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Ruhrfestspiele Recklinghausen
Der Sturm als Stimmungs- oder Gefühlsbarometer

"Phosphoros", das neue Stück von Nis-Momme Stockmann, ist ein dreistündiges, verwirrendes Paar-Panorama. Es will zwar sehr viel auf einmal, wird in der Regie von Anne Lenk aber ziemlich perfekt umgesetzt.

Von Karin Fischer | 02.06.2014
    Halle der Ruhrfestspiele in Recklinghausen, Blick vom Boden auf ein Glasgebäude, im Vordergrund eine Skulptur
    Die Halle der Ruhrfestspiele in Recklinghausen (dpa/picture alliance/Jan-Philipp Strobel)
    Ein riesiger, niedrig hängender, nach unten gerichteter Bühnenscheinwerfer ist das einzig maßgebliche Requisit dieser Aufführung. Später, wenn der Sturm kommt, wird er bedrohlich schaukeln.
    "In einer Höhe von 1.500 Metern - treffen die Luftmassen von den Azoren und Labrador mit einem äußerst scharfen Temperaturgradient von 45 K zwischen der 10 Grad warmen Subtropikluft und der -35 Grad kalten Polarluft aufeinander."
    Dieser Sturm fungiert auch als Stimmungs- oder Gefühlsbarometer in einem Stück, in dem alles im selben Bühnenraum stattfindet und die extrem kurzen Szenen zwischen ganz unterschiedlichen Paaren fließend ineinander übergehen. Da ist der Kontrabassist, der ins Hotel "Zum Schwarzen Bären" für einen Auftritt kommt und dort auf einen klugen Rezeptionisten trifft.
    "Sie haben mal lange Haare gehabt und unter Einsatz Ihres gesamten Körpers wild den Kontrabass gespielt. Die Leute waren hin und weg von Ihrem Spiel. Sie wurden überhäuft mit Aufmerksamkeit und Preisen. Dann bekamen Sie einen - Schnitt. Weil Sie irgendwann der Meinung waren, dass es das braucht, um weiterhin anders zu sein als die anderen. Und da fing Ihr Unglück an."
    Da ist der Zugbegleiter und seine Brezeln verkaufende Kollegin, die wütende Marlene, die nebenher Physik-Vorlesungen hört, zusammen mit ihrem Freund Boris.
    Boris: "Du ... ähm ... wunderst du dich gar nicht darüber, warum ich dich frage, wie es dir geht?"
    Marlene: "Boris - ich hatte 'nen ziemlich harten Tag. Du kannst dir nicht vorstellen was."
    Boris: "Der Grund, warum ich dich so am Rande, ganz verfloskelt, wie ein zufällig in dein Leben gestolperter Fremder danach frage, wie es dir geht, ist ... dass ich mich langsam so fühle."
    Marlene: "Boris - ich hab jetzt wirklich keinen Bock auf noch so’n Ding."
    Umwerfend deutlich und schmerzvoll
    Lew Katz ist dieser Professor für theoretische Physik, ein mit Sarkasmus und Weltverachtung und Hypochondrie vollgesogener Zeitgenosse, ein Anti-Held und trotzdem der heimliche Held dieses Stücks, sozusagen das Auge des Orkans. Sein Vortrag über das Wesen der Zeit zu Beginn des Stücks ist ebenso brillant wie die Begegnung mit seiner Frau Anne erbärmlich. Lew ist Kommunikationsverweigerer und Fortschrittsverweigerer, er sehnt sich nach dem ganz Großen, nach dem Licht. Doch in der Gegenwart ist nur Schatten. Johannes Zirner und Katrin Röver bilden umwerfend deutlich und schmerzvoll eine Beziehung ab, die auf Unverständnis und nebeneinander Vorbeileben beruht:
    Anne: "Wenn der Sturm jetzt stärker wird, reißt es uns das ganze Dach ab."
    Lew: "Wie lange müssen wir noch über die Dachpappe sprechen?"
    Anne: "Das frag ich mich wirklich auch, Lew."
    Lew: "Anne - es gibt noch andere Dinge im Leben eines Menschen als Dachpappe."
    Anne: "Weißt du was, Lew, das wird dich überraschen, aber: für mich auch! Und das ist auch der Grund, warum ich mir wünsche, dass du deswegen ein wenig Anteil nehmen könntest an diesem gewöhnlichen Scheiß, weil ich damit sonst ziemlich alleine dastehe."
    Lew: "Anne: eine Dachpappe."
    Anne: "Stell mich nicht so hin: Ich weiß, dass es noch andere Dinge gibt als diese Dachpappe. Aber es gibt auch diese Dachpappe."
    Lew: "Lass doch mal jetzt diese Dachpappe."
    Anne: "Verstehst du nicht? Diese Dachpappe - die bin ich!"
    Nis-Momme Stockmanns Stück enthält viele grausame Wahrheiten über Beziehungen und jeder Menge neuartig klingender Sätze über das Uralt-Thema "Liebe". Daneben aber ein wissenschaftliches Fundament, das Lew mit einem Vortrag über das Wesen der Zeit legt - und warum sie ohne die Räume nicht denkbar sei. Fast unmerklich liefert so die theoretische Physik die Blaupause fürs Drama.
    Stockmann liebt seine Charaktere
    Für die langsam sich steigernde Dramatik des Stücks, in dem nicht nur der Sturm zerstörerisch wirkt. Und für die schnellen Szenen, die sich mit der Zeit so ineinander verschränken, dass in der zweiten Hälfte alle gleichzeitig auf der Bühne sind, blitzschnell ihre Rollen wechseln und Dialogfetzen versprühen wie ein Haufen Kugeln beim Billard nach dem Anstoß.Das ist großartig gemacht, vor allem auch von der jungen Regisseurin Anne Lenk, die für Geschwindigkeit, Rhythmik und das unglaublich differenzierte Persönlichkeitsprofil der Schauspieler verantwortlich ist. Natürlich wirkt das dreistündige verwirrende Paar-Panorama auch ermüdend; natürlich gibt es auch ein paar Plattitüden; aber im Gegensatz zu vielen anderen Gegenwartsstücken, die klischeebehaftete Witzfiguren gegeneinander antreten lassen, liebt Nis-Momme Stockmann seine Charaktere und lässt sie um sich und den anderen kämpfen, auch wenn der Geliebte der Feind sein sollte.
    Am Ende, wenn der große Sturm tobt, kommen die Personen einander abhanden wie die Wirklichkeit von Gegenständen, wenn man die vierte Dimension, die Zeit, als transponierende Kraft hinzu denkt. Und die Schauspielerinnen und Schauspieler des Münchner Residenztheaters, allen voran Johannes Zirner, Franz Pätzold und Katrin Röver wirken als Ensemble derart geschlossen, dass kein Sturm und kein Hänger sie umwerfen kann. "Phosphoros" ist ein Stück, das zwar sehr viel auf einmal will, hier aber ziemlich perfekt umgesetzt ist.