Leistungsbilanzüberschuss vier Jahre hintereinander, der Ölpreis, der sehr stark gestiegen ist nach der Krise 1998 und seitdem immer noch weiter steigt. Es sieht aus, wie so ein Schiff, das mit vollen Segeln fährt. Aber die Zeit, die man jetzt gehabt hat – diese drei, vier Jahre des Aufschwungs, der sehr stark von den Energiepreisen getragen war –, wurde nicht genutzt, um das Schiff wirklich fit zu machen, wenn sich das Wetter verschlechtert oder ändert. Mit anderen Worten: Wenn der Ölpreis morgen fallen würde, dann wäre Russlands Wirtschaft ziemlich stark am schlingern und die Gefahr eines Einbruchs wäre relativ groß. Wir sind der Meinung – man kann es ja ein bisschen berechnen – wir haben jetzt ein Wirtschaftswachstum gehabt von über sieben Prozent im Jahr 2003. Wir glauben, dass das Trendwachstum, das man erreichen könnte, wenn sich der Ölpreis nicht verändern würde, so zwischen vier und fünf Prozent liegt. Der Rest ist im Ansteigen des Ölpreises geschuldet, und es ist doch klar, dass das nicht ewig weitergehen wird, auch wenn es in den letzten Jahren passiert ist. In dem Sinne hat Russland viel Glück gehabt, aber auf die Dauer ist das natürlich keine haltbare Grundlage.
Adler: Man hat ja im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg auch immer in Russland im Auge gehabt, dass, sobald dieser Krieg vorbei ist, sobald die Verhältnisse sich im Irak stabilisiert haben und damit eben auch als Folge irakisches Öl auf den Weltmarkt kommt, dass dann der Ölpreis sinken wird. Ist es jetzt wieder nur Glück für Russland, dass die Krise im Irak länger dauert als erwartet, oder ist das eine Entwicklung, mit deren Prognosen man sich vielleicht auch vertan hat?
Rühl: Da spielen viele Elemente zusammen und das ist nicht nur ein glücklicher Zufall, weil Russland ja auch zum Teil Anspruch hat aus alten Verträgen auf Teile der Förderungsmengen im Irak in der Zukunft. Das weiß keiner so recht, wie das ausgehen wird. Man hat sicher in manchen Ländern, vor allem aber im Westen und nicht so sehr in Russland, zu früh darauf gesetzt, dass das Öl, was im Irak gefördert wird, massiv sofort auf den Markt kommt. Das ist nicht passiert. Wenn das passieren wird, dann wird sich der Ölpreis vielleicht kurzfristig ein bisschen einpendeln. Aber es gibt natürlich zwei ganz starke Tendenzen, die dem entgegenwirken. Das eine ist das Verhalten der OPEC, wo Russland kein Mitglied ist, aber natürlich davon profitiert, dass die also das Angebot immer weiter reduzieren. Und das andere ist die gestiegene Nachfrage vor allem in Asien, und hier vor allem in China. Was sich langfristig sehr, sehr günstig auswirken wird in Russland, ist die gestiegene Nachfrage, die aus China kommt. Und das betrifft Öl, das betrifft Gas, das betrifft Kohle, es betrifft Holz und es betrifft auch Metalle und solche Sachen. Da ist Russland natürlich in der Position, dass es einfach aufgrund seiner geografischen Lage mit dem Bau von zusätzlichen Pipelines oder anderen Transportmitteln diesen Markt relativ einfach bedienen kann.
Adler: Sehen wir einmal diese positive Entwicklung, die gerade im Gange ist – oder zumindest die Aufwärtszahlen, die positiven Zahlen. Wie weit spiegeln diese positiven Zahlen denn wirklich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wider, wie weit hat Russland tatsächlich eine moderne Wirtschaft? Wo klappt’s, wo klappt’s überhaupt nicht?
