Rürup: Nun, in diesem Jahr, kann man sagen, ist die konjunkturelle Entwicklung gelaufen - gemessen an der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts überraschend erfreulich im Vergleich zu den Prognosen des letzten Jahres. Allerdings, der Aufschwung, den wir dieses Jahr haben, ist im Wesentlichen - oder sagen wir ausschließlich - exportgetrieben. Und das hat natürlich auch gewisse Konsequenzen, beispielsweise für das Steueraufkommen. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in diesem Jahr wird Ende des Jahres einen Zuwachs in der Größenordnung von etwa 1,8 Prozentpunkte bringen. Das ist durchaus erfreulich. Was nicht so erfreulich ist, dass wir nach wie vor am Tropf des Exportes hängen und die Binnennachfrage, konkret die Investitionen, der Konsum sind noch nicht angesprungen.
Geers: Was erwarten Sie 2005?
Rürup: Nun, das ist eine gute Frage. 2005 wird ganz entscheidend davon abhängen, ob der Export, der sich ja wohl auch mittelfristig etwas abschwächen wird, weil die Weltlokomotive der Wirtschaft - die USA - etwas an Fahrt verliert. Ob der Export ersetzt wird durch die Investitionen und durch den Konsum - noch kann man da keine deutlichen Belebungstendenzen erkennen. Allerdings muss man wissen, dass wir einen ganz, ganz massiven rückgestauten Investitionsbedarf haben und auch einen rückgestauten Bedarf an langlebigen Konsumgütern. Es ist gegenwärtig sehr schwierig, eine Prognose für das nächste Jahr zu machen. Die Expansion wird weitergehen. Ob sie das Tempo diesen Jahres halten kann oder ob es beschleunigt wird, das kann man gegenwärtig noch nicht sagen, zumal auch noch keinerlei Daten für das zweite Halbjahr diesen Jahres vorliegen.
Geers: Sie haben bereits erwähnt, dass der Exportboom auf die Binnennachfrage einfach nicht übergesprungen ist, weder in diesem Jahr, auch nicht im letzten Jahr, und möglicherweise wird das auch im nächsten Jahr nicht passieren. Die konjunkturelle Verunsicherung ist mit Händen zu greifen. Die Verbraucher sehen, was in den großen Unternehmen passiert. Beispiele sind die Verhandlungen bei Opel oder VW. Sie erfahren, dass im nächsten Jahr Preiserhöhungen anstehen bei wichtigen Gütern wie Strom und Gas. Kann das Ganze den Aufschwung dann im nächsten Jahr kaputt machen?
Rürup: Nun, natürlich kann es ihn gefährden. Aber man sollte nicht so pessimistisch sein und nur auf die Risikofaktoren schauen. Es gibt durchaus natürlich auch einige positive Faktoren, und ich habe Ihnen die positiven Faktoren genannt. Es ist einmal der sowohl bei den Investitionen als bei dem Konsum bestehende, nicht befriedigte, rückgestaute Bedarf. Und auch das müssen wir sehen: Am Ende dieses Jahres wird der Beschäftigungsabbau zum Erliegen kommen, und wir können davon ausgehen, dass wir zum Beginn des nächsten Jahres eine positivere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben. Über die Gründe können wir gleich noch reden. Und das wird natürlich auch auf das - sagen wir mal - Verbraucherverhalten zurückschlagen. Nämlich in diesem Jahr hatten wir doch recht spürbare Steuererleichterungen Anfang des Jahres, aber zeitgleich hatten wir eine unangenehme Beschäftigungsentwicklung. Wir hatten die Gesundheitsreform, die natürlich auch verunsicherte, und dann hatten wir die Sozialreformdebatte. Und genau diese Debatten haben wir im nächsten Jahr nicht mehr. Die Gesundheitsreform wird ihre positiven Wirkungen entfalten, und wir können ziemlich sicher sein, das ist jedenfalls meine Ansicht, dass die Befürchtungen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit Hartz gehegt werden, wenn es einmal wirkt, in diesem Maße nicht zum Tragen kommen. Und auch da, denke ich, wird sich die Lage entspannen.
Geers: Sie erwähnten bereits, dass sich Ihrer Ansicht nach der Arbeitsmarkt oder die Lage am Arbeitsmarkt entspannen wird. Was erwarten Sie da konkret?
Rürup: Nun, also ich erwarte konkret, dass wir im nächsten Jahr einen Beschäftigungszuwachs haben werden - auch, das möchte ich sagen, aufgrund eben der Arbeitsmarktreformen. Nämlich diese Arbeitsmarktreformen zielen ja darauf ab - technisch formuliert - die so genannte Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums zu senken. Die Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums ist diejenige Wachstumsrate, die erforderlich ist, damit neue Jobs entstehen. In der letzten Zeit lag diese Beschäftigungsschwelle bei etwa zwei Prozent. Das heißt, wir brauchen zwei Prozent Wirtschaftswachstum, damit sich hier am Arbeitsmarkt was tat. Diese Schwelle ist am sinken, und sie wird auch weiter sinken. Und das bedeutet, dass wir in der Zukunft selbst bei einem geringeren Wachstum positive Beschäftigungseffekte haben. Wir können ja auch in diesem Jahr bereits sehen, dass im Vorfeld Hartz zu wirken beginnt. Ja, das müssen wir doch eigentlich akzeptieren. Deswegen sollte man nicht so pessimistisch sein. Es gibt Risikofaktoren für das nächste Jahr, aber es gibt auch - sagen wir mal - positive Prädiktoren, Und wenn Sie mich dann im November noch einmal fragen, dann würde ich Ihnen mit Sicherheit sehr viel Präziseres über das nächste Jahr sagen können.
Geers: Gut, so weit sind wir noch nicht, Herr Professor Rürup. Sie sagen dennoch, die Arbeitsmarktreformen wirken, sie wirken auch teilweise jetzt schon. Das heißt, wir sollten jetzt die Hände davon lassen, keine Nachbesserungen beschließen, so wie es ja teilweise immer noch gefordert wird, und statt dessen das Ganze erst einmal am 1. Januar so kommen lassen wie es jetzt beschlossen ist?
Rürup: Ich würde dringend davon abraten, jetzt eine Nachbesserungsdebatte zu führen, nämlich das ist auch eine Verunsicherung. Man muss sich einmal auf gegebene Regeln verlassen können. Ich will nicht sagen, dass Hartz - oder die Arbeitsmarktreformen - für ewige Zeiten sakrosant sind, aber jetzt sollten die beschlossenen Maßnahmen umgesetzt werden und wirken können, nämlich auch darauf müssen sich natürlich die Konsumenten und Arbeitnehmer verlassen können, bei allen damit verbundenen Härten.
