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Rumänien bleibt sitzen

Mehr als die Hälfte aller rumänischen Zwölftklässler sind in diesem Jahr durchs Abitur gefallen. Die Quote ist so hoch wie niemals zuvor und stellt eine Bankrotterklärung für das immer brüchigere Bildungssystem des Landes dar.

Von Thomas Wagner | 22.08.2011
    "Also erstens einmal war das früher immer üblich, dass die Schulnoten keineswegs nach dem Wissen eines Schülers vergeben wurden, sondern häufig aus ganz anderen Gründen. Und an vielen Schulen liegt es überhaupt nicht im Interesse der Lehrer, gute Schüler zu haben. Das ist meine Meinung."

    Corado aus dem westrumänischen Temeswar gehört, wenn man so will, einer Minderheit an. Er hat es nämlich geschafft - das Abitur oder, wie es im Rumänischen heißt, das "Bac", das Baccalaureat. Die Mehrheit der Zwölftklässler an den rumänischen Gymnasien muss dagegen nachsitzen: 120.000 von 200.000 Schulabgängern sind mit Pauken und Trompeten durchgefallen - und nicht nur mit Pauken und Trompeten, sondern vor allem: mit versteckter Kamera.

    "In jedem Klassenraum haben wir vor der Prüfung eine Webcam installiert, die die Schüler genau beobachtete. Und in diesem Jahr haben die Prüfungskommissionen und die Lehrer, die Aufsicht führten, ihre Aufgabe sehr ernst genommen. Sie standen ja auch unter Beobachtung der Webcams. Und so mussten alle die Spielregeln der Abiturprüfung viel genauer einhalten als in den Jahren zuvor", "

    so Simona Liliana Stan vom Schulinspektorat Resita im westrumänischen Kreis Caranseves. Dass die rumänische Abiturprüfung auf Anordnung des Kultusministeriums in Bukarest erstmals komplett videoüberwacht wurde, hatte fatale Folgen: 55 Prozent hagelten durch die Prüfung. Gleich an 26 Gymnasien bestand kein einziger Zwölftklässler das Abitur. Denn viele wurden wegen der Kameras beim Abschreiben ertappt. Andere, die sich aufs Abschreiben verlassen hatten, trauten sich dazu nicht mehr. Doch gerade das Spicken auf mitgebrachten Zettelchen war bislang offenbar eine gängige Methode, um die Prüfung zu stemmen. So berichten es jedenfalls ehemalige Schüler. Zu ihnen gehört Ellie aus Temeswar:

    " "Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass es mit dieser ewigen Abschreiberei ein Ende hat. Damit muss Schluss sein - in allen Prüfungen."

    Nur allzu gerne, erzählen viele Schüler, hätten viele Lehrer ein Auge zugedrückt. Rumänische Zeitungen berichten , dass manche Eltern sich für die guten Noten ihres Nachwuchses in den vergangenen Jahren mit allerlei Geschenken bei den Lehrern bedankt haben sollen - Grund genug, verschärfte Kontrollen einzuführen. Doch damit ist, sagen die Experten, das Dilemma um die schlechten Abiturprüfungen nicht aus der Welt. Ovideo Gant, Abgeordneter im rumänischen Parlament, war vor seiner Politikerkarriere Rektor des deutschsprachigen Nikolaus-Lenau-Gymnasiums in Temeswar; er kennt sich also aus in Schulfragen. Ihm sind vor allem die sogenannten Industrielyzeen ein Dorn im Auge - ein Relikt aus der kommunistischen Ceausescu-Ära. Seinerzeit wurden die ehemaligen Berufsschulen der staatlichen Industriekombinate mit einem Federstrich des Diktators zu Industrielyzeen aufgewertet, an denen die Schüler bis heute das allgemeine Abitur bekommen können. Allerdings sei es, so Ovideo Gant, mit der Ausbildung dort nicht gut bestellt.

    "Ausschließlich aus dieser Kategorie beziehungsweise Lyzeen im ländlichen Raum waren diejenigen, wo kein Einziger die Abiturprüfung geschafft hat. Ich habe immer dafür plädiert, diese Industrielyzeen aufzugeben. Ich halte nichts von diesem Konzept. Die Absolventen sind weder theoretisch noch praktisch gut vorbereitet fürs Leben."

    Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Das Einstiegsgehalt der rumänischen Lehrer liegt gerade mal bei 200 Euro. Damit lässt sich in Rumänien kaum überleben, mit der Folge, dass gerade die besten Lehrer den Schuldienst quittieren.

    "Das passiert sehr oft, vor allem an den deutschsprachigen Schulen, also an den Schulen mit deutschsprachigem Unterricht. Dort sind die Lehrer nicht nur gut ausgebildet in ihrem Fach. Sie sprechen auch sehr gut Deutsch. Vor allem viele deutsche und österreichische Investoren bieten attraktive Arbeitsstellen in der Wirtschaft. Man lebt ja nur einmal, hat sogar Familie, Kinder zu ernähren. Und dann zögert man nicht lange, wenn ein Angebot kommt", "

    Eine Entwicklung, die besonders fatal ist: Denn gerade an den deutschsprachigen Gymnasien in Rumänien haben um die 98 Prozent der Abiturienten die Prüfungen bestanden - im Gegensatz zu gerade mal 45 Prozent im rumänischen Durchschnitt. Wenn immer mehr Lehrer mit Deutschkenntnissen der Schule den Rücken kehren, wäre dieser Standard an den deutschen Gymnasien in Rumänien gefährdet. Die hohe Abitur-Durchfaller-Quote lässt unterdessen auch an den Unis die Alarmglocken läuten. Denn nun fehlen die Studienanfänger. Professor Alexandro Moisuc, Rektor der Agrarhochschule Temeswar:

    " "Wir haben 130 gebührenfreie Studienplätze für besonders Begabte, und kaum Bewerbungen dafür. Bei den gebührenpflichtigen Studienplätzen ist es nicht minder dramatisch: Da haben wir auch gut wie keine Bewerbungen bis jetzt bekommen."

    Die private Uni Appolonia in der nordostrumänischen Stadt Iasi kam deshalb schon auf die Idee, die Abiturpflicht für Erstsemester aufzuheben, was das Bildungsministerium in Bukarest aber umgehend zurückgewiesen hat. Diejenigen, die durchgefallen sind, haben dieser Tage die Möglichkeit, einen erneuten Anlauf in einer zweiten, nachgeschobenen Abiturprüfung zu nehmen. Grundsätzlich aber, findet Simona Liliana Stan vom Schulinspektorat Resita, müsste sich zu allererst die Einstellung in den Köpfen der Schüler ändern:

    "Als Allererstes müsste durchgesetzt werden, dass die Schüler überhaupt zur Schule kommen. Wir haben beispielsweise im Mai eine spontane Anwesenheitskontrolle in allen Klassen gemacht. Und ausgerechnet in der Klassenstufe 12 mussten wir höchste Abwesenheitsquote feststellen. Das ist doch nicht normal!"