Rühl: Nein, sie spiegeln natürlich nicht die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wider, sondern sie spiegeln eben den hohen Ertrag auf natürliche Ressourcen wider, die exportiert werden. Und all diese Ölökonomien und ölabhängigen Ökonomien haben ja auch ihre Schattenseiten. Es gibt zwar das kanadische und norwegische Modell auf der einen Seite, Wirtschaften, die im Falle Norwegens vorher schon relativ reich waren und die richtigen Institutionen und rechtsstaatliches Verhalten und so was hatten. Aber es gibt auf der anderen Seite natürlich die ganzen Beispiele wie Indonesien, Nigeria und so, wo Ölabhängigkeit dazu geführt hat, dass es wirklich so Reichtumsinseln gibt in dem See der Armut. Und Russland läuft die Gefahr, also da sind beide Seiten offen, es kann sich nach beiden Seiten entwickeln. Jetzt konkret zu Ihrer Frage. Die russische Wirtschaft fing an von einer Position nicht nur des Staatseigentums, sondern eben auch einer rohen Überindustrialisierung. Sie hatten sehr viel Leute mehr, die in der Manufaktur und Produktion gearbeitet haben – in der Industrieproduktion –, als Länder mit vergleichbaren Einkommenslevels. Und da ist sehr viel passiert, da hat sich sehr viel abgebaut. Gleichzeitig – vor 15 Jahren – hatte Russland natürlich keinen Dienstleistungssektor. Und im Bereich der privaten Dienstleistung hat sich auch sehr viel getan. Er ist rapide gewachsen, aber er ist immer noch sehr viel kleiner, als die Statistiken ihn erscheinen lassen und auch sehr viel kleiner als in vergleichbaren Ländern. Was mir ein bisschen Sorgen macht, ist, dass Russland natürlich anfing auch mit einem großen Staatsdienstleistungssektor, also staatliche Dienste, die sehr aufgebläht waren – Gesundheitsvorsorge, Erziehung und so was. Und was man jetzt beobachtet hat über die letzten paar Jahre ist, dass die Anzahl derjenigen, die im öffentlichen Dienst beschäftigt werden, gestiegen ist, und zwar wesentlich höher jetzt als Anteil der Gesamtbeschäftigten, als in vergleichbaren Ländern. Und die Vermutung, dass es sich dabei allerdings nur um Bürokraten handelt und zusätzliche Verwaltungseinheiten, die geschaffen werden in Moskau oder in den Provinzhauptstädten, ist nicht richtig. Was hier passiert ist, ist, dass meistens die ärmsten Regionen Leute eingestellt haben, die ansonsten arbeitslos und ohne jedes Einkommen wären. Also, das soziale Netz ist ja nicht existent. Und die haben die eingestellt als Straßenfeger, als Reinigungskräfte in Krankenhäusern oder in Schulen, zum Teil sogar als Lehrer. Und da ist ein großes Potential von Leuten, die natürlich für ganz andere Tätigkeiten ausgebildet waren, die jetzt hier als Niedriglohnempfänger im öffentlichen Dienst die öffentliche Kasse belasten. Und weil das in den ärmsten Regionen stattfindet, sind das meistens auch die Regionen, die in der Tat dann ihre Löhne nicht bezahlen können und sich umdrehen und nach Transfers, vor allem nach Moskau nach mehr Transfereinkommen verlangen und die das in den letzten Jahren auch bekommen haben. Viele dieser Leute sind ja wirklich besser ausgebildet, müssten eigentlich wo anders hinziehen. Aber man vermeidet den kurzfristig schmerzhaften Anpassungsprozess und halst sich im Austausch ein langfristiges Problem auf, finanziert durch diese Öleinnahmen.
Adler: Wenn man jetzt schaut, dass es diesen Haushaltsüberschuss gibt, dann kann man ja vielleicht leicht auf die Idee kommen, dass man sagt: Wenn die Kassen jetzt gerade voll sind – warum erhöht man dann nicht die Renten, warum erhöht man dann nicht die Sozialleistungen?
Rühl: Das ist ja passiert, also es ist ja eine Neuerung, dass Renten überhaupt bezahlt werden. Und das ist wahrscheinlich das Element, das Putin mit am populärsten macht. Da ist es einerseits die politische Stabilität, die nach den Jahren, diesen unruhevollen, rastlosen Jahren, von Leuten einfach begrüßt wird, deren Naturell wahrscheinlich es auch eher entspricht, in stabilen Verhältnissen zu leben. Und zum anderen ist es so, dass Putin angekündigt hat und als erster auch eingelöst hat, dass Pensionen, Renten und auch Staatsgehälter pünktlich bedient werden. Er hat es ja auch um einiges erhöht, das muss man ihm auch zugestehen.
Adler: Aber immer noch nicht in dem Maße, dass das Drittel unter dem Existenzminimum verschwindet.