Geers: Umgekehrt heißt es aber auch, dass gerade diese Arbeitsmarktreformen dazu führen, dass die Leute noch weiter vorsichtig bleiben, da sie nicht wissen, wie stark sie davon individuell betroffen sind. Gleichzeitig wissen die Verbraucher, dass ihnen zum ersten Januar beispielsweise auch andere Reformen ins Haus stehen, die Pflegeversicherung wird beispielsweise teurer. Es wird auch mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hinauslaufen, dass Mitte nächsten Jahres die Arbeitnehmer noch einmal den Zahnersatz und das Krankengeld aus eigener Tasche dann bezahlen müssen mit ihren Beiträgen. All das geht in die Milliarden, was den Kaufkraftentzug betrifft. Glauben Sie nicht, dass da dennoch konjunkturelle Risiken bestehen können?
Rürup: Die Verunsicherung gilt schwergewichtig für dieses Jahr, das muss man sagen, weil man schlicht nicht weiß, was auf einen zukommt. Aber es ist ganz interessant, wenn wir uns mal anschauen, wie sich denn das Transfervolumen an die Arbeitslosen als Folge der Arbeitsmarktreform verändert im nächsten Jahr. Da werden wir feststellen: Es ändert sich faktisch nichts, das Transfervolumen bleibt gleich. Das heißt: Der befürchtete massenhafte Kaufkraftentzug durch die Umsetzung dieser Arbeitsmarktreform, der wird nicht stattfinden. Was wohl der Fall ist - es wird durchaus Härten im Einzelfall geben -, dass es anders organisiert wird, aber der massenhafte Kaufkraftentzug, den wird es nicht geben. Und Sie sprechen natürlich den Zahnersatz an, es ist völlig richtig. Da wird es eine Umschichtung geben, aber dem steht natürlich gegenüber, dass beispielsweise auch die Beitragssätze dann entsprechend gesenkt werden können. Und das Bild für das nächste Jahr ist etwas unklar, ist etwas diffus, das muss man eindeutig sagen. Aber es ist nicht so, dass wir davon ausgehen können, dass der Aufschwung schon zu Ende ist.
Geers: Sie haben empfohlen, an den Arbeitsmarktreformen in ihrer jetzigen Fassung festzuhalten. Es bleibt dennoch ein Sonderproblem in Ostdeutschland, wo die Joblücke sehr groß ist. Auf 33 Arbeitsuchende kommt eine freie Stelle. Ihr Kollege im Sachverständigenrat, Peter Bofinger, hat bereits gesagt, er sei, was das Schaffen von neuen Arbeitsplätzen in Ostdeutschland betrifft, am Ende seines Lateins. Das will heißen, es nützt nichts, durch Leistungskürzungen Anreize zu schaffen für Arbeitslose, sich auf Jobsuche zu begeben, wenn keine Jobs da sind. Daher: Wie kann mehr gefördert werden, vor allem in Ostdeutschland?
Rürup: Das ist völlig richtig. Aber auch das muss man sagen: Durch Arbeitsmarktreformen in Ländern oder in Bereichen, wo definitiv kein Arbeitsplatzangebot ist, kann man relativ wenig bewegen. Und ich glaube auch nicht, dass das Problem in Ostdeutschland schlicht die Hartz-Gesetze sind, sondern für Ostdeutschland fehlt bislang - oder haben die bewährten bisherigen Strategien, dass es zu einer wirtschaftlichen Revitalisierung kommt oder zu einer Annäherung an Westdeutschland, eben noch nicht gegriffen. Das heißt, die Arbeitsmarktreform ist ein Spezialproblem vor dem Hintergrund der generellen Entwicklung in den neuen Ländern. Und da ist es in der Tat bedauerlich, dass der Konvergenzprozess, das heißt die Annäherung an die alten Länder, zum Stocken geraten ist. Und das wird eigentlich die entscheidende Aufgabe - ich würde sogar sagen, für den Rest der Legislaturperiode sein, also hier eine neue Perspektive zu eröffnen. Nämlich so lange sich für die neuen Länder keine positivere Perspektive entwickelt, wird das natürlich auch die Entwicklung in Westdeutschland bremsen.
Geers: Haben Sie denn eine Idee, wie in Ostdeutschland neue Jobs entstehen können, die ja objektiv fehlen?
Rürup: Einen Königsweg gibt es nicht. Man muss sich natürlich fragen, ob man vielleicht die Förderung konzentrieren wird, dass man eine Philosophie der Wachstumspole in den Vordergrund stecken sollte und dass man möglicherweise auch bewusst ein Ungleich- ein Unbalance-growth in Kauf nehmen soll. Wenn ich ein Patentrezept wüsste, dann glaube ich, dann wäre ich nobelpreisverdächtig.
Geers: Macht es denn möglicherweise Sinn, die fälschlicherweise als 'Ein-Euro-Job-Stellen' für Zusatzverdienste vor allem in Ostdeutschland vielleicht zu schaffen, um da Entlastung herbeizuführen
Rürup: Den Weg könnte man gehen, nur ich glaube, wir sollten hier nicht über Ein- oder Zwei-Euro-Jobs reden. Das ist völlig falsch. Man muss auf das Gesamteinkommen richten. Aber in der Tat, wenn es möglich wäre, diese Mehraufwandsentschädigungen in einem größeren Umfang in den neuen Ländern zu schaffen, dann würde das schon Erleichterungen bringen.
Geers: Was kann noch getan werden, um auf dem ersten Arbeitsmarkt Jobs zu schaffen?
Rürup: Auf dem ersten Arbeitsmarkt wäre es zunächst einmal wünschenswert, dass es zu einer Verfestigung des Wirtschaftsaufschwungs kommt, nämlich Arbeitsmarktreformen können Wirtschaftswachstum nicht ersetzen, aber Arbeitsmarktreformen können Wirtschaftswachstum beschäftigungsintensiver machen. Was ich mir noch vorstellen könnte ist, dass die Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose erhöht werden, dass größere Anreize bestehen, auch schlecht bezahlte Arbeitsplätze anzunehmen. In diese Richtung, denke ich, wird man noch weiter denken müssen.
Geers: Braucht man unter Umständen noch schärfere Einschnitte? Die CDU hat beispielsweise Mitte Juli ein Papier vorgelegt. Stichworte waren da, den Kündigungsschutz noch weiter einzuschränken, ein weiteres Stichwort war: Mehr Freiheit für die Lohnfindung auf Betriebsebene, sprich mehr Freiheit dafür, vom Tarifvertrag abweichen zu können. Es ging aber auch um weniger Mitbestimmung, und es ging auch darum, unter Umständen die ABM-Stellen in Westdeutschland ganz wegfallen zu lassen. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Rürup: Also, wir können das im Einzelnen durchgehen. Viele dieser Maßnahmen, sagen wir mal, sind mehr durch Glauben als durch Fakten begründet. Schauen Sie Kündigungsschutz: Es gibt keinen belastbaren Beleg dafür, dass Kündigungsschutz das Beschäftigungsniveau erhöht im internationalen Vergleich. Was ein Rückbau des Kündigungsschutzes bedeuten würde, wäre, dass die Umschlagsgeschwindigkeit größer wird. Aber über das Niveau gibt es eigentlich keine Aussagen. Das ist, glaube ich, ein Nebenkriegsschauplatz.
