Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Rühren an einem Tabu

Antisemitismus nach 1945 wurde von der polnischen Gesamtgesellschaft geduldet und auch getragen. Das zeigt der in Princeton lehrende Historiker Jan Tomasz Groß anhand von zahlreichen Fallbeispielen in seinem Buch "Angst". 2006 löste es in Polen eine heftige Debatte aus. Jetzt ist es auch auf Deutsch erschienen.

Von Melanie Longerich | 26.11.2012
    Er lässt einfach nicht davon ab, die polnische Gesellschaft kollektiv in die Pflicht zu nehmen: Jan Tomasz Groß, der in Princeton lehrende Historiker mit polnisch-jüdischen Wurzeln. In die Pflicht nehmen für das, was nach Kriegsende geschah: Bis zu 1500 polnische Juden wurden ermordet, von Polen. In spontanen Pogromen wie in Rzeszów, Krakau und Kielce - aber auch in ganz alltäglichen Situationen:

    "Es war ein verbreitetes geheimes Einverständnis mit der von den Nazis betriebenen Ausplünderung und schließlich Ermordung der Juden, das den polnischen Antisemitismus nach dem Krieg sich ausbreiten ließ."

    Schreibt Groß in seinem Vorwort zu "Angst". Wie war das möglich? Und warum zeigte sich gerade in Polen "nach Auschwitz" der Antisemitismus in besonders aggressiver Form? Das sind die Leitfragen, die den Historiker und Soziologen durch sein Buch begleiten. Und er findet seine Antwort, indem er den Antisemitismus in einem größeren Zusammenhang stellt - einerseits mit dem Holocaust, andererseits mit der Errichtung der kommunistischen Herrschaft. Denn die kommunistischen Behörden, so Groß, ignorierten die Leiden, welche den jüdischen Bürgern Polens durch ihre Nachbarn zugefügt worden waren und wurden.

    "Als Stalins immer aggressiverer Antisemitismus ins Spiel kam, wurde der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag zwischen den kommunistischen Behörden und der jüngst unterworfenen polnischen Gesellschaft – die Abmachung, dass es für beide Seiten von Nutzen sei, das Schicksal der polnischen Juden während des Krieges nicht zum Thema zu machen, dass die Behörden nicht ergründen würden, was genau mit den Juden während des Krieges geschehen war, und dass sie es befürworten und unterstützen würden, wenn der Rest der polnischen Judenheit das Land verließe – zu einer gegebenen Tatsache."

    Groß konzentriert sich - neben Archivmaterial- besonders auf zeitgenössische Publizistik und Augenzeugenberichte - und dokumentiert dabei akribisch und unerbittlich, wie einfach es sein konnte, dass für Juden schon eine alltägliche Bahnfahrt tödlich enden konnte, wie der Bericht einer Jüdin zeigt. Sie musste zusehen, wie polnisches Militär ihren Mann gut eineinhalb Jahre nach Kriegsende ermordete:

    "Während der Zug an der Station Kamieñsk hielt, kam ein Mann in Zivil, aber mit einer Militärmütze mit Adler sowie einer Maschinenpistole ins Abteil. Als er zu meinem schlafenden Mann kam...riss er ihm den Mantel weg und rief: 'Ich hab Dich, Mosche! Heraus, heraus, aussteigen.' Mein Mann sträubte sich. Daraufhin pfiff der Angreifer, und sofort erschien ein zweiter Mann in Begleitung des Schaffners. In der Zwischenzeit setzte sich der Zug in Bewegung und der Angreifer stieß meinen Mann aus dem Waggon und sprang hinter ihm hinaus. Die Passagiere wie auch der Schaffner reagierten nicht auf den Zwischenfall, ganz im Gegenteil, sie lachten und führten sich ziemlich unanständig auf."