Rühl: Man könnte sie vielleicht noch ein bisschen erhöhen mit diesem einen Prozent Überschuss, das man im Budget hat. Das würde aber niemanden besonders glücklich machen, weil die Erhöhung fast nicht spürbar ist, die der Einzelne hat. Man kann letzten Endes die Wirtschaft nicht da drauf fußen, dass man nur Umverteilung betreibt. Man sagt, der Staat nimmt es hier mit vollen Händen auf der einen Seite und gibt es dann den Pensionären und Staatsbediensteten auf der anderen Seite. Letzten Endes wird sich eine Veränderung dieser Armutssituation erst dann einstellen, wenn man eine differenzierte und breit entwickelte Wirtschaft hat, wo der Privatsektor eben stark genug ist, um auch Beschäftigung und Konsum und Investitionen zu tragen und der Privatsektor eben nicht nur aus dem Ölsektor besteht.
Adler: Die Wahl ist entschieden. Es gibt ein paar Kandidaten, bei denen man sich eigentlich scheut, überhaupt das Wort ‚Herausforderer’ zu benutzen. Dennoch, wenn Sie sich die Kandidaten angucken, gibt es da jemanden, wo Sie sagen: Wenn der- oder diejenige tatsächlich die Chance hätte, an die Macht zu kommen, das wäre gar nicht so schlimm für Russland oder vielleicht sogar besser für Russland als unter Putin?
Rühl: Nun, ich war schon immer der Meinung, dass im Prinzip diese Angst des Westens vor dem einen oder anderen Kandidaten oft fehlplaziert war und man viel eher gut daran getan hätte, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das ist ja in anderen Ländern Mitte der 90er Jahre überall passiert, dass sogar die Kommunisten, die drangekommen sind, sich sehr geändert hatten. In Russland haben sie sich bisher noch nicht geändert. Als Wirtschaftswissenschaftler finde ich zwei Kandidaten von Interesse. Da ist auf der einen Seite Frau Chakamada, die für den liberalen Wirtschaftsflügel steht, der gerade in den Parlamentswahlen eine fürchterliche Niederlage erlitten hat. Und es ist einfach interessant zu sehen, in welchem Ausmaß sie Unterstützung mobilisieren kann. Und ich vermute, dass es wirklich ein sehr geringes Ausmaß sein wird und ihre Stimmenanteile wieder unter fünf Prozent oder um die fünf Prozent sind. Und das sagt einem dann natürlich auch was über die Einstellung der Bevölkerung zu den sogenannten Reformern, die sich in dieser Person jetzt als Kandidatin verkörpern. Man muss einfach sehen, wenn der Durchschnittsrusse ‚Marktreformen’ hört, dann rennt er erst einmal in Deckung, weil die Erfahrungen nicht so glänzend sind. Der zweite Kandidat, den ich interessant finde, ist Herr Glasjew, und zwar einfach deswegen, weil in Russland die Fronten ja so verhärtet waren auf der einen Seite zwischen dem Jelzin-Camp und den sogenannten Reformern, und auf der anderen Seite dieser sehr starken kommunistischen Partei, die zumindest von außen her oder aus meiner Sicht komplett unreformiert aussah, also wirklich wie so ein Monolith aus sowjetischen Zeiten sich da herübergerettet hat. Und Glasjew ist eher so jemand, der so eine Art sozialdemokratischer Richtung verkörpert. Und ich glaube, so etwas wäre in Russland bitternötig, dass einfach sich verschiedene Traditionen entwickeln und es nicht nur diesen neokonservativen orthodoxen Wirtschaftsflügel gibt und die kommunistische Partei und dazwischen den Geheimdienstpräsidenten. Glasjew will ich jetzt nicht unterstützen und so. Aber die Ansätze, die da gemacht werden, wirtschaftspolitisch zu sagen, man müsste mehr umverteilen – genau was Sie gefragt haben –, man müsste den Ölüberschuss irgendwie einsammeln von Staats wegen und dann an die ärmeren Bevölkerungsteile verteilen, und das wäre machbar in so einem Ausmaß, dass eben jeder besser dran wäre, spürbar besser dran wäre: Das sind Thesen natürlich, die man in jedem westlichen Land auch hören würde, ohne dass man deswegen gleich Panikstimmung erzeugen würde. Und ich glaube, das ist ein Anzeichen von Modernisierung, dass sich also solche verschiedenen Elemente sich jetzt auch rausbilden. Und daher ist natürlich alles, was Wettbewerb erhöht, in der Politik immer begrüßenswert. Und von daher finde ich das ganz interessant. Auf der anderen Seite ist es so, dass keiner von den beiden eine ernsthafte Chance hat. Und wenn Sie mit irgendeinem Investment-Banker hier in Russland reden, der herkommt - die reden inzwischen von dem ‚Putin-Risiko’. Damit meinen sie nicht das Risiko, dass Herr Putin irgendwas falsch macht, sondern das Risiko, dass ihm irgendwas passiert. Die sagen, er ist so allein auf einsamer Strecke – wenn der weg ist, was passiert dann? Man sollte ganz genau hingucken, was passiert. Nicht diese nächsten vier Jahre, sondern ob es danach noch mal eine Zusatzperiode gibt oder nicht. Sie wissen, dass die Verfassung ja vorschreibt, dass der Präsident nur zweimal für vier Jahre gewählt werden kann. Und jetzt ist schon Spekulation in aller Munde – und man kann sich das ja vorstellen, wie so etwas geht –, Wie kann man denn so etwas ablehnen, wenn 80 Prozent der Bevölkerung rufen und so.