Geers: Was ist mit der Flexibilisierung?
Rürup: Wir wären gut beraten, den Lohnfindungsprozess näher an den Betrieb heranzubringen. Aber ich denke, dieses über Öffnungsverträge bei Tarifverträgen zu machen, ist meines Erachtens der bessere Weg. Nämlich mit unseren Tarifverträgen sind wir doch viel besser gefahren als wir glauben, und in der Tat sind sie ja bei weitem nicht so unflexibel, wie man gelegentlich glaubt. Also wir brauchen nicht auf das meines Erachtens bewährte Institut unserer Tarifverträge zu verzichten, um die erforderlichen Flexibilisierungspotentiale zu schaffen.
Geers: Kommen wir auf einen anderen Aspekt, Professor Rürup, auf den Teufelskreis ohne Aufschwung werden die Arbeitsmarktreformen nicht greifen. Aber ohne Aufschwung und Entlastungen durch diese Reformen werden auch die Steuereinnahmen hinter dem zurück bleiben, was Vater Staat eigentlich braucht. 2004, Sie haben es zu Beginn dieses Gespräches schon gesagt, ist konjunkturell eigentlich schon gelaufen, aber im Grunde genommen auch fiskalisch, was die Steuereinnahmen betrifft. Es geht also jetzt um 2005. In der kommenden Woche geht es um den Bundeshaushalt des nächsten Jahres. Auf dem Papier, das geduldig ist, stehen knapp 260 Milliarden Euro Ausgaben, 22 Milliarden Euro neue Schulden und 15,5 Milliarden Euro Einnahmen an Privatisierungserlösen. Wie schätzen Sie die Haushaltsrisiken ein?
Rürup: Nun, in diesem Jahr hatten wir ein relativ gutes Wirtschaftswachstum, aber relativ bescheidene Steuereinnahmen. Und das liegt auch daran, dass unser Aufschwung exportgetrieben ist. Und über einen exportgetriebenen Zuwachs hat man weniger Steuereinnahmen, weil die Exporte mehrwertsteuerbefreit sind, als über einen durch eine binnenwirtschaftliche Dynamik getragenen Aufschwung. Wir hatten niedrigere Lohnabschlüsse und wir hatten eine hohe Arbeitslosigkeit. Dieses hat dazu geführt, dass die Steuereinnahmen in diesem Jahr sich sehr schwach entwickelt haben. Wie das im nächsten Jahr sein wird, hängt wiederum davon ab, wie sich das Verlaufsmuster der wirtschaftlichen Entwicklung verändern wird. In dem Maße, in dem es auf die Binnennachfrage, auf die Binnenkonjunktur überspringt, wird man da eine Erleichterung schaffen. Aber das nächste Jahr wird außerordentlich schwer, und Herrn Eichel wird es wohl gelingen, einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen, das heißt, einen Haushalt, bei dem die Nettokreditaufnahme nicht höher ist als die Ausgaben für investive Zwecke. Dazu vereinnahmt er die Privatisierungserlöse. Ob damit allerdings auch das Maastricht-Kriterium erfüllt worden ist, das kann man gegenwärtig noch bezweifeln. Nämlich Privatisierungserlöse gelten nach den Regeln des Maastricht-Vertrages wie eine Schuldaufnahme. Und da muss man noch ein großes Fragezeichen dahinter stellen, ob der verfassungskonforme Haushalt, den er wohl erreichen wird, auch dem Stabilität- und Wachstumspakt entspricht.
Geers: Das heißt mit anderen Worten, die Drei-Prozent-Grenze, die wir in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge überschreiten, könnte im nächsten Jahr unter Umständen zum vierten Mal gebrochen werden?
Rürup: Also, es ist eine große Herausforderung, die im nächsten Jahr zu erreichen. Und das wird sehr, sehr viel schwieriger sein. Und natürlich muss man auch schon sagen: Wir haben jetzt in diesem Jahr einen Aufschwung gehabt, der Aufschwung wird im nächsten Jahr vielleicht etwas schwächer - aber das kann man gegenwärtig noch nicht sagen - weitergehen, wir werden also weiter wachsen. Und wann, wenn nicht ein einem doch relativ guten ökonomischen Umfeld, sollte es möglich sein, diesen Stabilitätspakt zu erfüllen. Das heißt nicht, dass der Pakt, wie wir ihn gegenwärtig haben, der Weisheit letzter Schluss ist. Aber wir dürfen auch nicht vergessen: Der Pakt, so wie wir ihn haben, ist das Ergebnis der deutschen Wünsche. Und insofern ist es schon gerade problematisch, dass Deutschland als Mutter oder Vater des Paktes, sich diesem Pakt nicht so hinreichend verpflichtet fühlt.
Geers: Nun kommt ja unter Umständen Entlastung von anderer Stelle, nämlich davon, dass der Pakt in einigen Punkten aufgeweicht werden soll. Es soll zum Beispiel möglich sein, besondere konjunkturelle Stagnationsphasen stärker zu berücksichtigen. Die Vorschläge sind am Freitag in Brüssel unterbreitet worden. Ist das der richtige Weg, den Druck aus dem Kessel zu nehmen, auf diese Art und Weise?
Rürup: Es ist möglicherweise ein Weg, den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Aber es ist natürlich auch damit das Risiko verbunden, dass der Pakt dann eigentlich nicht mehr seine disziplinierende Wirkung hat. Es ist eine schwierige Debatte, was wir gegenwärtig haben. Diese Regeln des Paktes, drei Prozent und sechzig Prozent, sind ökonomisch nicht zu begründen, aber - und das ist das eigentliche Problem des Paktes - wir haben eine supranationalisierte Geldpolitik bei der EZB, aber wir haben nach wie vor nationale Fiskalpolitiken, die dann sehr unkoordiniert sind. Und weil sie eben unkoordiniert sind, können von der Finanzpolitik der Staaten kontraproduktive Impulse ausgehen. Und wenn es eine Entwicklung in diesem Bereich geben sollte, dann wäre es zu versuchen, über eine Modifikation der außergewöhnlichen Umstände, das sind ja die Ausnahmeregelungen, dass man diese so interpretiert, dass damit eine bessere Abstimmung der nationalen Haushaltspolitiken, der fiskalischen Impulse für den Euro-Raum ermöglicht wird. Allerdings, wie gesagt, verbunden sind diese Chancen einer besseren Abstimmung der nationalen Haushaltspolitiken natürlich mit der Gefahr, dass dann die disziplinierende Wirkung, eben der heilsame Zwang, die Haushalte zu konsolidieren, verloren geht. Das ist ja ein bisschen ein Tanz auf des Messers Schneide und gegenwärtig kann man noch nicht abschätzen, ob die Chancen, die durch diese, sagen wir mal, Um-Interpretation der außergewöhnlichen Umstände, ob die damit verbundenen Chancen einer besseren Koordinierung die Risiken hinsichtlich der Disziplinierung überwiegen. Das kann man gegenwärtig noch nicht sagen.
