Die Unterwelt ist pastellfarben – beige das Wohnzimmer, zartgelb die Küche, fliederfarben das Bad. Alles Ton in Ton. Und auch die Bewohnerinnen dieser bedrückend biederen Zimmerlandschaft fügen sich ein in die Farbpalette. Ihre Outfits wirken wie die Ausstattung einer Olympiamannschaft beim Einmarsch ins Stadion: Verschieden im Detail, doch einheitlich im Gesamteindruck.
Einheitlich vor allem durch die püppchenhafte Gesichtsmaske aus Gummi und die weißblonde, schulterlange Perücke, die eine jede von ihnen trägt. Schaufensterschönheiten, wenn da nicht die unpräzise ausgeschnittenen Löcher wären, durch die den Besucher "echte" Augen anstarren.
In der einstigen Kokerei der Zeche Zollverein hat das Regieteam um Susanne Kennedy seinen begehbaren Orfeo-Parcours eingerichtet. Die Besucher werden in kleinen Gruppen nach einem strengen Zeitplan hineingelassen, nachdem sie zunächst mit einer historischen Standseilbahn in die Mischanlage, das eigentliche Gebäude, gefahren wurden. Imposante Zechenarchitektur, doch für's Staunen bleibt keine Zeit. Treppe um Treppe steigt man tiefer in den gewaltigen Gebäudekorpus – und hört zum ersten Mal Monteverdis Musik, gespielt vom Solistenensemble Kaleidoskop. So originalgetreu und im Zusammenhang wird sie in den kommenden anderthalb Stunden jedoch nicht mehr erklingen.
"Silence is required during the transition."
Was zunächst wirkt wie die Benimmregeln für den weiteren Ablauf, weist beim längeren Hinhören in eine andere Welt. Susanne Kennedy hat zu einer - so der Untertitel des Abends - "Sterbeübung" geladen. Zitate aus dem "Tibetischen Totenbuch" sollen den Parcours-Besucher lehren loszulassen.
"Be not afraid – that what is called death has now come. You are departing from this world. But you are not the only one – death comes to us all."
Schon hinter der Eingangstür zum Parcours lauert die erste Verstörung: Eine gummimaskierte Weißblonde lungert auf dem Kunstledersofa und beäugt durch ihre Sehschlitze die Besucher wie Eindringlinge. Der Rollentausch ist gelungen: Hier betritt nicht Orpheus die Unterwelt, sondern das Publikum, und ihm begegnet gleich ein ganzes Heer von Eurydikes. Während bei Monteverdi die Geliebte eine Randfigur ist, holt sie Susanne Kennedy - vielfach kopiert - in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Beim langsamen Gang durch die Räume fixieren sie die Gäste. Wilden Tieren gleich, bei denen man auch nicht weiß, ob sie einen nicht gleich anspringen.
Susanne Kennedy möchte - wie sie es einmal in einem Interview formulierte - den Zuschauer hypnotisieren. Und das gelingt ihr förmlich in ihrem Ruhrtriennale-Orfeo: Eine Mischung aus Grusel, Neugier und Verstörung packt den Unterwelt-Touristen, der – nur von akustischen Signalen gelenkt - durch die spießbürgerlichen Plastikzimmer wandelt. Es wird größtmögliche Verunsicherung erzeugt durch minimale Verschiebungen und Verzerrungen – in den körperlichen und musikalischen Bewegungen. Immer mehr Eurydike-Klons bevölkern den Parcours und laden jeden Besucher dazu ein, den Raum zu verlassen für eine zutiefst berührende Begegnung: Orpheus steht hinter der nächsten Tür und singt, wenn auch nur wenige Augenblicke lang, für jeden einzeln. Die Wucht des menschlichen Gesangs – sie nimmt einem schier den Atem nach über einer Stunde voller befremdlicher Blicke und Bewegungen in einer nonverbalen Unterwelt.
Ihm, dem irdischen Orpheus, gelingt es wohl noch immer nicht, die schon in der Unterwelt heimische Eurydike loszulassen. Er hadert offensichtlich noch mit seiner "Sterbeübung".
Ein bisschen Zeigefinger-Didaktik ist mit im Spiel, durch eine Art Schnellkurs in buddhistischer Lebensweise scheucht einen Susanne Kennedy. Aber sie löst mit ihrer wirksamen Gefühlsmanipulation schon am Ende der ersten Ruhrtriennale-Woche ein, was sich Intendant Johan Simons gewünscht hatte: Das Publikum solle auch mal raus der Komfortzone und die Kunst zu nahe kommen lassen.