Adler: Welche Aufgaben sehen Sie für die zweite Amtszeit – reden wir erst einmal von der zweiten, von der vor Putin liegenden Amtszeit – für Russland?
Rühl: Also, in allererster Linie die Reformen wieder in Gang zu bringen. Und zwar gibt es da eine große Palette: Staatsmonopole müssen ausgelüftet werden, das Finanzsystem muss reformiert werden. Ganz wichtig: Die öffentliche Verwaltung muss reformiert werden, geändert werden, und dann natürlich das Gesundheits- und das Erziehungssystem. Das sind große Vorhaben und die haben alle zwei Sachen gemeinsam: Sie sind alle kompliziert, wie man jetzt in Deutschland auch lernt, und auf der anderen Seite sind sie alle Reformen, die jetzt gegen große Interessen verstoßen. Und diese Interessensvertretungen und Interessensverbände haben wirklich jahrelang jetzt Zeit gehabt, die Hacken einzugraben und zu lernen, wie man hinhaltend Widerstand leistet. Und das beobachten wir überall jetzt, also ob es um große Banken geht oder um die Bürokratie, die sich natürlich nicht selber zusammenstreicht, oder auch um so ganz simple Sachen, wie kommunale Dienstleistungen zu reformieren – was Preiserhöhungen bedeutet, wo dann die Leute dagegen rebellieren selbstverständlich. Überall hat man es mit diesen Interessensgruppen zu tun. Und es wird von daher sehr schwer und es wird einer ganz bestimmten Anstrengung bedürfen, das in Gang zu kriegen. Und ich bin gespannt, ob das erfolgt. Es ist nicht damit getan, wie jetzt geredet wird, die nächsten 22 Gesetze durch die Duma zu bringen, die natürlich allem zustimmen wird, sondern zu welchem Ausmaß die überhaupt angewendet werden und dann durchgesetzt werden. Das ist eine ganz andere Frage. Da hat man jetzt so lange gewartet, dass also wirklich so diese Mischung aus Ölreichtum und ‚wir haben ja schon so viel in der Vergangenheit gemacht und wollen von Reformen nichts mehr hören’ – das hat zu einem Klima geführt, wo sich gar nichts mehr bewegt. Das ist sehr gefährlich. Das ist das Erste und Wichtigste, um das aufzubrechen. Und dann natürlich, denke ich mal, dass die üblichen Probleme auch auf der Tagesordnung stehen, Russland weiter zu integrieren und aufzupassen, dass also – Russland hat ja schon Tendenzen zur Isolierung, dass das nicht schlimmer wird. Ich habe neulich eine Zahl gehört, dass im Jahr 2002 18 Millionen Grenzübertritte waren von Russland ins Ausland, inklusive der Nachbarländer, also der andern GUS-Staaten. Und wenn man sich überlegt, wie viele Pendler dann dabei sein müssen – Aserbeidschaner, Armenier, Kasachstaner –, dann heißt das unter dem Strich, dass für eine Nation von 144 Millionen ein extrem geringer Anteil eigentlich in andere Länder fährt oder andere Erfahrung sammelt. Und unter solchen Bedingungen ist es noch wichtiger als sonst schon, Offenheit zu gewährleisten und diesen vorhandenen isolationistischen und nationalsozialistischen Tendenzen nicht weiter nachzugeben.
Adler: Russland ist es unter Putin gelungen, in den regulären Kreis der G-8 aufgenommen zu werden. Wir wissen alle, dass Russland bei weitem nicht zu den acht wirtschaftlich stärksten Nationen der Welt gehört. Wann – Prognose des Chefs des Moskauer Büros der Weltbank Christof Rühl, Prognose: Wann wird Russland rechtmäßig sozusagen dazugehören?
Rühl: Unter die acht reichsten Pro Kopf-Einkommen? Ich glaube, irgendwann wird es der Fall sein, weil es einfach all diese Voraussetzungen mitbringt. Und ich würde denken, dass es bestimmt noch 25 Jahre dauert.