Geers: Sie sind also skeptisch.
Rürup: Ja.
Geers: Kommen wir auf eine andere Baustelle, Herr Professor Rürup, kommen wir zur Krankenversicherung, gehen wir damit zurück nach Deutschland. Jeder weis, die am Jahresanfang in Kraft getretene Gesundheitsreform wirkt, aber sie wirkt nicht auf ewig, und wir brauchen ein tragfähiges Zukunftskonzept. Rot-Grün favorisiert die so genannte Bürgerversicherung, die Unionsparteien dagegen die Gesundheitspauschale, für die Sie auch stehen, die Sie mit entwickelt haben. Nun wurde vor einer Woche die Parole ausgegeben: Egal, welches Konzept zur Debatte steht, weitere Reformen bis 2006 wird es nicht geben. Wir machen nur noch das Nötigste. Heißt das jetzt, wir führen jetzt die nächsten zwei Jahre den Kampf der Konzepte und diskutieren, bis jedem der Kopf schwirrt?
Rürup: Ich hoffe nicht. Also zunächst einmal ist es wichtig, dass auch Sie konstatieren, dass die Gesundheitsreform wirkt. Als sie Anfang des Jahres in Kraft trat, hatte man ja erst gedacht, das wird gar nichts. Also diese Gesundheitsreform wirkt, und das verschafft natürlich auch Zeit, eben genau diese anstehende Finanzierungsreform sehr, sehr gründlich zu diskutieren. Und da ist eine gründliche Diskussion erforderlich, denn der Teufel steckt im Detail.
Geers: Heißt das jetzt, dass wir jetzt zwei Jahre lang, bis 2006 - Stichwort: Keine Reform bis dahin -, dass wir bis dahin jetzt diskutieren und dem Bürger schwirrt der Kopf und keiner ist am Ende klüger?
Rürup: Das ist eigentlich eine Frage, die Sie an die politischen Parteien stellen müssen. Und zwar wird die Konkretisierung davon abhängen, ob man mit einem konkreten Vorschlag glaubt, eben ein hinreichend wahlkampfwirksames Thema zu haben.
Geers: Aber halten Sie diese Reformpause von fast zwei Jahren für vertretbar? Mir ist noch Bundespräsident Köhler im Kopf, der gesagt hat: Jedes Jahr, in alles so bleibt, wie es ist, ist in Deutschland ein verlorenes Jahr.
Rürup: Ich halte Sie für vertretbar, und zwar aus zwei Gründen. Erstens aus sachlichen Gründen, um die wirklich großen technischen Probleme und offenen Fragen zu lösen, und ein zweites, auch das muss man sagen: Welches Konzept auch immer durchgesetzt würde, eine Umsetzung wäre mit einem der größten gesellschaftlichen Umverteilungsprozesse verbunden, die wir jemals hatten. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Partei allein eine solche sehr große Aufgabe schultern könnte. Und ich würde mir in der Tat wünschen, dass man in den vor uns liegenden zwei Jahren bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte doch sieht, ob es nicht doch Berührungspunkte gibt. Und es gibt Gemeinsamkeiten, nämlich beide Konzepte wollen die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abkoppeln. Und man könnte sich über den Versichertenkreis, denke ich, einigen. Man könnte sich auch über die Kinderversicherung, über eine Familienkasse einigen. Und ich würde es als außerordentlich misslich erachten, wenn so eine gesellschaftlich entscheidende Frage, das wäre die größte und wichtigste Reform für die nächsten 30 Jahre, wenn die in einem massiven gesellschaftlichen Dissens entschieden würde. Deswegen würde ich auch aus politökonomischen Gründen sagen, diese zwei Jahre Diskussionszeit müssen keine verlorenen Jahre sein.
Geers: Das bedeutet, Sie sehen Möglichkeiten, dass beide Modelle, die ja noch sehr, sehr verschieden sind, noch zueinander kommen können, dass es möglicherweise auch eine Mischung aus beiden Modellen geben könnte?
Rürup: Wir haben eine Unvereinbarkeit, was die Art der Beitragsbemessung angeht. Aber wir haben Gemeinsamkeiten, was möglicherweise den Versichertenkreis angeht. Und wir haben möglicherweise auch Gemeinsamkeiten, was denn die Versicherung von Kindern angeht, nämlich Kinder- oder Familienpolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und es würde sich mit beiden Konzepten vertragen, die Versicherung der Kinder eben aus dem System herauszunehmen und dieses über Steuern zu machen. Damit hätte man schon zumindest eine gewisse Schnittmenge an Gemeinsamkeiten. Und außerdem, denke ich, ersetzt eine Finanzierungsreform ja nicht weitere leistungsseitige Reformen, das heißt eine Erhöhung der Wettbewerbsintensität, nämlich ob ein Gesundheitssystem billig oder teuer ist, hängt nicht von der Art der Finanzierung, sondern von der Wettbewerbsintensität ab. Und auch da könnte ich mir noch ein Zusammengehen der beiden großen Parteien vorstellen. Das würde dann den Kostendruck reduzieren.
Geers: Und Sie haben auch keine Angst, dass dieses Thema Bürgerversicherung gegen Prämienmodell, oder eine Mischung aus beidem, dass das zu einem der oder vielleicht sogar dem Wahlkampfthema 2006 wird und dann möglicherweise in diesem Wahlkampf zerredet wird? Es gibt ja Beispiele, wo so etwas in anderen Bereichen passiert ist.
Rürup: Nun, das kann ich mir vorstellen. Natürlich kann man in einem gerechtigkeitsorientierten Wahlkampf das Bürgerversicherungskonzept in den Vordergrund stellen und in einem ökonomieorientierten Wahlkampf das Pauschalprämienkonzept. Aber diese Frage müssen die Parteistrategen beantworten.
Geers: Sollte man eine solche Frage wirklich nur Parteistrategen überlassen, die einen Wahlkampf planen, oder gibt es auch andere Gründe, die für eine Verschiebung sprächen?
Rürup: Es gibt noch andere Gründe. Schauen Sie, die schlechte Akzeptanz der Gesundheitsreform, Pflegeversicherungsreform und Rentenreform resultierte natürlich auch aus dem misslichen ökonomischen Umfeld, in das diese Reformen hereingegeben worden sind. Und hätten diese Reformen im Jahr 2000 stattgefunden, wäre die Akzeptanz eine völlig andere gewesen. Nämlich der richtige Zeitpunkt für Strukturreformen ist natürlich eigentlich der Aufschwung, weil dann die damit verbundenen Härten abgefedert werden können. Nur, im Aufschwung wird üblicherweise von den politischen Führungskräften die Reformnotwendigkeit nicht gesehen. Aber da sich, glaube ich, alle Parteien einig sind, dass wir dringend eine sehr, sehr weitreichende Pflegeversicherungsreform und eine Gesundheitsreform machen müssen, könnte es sogar sein, dass eine gewisse Auszeit die ökonomischen Rahmenbedingungen bessert, um die dann zwingend erforderlichen Reformen leichter mit einer höheren Akzeptanz durchzusetzen.