    Anhand zahlreicher Einzelschicksale zeigt Groß: Das Verhalten wurde von der Gesamtgesellschaft geduldet – und getragen. Eine These, die sich durch all seine Bücher zieht - und die auch bei der Erstveröffentlichung von "Angst" 2006 hohe Wellen schlug. Groß wurde als Nestbeschmutzer diffamiert, einige Politiker wollten seinetwegen sogar das Strafrecht verschärfen: Bei der "Lex Groß" sollte demjenigen Gefängnis drohen, der "öffentlich die polnische Nation bezichtigt, an kommunistischen oder nationalsozialistischen Verbrechen teilgenommen zu haben bzw. für diese verantwortlich zu sein. Erst eineinhalb Jahre später wurde der Paragraf vom Verfassungsgericht wieder kassiert. Immer wieder thematisiert Jan Tomasz Groß in seinen Büchern den polnischen Antisemitismus, dessen Opfer er einst auch selbst wurde. Groß wurde 1947 in Warschau geboren. Sein Vater: ein Holocaust-Überlebender. Groß studierte Physik an der Uni Warschau, bis März 1968, bis zu den Studentenprotesten, die von den kommunistischen Machthabern mit einer brutalen und antisemitischen Kampagne beantwortet wurden. 15.000 Juden verließen das Land. Auch die Familie Groß. Eine Antwort auf den Antisemitismus in Polen findet Groß in der Angst. Nicht die der zurückgekehrten Juden vor ihren Nachbarn – sondern vor allem umgekehrt:

    "Weil sie von ihren polnischen Nachbarn gekränkt und im Stich gelassen worden waren, lösten die Juden, die nach dem Krieg zurückkehrten, Hass und Entsetzen aus, als vom Tod wieder auferstandene rechtmäßige Eigentümer der mit List oder Gewalt angeeigneten Güter, als Symbol der begangenen Sünde. Kein Wunder, dass die Aggressionen gegen den Juden, den man sich als UB-Agenten und Blutsauger in einer Person vorstellte, gesellschaftliche Zustimmung fand. Die Absurdität passte hervorragend zu der Aufgabe, die sie erfüllen sollte; Durch die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer die quälende Gewissheit zu übertönen, dass man früher oder später genötigt sein würde, sich für den Raub des Eigentums zu verantworten und sein Gewissen zu erforschen."

    Die einzige wirkliche Autorität, die die antisemitische Wut hätte eindämmen können, wäre nach Groß' Ansicht die Kirche gewesen. Doch bis auf wenige Ausnahmen übte sich diese im Wegschauen:

    "Gewiss sind auch Priester nur Menschen, und man kann nicht erwarten, dass sie sich in ihrem Verhalten von dem Umfeld, in dem sie ihren Dienst leisten, allzu sehr unterscheiden, doch hätten sie auf unbedingte Einhaltung zumindest eines der Zehn Gebote bestehen müssen: du sollst nicht töten. Leider mangelte es dem katholischen Klerus – bezüglich der auf polnischem Boden vollzogenen Vernichtung der Juden – an dieser elementaren Selbsterkenntnis."

    Groß Vorwurf der Mitschuld an den antisemitischen Ausschreitungen spaltete die katholische Kirche, und führte zu einer heftigen Debatte. Die generelle Kritik – Groß neige zu Verallgemeinerung und Vereinfachung - mag an manchen Stellen berechtigt sein. Und dennoch: Groß hat einen großen Beitrag zur Aufarbeitung des Antisemitismus' im Land geleistet. Bester Beweis: Bei seinem Buch "Goldene Ernte", das im vergangenen Jahr in Polen erschien und in dem er die Profitgier beschreibt, mit der sich viele Polen am Holocaust bereichert hätten, war der Aufschrei nicht mehr ganz so groß. Schließlich ist es heute im historischen Mainstream längst Fakt, dass die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen erzählt werden muss. Wer "Angst" liest, sollte berücksichtigen, dass das Buch nicht mehr taufrisch ist. Und trotzdem wird man merken, dass dies Groß' eindrückliche Verortung Polens in der Nachkriegszeit nicht schmälern wird.

    Jan T. Groß: Angst: Antisemitismus nach Auschwitz in Polen.
    Suhrkamp Verlag, 454 Seiten, 26,95 Euro
    ISBN: 978-3-518-42303-5