Geers: Was erwarten Sie 2005?
Rürup: Nun, das ist eine gute Frage. 2005 wird ganz entscheidend davon abhängen, ob der Export, der sich ja wohl auch mittelfristig etwas abschwächen wird, weil die Weltlokomotive der Wirtschaft - die USA - etwas an Fahrt verliert. Ob der Export ersetzt wird durch die Investitionen und durch den Konsum - noch kann man da keine deutlichen Belebungstendenzen erkennen. Allerdings muss man wissen, dass wir einen ganz, ganz massiven rückgestauten Investitionsbedarf haben und auch einen rückgestauten Bedarf an langlebigen Konsumgütern. Es ist gegenwärtig sehr schwierig, eine Prognose für das nächste Jahr zu machen. Die Expansion wird weitergehen. Ob sie das Tempo diesen Jahres halten kann oder ob es beschleunigt wird, das kann man gegenwärtig noch nicht sagen, zumal auch noch keinerlei Daten für das zweite Halbjahr diesen Jahres vorliegen.
Geers: Sie haben bereits erwähnt, dass der Exportboom auf die Binnennachfrage einfach nicht übergesprungen ist, weder in diesem Jahr, auch nicht im letzten Jahr, und möglicherweise wird das auch im nächsten Jahr nicht passieren. Die konjunkturelle Verunsicherung ist mit Händen zu greifen. Die Verbraucher sehen, was in den großen Unternehmen passiert. Beispiele sind die Verhandlungen bei Opel oder VW. Sie erfahren, dass im nächsten Jahr Preiserhöhungen anstehen bei wichtigen Gütern wie Strom und Gas. Kann das Ganze den Aufschwung dann im nächsten Jahr kaputt machen?
Rürup: Nun, natürlich kann es ihn gefährden. Aber man sollte nicht so pessimistisch sein und nur auf die Risikofaktoren schauen. Es gibt durchaus natürlich auch einige positive Faktoren, und ich habe Ihnen die positiven Faktoren genannt. Es ist einmal der sowohl bei den Investitionen als bei dem Konsum bestehende, nicht befriedigte, rückgestaute Bedarf. Und auch das müssen wir sehen: Am Ende dieses Jahres wird der Beschäftigungsabbau zum Erliegen kommen, und wir können davon ausgehen, dass wir zum Beginn des nächsten Jahres eine positivere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben. Über die Gründe können wir gleich noch reden. Und das wird natürlich auch auf das - sagen wir mal - Verbraucherverhalten zurückschlagen. Nämlich in diesem Jahr hatten wir doch recht spürbare Steuererleichterungen Anfang des Jahres, aber zeitgleich hatten wir eine unangenehme Beschäftigungsentwicklung. Wir hatten die Gesundheitsreform, die natürlich auch verunsicherte, und dann hatten wir die Sozialreformdebatte. Und genau diese Debatten haben wir im nächsten Jahr nicht mehr. Die Gesundheitsreform wird ihre positiven Wirkungen entfalten, und wir können ziemlich sicher sein, das ist jedenfalls meine Ansicht, dass die Befürchtungen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit Hartz gehegt werden, wenn es einmal wirkt, in diesem Maße nicht zum Tragen kommen. Und auch da, denke ich, wird sich die Lage entspannen.
Geers: Sie erwähnten bereits, dass sich Ihrer Ansicht nach der Arbeitsmarkt oder die Lage am Arbeitsmarkt entspannen wird. Was erwarten Sie da konkret?
Rürup: Nun, also ich erwarte konkret, dass wir im nächsten Jahr einen Beschäftigungszuwachs haben werden - auch, das möchte ich sagen, aufgrund eben der Arbeitsmarktreformen. Nämlich diese Arbeitsmarktreformen zielen ja darauf ab - technisch formuliert - die so genannte Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums zu senken. Die Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums ist diejenige Wachstumsrate, die erforderlich ist, damit neue Jobs entstehen. In der letzten Zeit lag diese Beschäftigungsschwelle bei etwa zwei Prozent. Das heißt, wir brauchen zwei Prozent Wirtschaftswachstum, damit sich hier am Arbeitsmarkt was tat. Diese Schwelle ist am sinken, und sie wird auch weiter sinken. Und das bedeutet, dass wir in der Zukunft selbst bei einem geringeren Wachstum positive Beschäftigungseffekte haben. Wir können ja auch in diesem Jahr bereits sehen, dass im Vorfeld Hartz zu wirken beginnt. Ja, das müssen wir doch eigentlich akzeptieren. Deswegen sollte man nicht so pessimistisch sein. Es gibt Risikofaktoren für das nächste Jahr, aber es gibt auch - sagen wir mal - positive Prädiktoren, Und wenn Sie mich dann im November noch einmal fragen, dann würde ich Ihnen mit Sicherheit sehr viel Präziseres über das nächste Jahr sagen können.
Geers: Gut, so weit sind wir noch nicht, Herr Professor Rürup. Sie sagen dennoch, die Arbeitsmarktreformen wirken, sie wirken auch teilweise jetzt schon. Das heißt, wir sollten jetzt die Hände davon lassen, keine Nachbesserungen beschließen, so wie es ja teilweise immer noch gefordert wird, und statt dessen das Ganze erst einmal am 1. Januar so kommen lassen wie es jetzt beschlossen ist?
Rürup: Ich würde dringend davon abraten, jetzt eine Nachbesserungsdebatte zu führen, nämlich das ist auch eine Verunsicherung. Man muss sich einmal auf gegebene Regeln verlassen können. Ich will nicht sagen, dass Hartz - oder die Arbeitsmarktreformen - für ewige Zeiten sakrosant sind, aber jetzt sollten die beschlossenen Maßnahmen umgesetzt werden und wirken können, nämlich auch darauf müssen sich natürlich die Konsumenten und Arbeitnehmer verlassen können, bei allen damit verbundenen Härten.
Geers: Umgekehrt heißt es aber auch, dass gerade diese Arbeitsmarktreformen dazu führen, dass die Leute noch weiter vorsichtig bleiben, da sie nicht wissen, wie stark sie davon individuell betroffen sind. Gleichzeitig wissen die Verbraucher, dass ihnen zum ersten Januar beispielsweise auch andere Reformen ins Haus stehen, die Pflegeversicherung wird beispielsweise teurer. Es wird auch mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hinauslaufen, dass Mitte nächsten Jahres die Arbeitnehmer noch einmal den Zahnersatz und das Krankengeld aus eigener Tasche dann bezahlen müssen mit ihren Beiträgen. All das geht in die Milliarden, was den Kaufkraftentzug betrifft. Glauben Sie nicht, dass da dennoch konjunkturelle Risiken bestehen können?
Rürup: Die Verunsicherung gilt schwergewichtig für dieses Jahr, das muss man sagen, weil man schlicht nicht weiß, was auf einen zukommt. Aber es ist ganz interessant, wenn wir uns mal anschauen, wie sich denn das Transfervolumen an die Arbeitslosen als Folge der Arbeitsmarktreform verändert im nächsten Jahr. Da werden wir feststellen: Es ändert sich faktisch nichts, das Transfervolumen bleibt gleich. Das heißt: Der befürchtete massenhafte Kaufkraftentzug durch die Umsetzung dieser Arbeitsmarktreform, der wird nicht stattfinden. Was wohl der Fall ist - es wird durchaus Härten im Einzelfall geben -, dass es anders organisiert wird, aber der massenhafte Kaufkraftentzug, den wird es nicht geben. Und Sie sprechen natürlich den Zahnersatz an, es ist völlig richtig. Da wird es eine Umschichtung geben, aber dem steht natürlich gegenüber, dass beispielsweise auch die Beitragssätze dann entsprechend gesenkt werden können. Und das Bild für das nächste Jahr ist etwas unklar, ist etwas diffus, das muss man eindeutig sagen. Aber es ist nicht so, dass wir davon ausgehen können, dass der Aufschwung schon zu Ende ist.
Geers: Sie haben empfohlen, an den Arbeitsmarktreformen in ihrer jetzigen Fassung festzuhalten. Es bleibt dennoch ein Sonderproblem in Ostdeutschland, wo die Joblücke sehr groß ist. Auf 33 Arbeitsuchende kommt eine freie Stelle. Ihr Kollege im Sachverständigenrat, Peter Bofinger, hat bereits gesagt, er sei, was das Schaffen von neuen Arbeitsplätzen in Ostdeutschland betrifft, am Ende seines Lateins. Das will heißen, es nützt nichts, durch Leistungskürzungen Anreize zu schaffen für Arbeitslose, sich auf Jobsuche zu begeben, wenn keine Jobs da sind. Daher: Wie kann mehr gefördert werden, vor allem in Ostdeutschland?
Rürup: Das ist völlig richtig. Aber auch das muss man sagen: Durch Arbeitsmarktreformen in Ländern oder in Bereichen, wo definitiv kein Arbeitsplatzangebot ist, kann man relativ wenig bewegen. Und ich glaube auch nicht, dass das Problem in Ostdeutschland schlicht die Hartz-Gesetze sind, sondern für Ostdeutschland fehlt bislang - oder haben die bewährten bisherigen Strategien, dass es zu einer wirtschaftlichen Revitalisierung kommt oder zu einer Annäherung an Westdeutschland, eben noch nicht gegriffen. Das heißt, die Arbeitsmarktreform ist ein Spezialproblem vor dem Hintergrund der generellen Entwicklung in den neuen Ländern. Und da ist es in der Tat bedauerlich, dass der Konvergenzprozess, das heißt die Annäherung an die alten Länder, zum Stocken geraten ist. Und das wird eigentlich die entscheidende Aufgabe - ich würde sogar sagen, für den Rest der Legislaturperiode sein, also hier eine neue Perspektive zu eröffnen. Nämlich so lange sich für die neuen Länder keine positivere Perspektive entwickelt, wird das natürlich auch die Entwicklung in Westdeutschland bremsen.
Geers: Haben Sie denn eine Idee, wie in Ostdeutschland neue Jobs entstehen können, die ja objektiv fehlen?
Rürup: Einen Königsweg gibt es nicht. Man muss sich natürlich fragen, ob man vielleicht die Förderung konzentrieren wird, dass man eine Philosophie der Wachstumspole in den Vordergrund stecken sollte und dass man möglicherweise auch bewusst ein Ungleich- ein Unbalance-growth in Kauf nehmen soll. Wenn ich ein Patentrezept wüsste, dann glaube ich, dann wäre ich nobelpreisverdächtig.
Geers: Macht es denn möglicherweise Sinn, die fälschlicherweise als 'Ein-Euro-Job-Stellen' für Zusatzverdienste vor allem in Ostdeutschland vielleicht zu schaffen, um da Entlastung herbeizuführen
Rürup: Den Weg könnte man gehen, nur ich glaube, wir sollten hier nicht über Ein- oder Zwei-Euro-Jobs reden. Das ist völlig falsch. Man muss auf das Gesamteinkommen richten. Aber in der Tat, wenn es möglich wäre, diese Mehraufwandsentschädigungen in einem größeren Umfang in den neuen Ländern zu schaffen, dann würde das schon Erleichterungen bringen.
Geers: Was kann noch getan werden, um auf dem ersten Arbeitsmarkt Jobs zu schaffen?
Rürup: Auf dem ersten Arbeitsmarkt wäre es zunächst einmal wünschenswert, dass es zu einer Verfestigung des Wirtschaftsaufschwungs kommt, nämlich Arbeitsmarktreformen können Wirtschaftswachstum nicht ersetzen, aber Arbeitsmarktreformen können Wirtschaftswachstum beschäftigungsintensiver machen. Was ich mir noch vorstellen könnte ist, dass die Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose erhöht werden, dass größere Anreize bestehen, auch schlecht bezahlte Arbeitsplätze anzunehmen. In diese Richtung, denke ich, wird man noch weiter denken müssen.
Geers: Braucht man unter Umständen noch schärfere Einschnitte? Die CDU hat beispielsweise Mitte Juli ein Papier vorgelegt. Stichworte waren da, den Kündigungsschutz noch weiter einzuschränken, ein weiteres Stichwort war: Mehr Freiheit für die Lohnfindung auf Betriebsebene, sprich mehr Freiheit dafür, vom Tarifvertrag abweichen zu können. Es ging aber auch um weniger Mitbestimmung, und es ging auch darum, unter Umständen die ABM-Stellen in Westdeutschland ganz wegfallen zu lassen. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Rürup: Also, wir können das im Einzelnen durchgehen. Viele dieser Maßnahmen, sagen wir mal, sind mehr durch Glauben als durch Fakten begründet. Schauen Sie Kündigungsschutz: Es gibt keinen belastbaren Beleg dafür, dass Kündigungsschutz das Beschäftigungsniveau erhöht im internationalen Vergleich. Was ein Rückbau des Kündigungsschutzes bedeuten würde, wäre, dass die Umschlagsgeschwindigkeit größer wird. Aber über das Niveau gibt es eigentlich keine Aussagen. Das ist, glaube ich, ein Nebenkriegsschauplatz.
Geers: Was ist mit der Flexibilisierung?
Rürup: Wir wären gut beraten, den Lohnfindungsprozess näher an den Betrieb heranzubringen. Aber ich denke, dieses über Öffnungsverträge bei Tarifverträgen zu machen, ist meines Erachtens der bessere Weg. Nämlich mit unseren Tarifverträgen sind wir doch viel besser gefahren als wir glauben, und in der Tat sind sie ja bei weitem nicht so unflexibel, wie man gelegentlich glaubt. Also wir brauchen nicht auf das meines Erachtens bewährte Institut unserer Tarifverträge zu verzichten, um die erforderlichen Flexibilisierungspotentiale zu schaffen.
Geers: Kommen wir auf einen anderen Aspekt, Professor Rürup, auf den Teufelskreis ohne Aufschwung werden die Arbeitsmarktreformen nicht greifen. Aber ohne Aufschwung und Entlastungen durch diese Reformen werden auch die Steuereinnahmen hinter dem zurück bleiben, was Vater Staat eigentlich braucht. 2004, Sie haben es zu Beginn dieses Gespräches schon gesagt, ist konjunkturell eigentlich schon gelaufen, aber im Grunde genommen auch fiskalisch, was die Steuereinnahmen betrifft. Es geht also jetzt um 2005. In der kommenden Woche geht es um den Bundeshaushalt des nächsten Jahres. Auf dem Papier, das geduldig ist, stehen knapp 260 Milliarden Euro Ausgaben, 22 Milliarden Euro neue Schulden und 15,5 Milliarden Euro Einnahmen an Privatisierungserlösen. Wie schätzen Sie die Haushaltsrisiken ein?
Rürup: Nun, in diesem Jahr hatten wir ein relativ gutes Wirtschaftswachstum, aber relativ bescheidene Steuereinnahmen. Und das liegt auch daran, dass unser Aufschwung exportgetrieben ist. Und über einen exportgetriebenen Zuwachs hat man weniger Steuereinnahmen, weil die Exporte mehrwertsteuerbefreit sind, als über einen durch eine binnenwirtschaftliche Dynamik getragenen Aufschwung. Wir hatten niedrigere Lohnabschlüsse und wir hatten eine hohe Arbeitslosigkeit. Dieses hat dazu geführt, dass die Steuereinnahmen in diesem Jahr sich sehr schwach entwickelt haben. Wie das im nächsten Jahr sein wird, hängt wiederum davon ab, wie sich das Verlaufsmuster der wirtschaftlichen Entwicklung verändern wird. In dem Maße, in dem es auf die Binnennachfrage, auf die Binnenkonjunktur überspringt, wird man da eine Erleichterung schaffen. Aber das nächste Jahr wird außerordentlich schwer, und Herrn Eichel wird es wohl gelingen, einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen, das heißt, einen Haushalt, bei dem die Nettokreditaufnahme nicht höher ist als die Ausgaben für investive Zwecke. Dazu vereinnahmt er die Privatisierungserlöse. Ob damit allerdings auch das Maastricht-Kriterium erfüllt worden ist, das kann man gegenwärtig noch bezweifeln. Nämlich Privatisierungserlöse gelten nach den Regeln des Maastricht-Vertrages wie eine Schuldaufnahme. Und da muss man noch ein großes Fragezeichen dahinter stellen, ob der verfassungskonforme Haushalt, den er wohl erreichen wird, auch dem Stabilität- und Wachstumspakt entspricht.
Geers: Das heißt mit anderen Worten, die Drei-Prozent-Grenze, die wir in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge überschreiten, könnte im nächsten Jahr unter Umständen zum vierten Mal gebrochen werden?
Rürup: Also, es ist eine große Herausforderung, die im nächsten Jahr zu erreichen. Und das wird sehr, sehr viel schwieriger sein. Und natürlich muss man auch schon sagen: Wir haben jetzt in diesem Jahr einen Aufschwung gehabt, der Aufschwung wird im nächsten Jahr vielleicht etwas schwächer - aber das kann man gegenwärtig noch nicht sagen - weitergehen, wir werden also weiter wachsen. Und wann, wenn nicht ein einem doch relativ guten ökonomischen Umfeld, sollte es möglich sein, diesen Stabilitätspakt zu erfüllen. Das heißt nicht, dass der Pakt, wie wir ihn gegenwärtig haben, der Weisheit letzter Schluss ist. Aber wir dürfen auch nicht vergessen: Der Pakt, so wie wir ihn haben, ist das Ergebnis der deutschen Wünsche. Und insofern ist es schon gerade problematisch, dass Deutschland als Mutter oder Vater des Paktes, sich diesem Pakt nicht so hinreichend verpflichtet fühlt.
Geers: Nun kommt ja unter Umständen Entlastung von anderer Stelle, nämlich davon, dass der Pakt in einigen Punkten aufgeweicht werden soll. Es soll zum Beispiel möglich sein, besondere konjunkturelle Stagnationsphasen stärker zu berücksichtigen. Die Vorschläge sind am Freitag in Brüssel unterbreitet worden. Ist das der richtige Weg, den Druck aus dem Kessel zu nehmen, auf diese Art und Weise?
Rürup: Es ist möglicherweise ein Weg, den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Aber es ist natürlich auch damit das Risiko verbunden, dass der Pakt dann eigentlich nicht mehr seine disziplinierende Wirkung hat. Es ist eine schwierige Debatte, was wir gegenwärtig haben. Diese Regeln des Paktes, drei Prozent und sechzig Prozent, sind ökonomisch nicht zu begründen, aber - und das ist das eigentliche Problem des Paktes - wir haben eine supranationalisierte Geldpolitik bei der EZB, aber wir haben nach wie vor nationale Fiskalpolitiken, die dann sehr unkoordiniert sind. Und weil sie eben unkoordiniert sind, können von der Finanzpolitik der Staaten kontraproduktive Impulse ausgehen. Und wenn es eine Entwicklung in diesem Bereich geben sollte, dann wäre es zu versuchen, über eine Modifikation der außergewöhnlichen Umstände, das sind ja die Ausnahmeregelungen, dass man diese so interpretiert, dass damit eine bessere Abstimmung der nationalen Haushaltspolitiken, der fiskalischen Impulse für den Euro-Raum ermöglicht wird. Allerdings, wie gesagt, verbunden sind diese Chancen einer besseren Abstimmung der nationalen Haushaltspolitiken natürlich mit der Gefahr, dass dann die disziplinierende Wirkung, eben der heilsame Zwang, die Haushalte zu konsolidieren, verloren geht. Das ist ja ein bisschen ein Tanz auf des Messers Schneide und gegenwärtig kann man noch nicht abschätzen, ob die Chancen, die durch diese, sagen wir mal, Um-Interpretation der außergewöhnlichen Umstände, ob die damit verbundenen Chancen einer besseren Koordinierung die Risiken hinsichtlich der Disziplinierung überwiegen. Das kann man gegenwärtig noch nicht sagen.
Geers: Sie sind also skeptisch.
Rürup: Ja.
Geers: Kommen wir auf eine andere Baustelle, Herr Professor Rürup, kommen wir zur Krankenversicherung, gehen wir damit zurück nach Deutschland. Jeder weis, die am Jahresanfang in Kraft getretene Gesundheitsreform wirkt, aber sie wirkt nicht auf ewig, und wir brauchen ein tragfähiges Zukunftskonzept. Rot-Grün favorisiert die so genannte Bürgerversicherung, die Unionsparteien dagegen die Gesundheitspauschale, für die Sie auch stehen, die Sie mit entwickelt haben. Nun wurde vor einer Woche die Parole ausgegeben: Egal, welches Konzept zur Debatte steht, weitere Reformen bis 2006 wird es nicht geben. Wir machen nur noch das Nötigste. Heißt das jetzt, wir führen jetzt die nächsten zwei Jahre den Kampf der Konzepte und diskutieren, bis jedem der Kopf schwirrt?
Rürup: Ich hoffe nicht. Also zunächst einmal ist es wichtig, dass auch Sie konstatieren, dass die Gesundheitsreform wirkt. Als sie Anfang des Jahres in Kraft trat, hatte man ja erst gedacht, das wird gar nichts. Also diese Gesundheitsreform wirkt, und das verschafft natürlich auch Zeit, eben genau diese anstehende Finanzierungsreform sehr, sehr gründlich zu diskutieren. Und da ist eine gründliche Diskussion erforderlich, denn der Teufel steckt im Detail.
Geers: Heißt das jetzt, dass wir jetzt zwei Jahre lang, bis 2006 - Stichwort: Keine Reform bis dahin -, dass wir bis dahin jetzt diskutieren und dem Bürger schwirrt der Kopf und keiner ist am Ende klüger?
Rürup: Das ist eigentlich eine Frage, die Sie an die politischen Parteien stellen müssen. Und zwar wird die Konkretisierung davon abhängen, ob man mit einem konkreten Vorschlag glaubt, eben ein hinreichend wahlkampfwirksames Thema zu haben.
Geers: Aber halten Sie diese Reformpause von fast zwei Jahren für vertretbar? Mir ist noch Bundespräsident Köhler im Kopf, der gesagt hat: Jedes Jahr, in alles so bleibt, wie es ist, ist in Deutschland ein verlorenes Jahr.
Rürup: Ich halte Sie für vertretbar, und zwar aus zwei Gründen. Erstens aus sachlichen Gründen, um die wirklich großen technischen Probleme und offenen Fragen zu lösen, und ein zweites, auch das muss man sagen: Welches Konzept auch immer durchgesetzt würde, eine Umsetzung wäre mit einem der größten gesellschaftlichen Umverteilungsprozesse verbunden, die wir jemals hatten. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Partei allein eine solche sehr große Aufgabe schultern könnte. Und ich würde mir in der Tat wünschen, dass man in den vor uns liegenden zwei Jahren bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte doch sieht, ob es nicht doch Berührungspunkte gibt. Und es gibt Gemeinsamkeiten, nämlich beide Konzepte wollen die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abkoppeln. Und man könnte sich über den Versichertenkreis, denke ich, einigen. Man könnte sich auch über die Kinderversicherung, über eine Familienkasse einigen. Und ich würde es als außerordentlich misslich erachten, wenn so eine gesellschaftlich entscheidende Frage, das wäre die größte und wichtigste Reform für die nächsten 30 Jahre, wenn die in einem massiven gesellschaftlichen Dissens entschieden würde. Deswegen würde ich auch aus politökonomischen Gründen sagen, diese zwei Jahre Diskussionszeit müssen keine verlorenen Jahre sein.
Geers: Das bedeutet, Sie sehen Möglichkeiten, dass beide Modelle, die ja noch sehr, sehr verschieden sind, noch zueinander kommen können, dass es möglicherweise auch eine Mischung aus beiden Modellen geben könnte?
Rürup: Wir haben eine Unvereinbarkeit, was die Art der Beitragsbemessung angeht. Aber wir haben Gemeinsamkeiten, was möglicherweise den Versichertenkreis angeht. Und wir haben möglicherweise auch Gemeinsamkeiten, was denn die Versicherung von Kindern angeht, nämlich Kinder- oder Familienpolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und es würde sich mit beiden Konzepten vertragen, die Versicherung der Kinder eben aus dem System herauszunehmen und dieses über Steuern zu machen. Damit hätte man schon zumindest eine gewisse Schnittmenge an Gemeinsamkeiten. Und außerdem, denke ich, ersetzt eine Finanzierungsreform ja nicht weitere leistungsseitige Reformen, das heißt eine Erhöhung der Wettbewerbsintensität, nämlich ob ein Gesundheitssystem billig oder teuer ist, hängt nicht von der Art der Finanzierung, sondern von der Wettbewerbsintensität ab. Und auch da könnte ich mir noch ein Zusammengehen der beiden großen Parteien vorstellen. Das würde dann den Kostendruck reduzieren.
Geers: Und Sie haben auch keine Angst, dass dieses Thema Bürgerversicherung gegen Prämienmodell, oder eine Mischung aus beidem, dass das zu einem der oder vielleicht sogar dem Wahlkampfthema 2006 wird und dann möglicherweise in diesem Wahlkampf zerredet wird? Es gibt ja Beispiele, wo so etwas in anderen Bereichen passiert ist.
Rürup: Nun, das kann ich mir vorstellen. Natürlich kann man in einem gerechtigkeitsorientierten Wahlkampf das Bürgerversicherungskonzept in den Vordergrund stellen und in einem ökonomieorientierten Wahlkampf das Pauschalprämienkonzept. Aber diese Frage müssen die Parteistrategen beantworten.
Geers: Sollte man eine solche Frage wirklich nur Parteistrategen überlassen, die einen Wahlkampf planen, oder gibt es auch andere Gründe, die für eine Verschiebung sprächen?
Rürup: Es gibt noch andere Gründe. Schauen Sie, die schlechte Akzeptanz der Gesundheitsreform, Pflegeversicherungsreform und Rentenreform resultierte natürlich auch aus dem misslichen ökonomischen Umfeld, in das diese Reformen hereingegeben worden sind. Und hätten diese Reformen im Jahr 2000 stattgefunden, wäre die Akzeptanz eine völlig andere gewesen. Nämlich der richtige Zeitpunkt für Strukturreformen ist natürlich eigentlich der Aufschwung, weil dann die damit verbundenen Härten abgefedert werden können. Nur, im Aufschwung wird üblicherweise von den politischen Führungskräften die Reformnotwendigkeit nicht gesehen. Aber da sich, glaube ich, alle Parteien einig sind, dass wir dringend eine sehr, sehr weitreichende Pflegeversicherungsreform und eine Gesundheitsreform machen müssen, könnte es sogar sein, dass eine gewisse Auszeit die ökonomischen Rahmenbedingungen bessert, um die dann zwingend erforderlichen Reformen leichter mit einer höheren Akzeptanz durchzusetzen.