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Rundumschlag gegen die Mächtigen

Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Recht der Menschen, die Wahrheit zu erfahren und sich Gehör zu verschaffen, und der Freiheit selbst. Aber im Medienzeitalter ist Unwissenheit Trumpf und das Verschweigen der Wahrheit an der Tagesordnung. Wer beispielsweise auch nur den Versuch macht, den Ursachen der Anschläge vom 11. September auf den Grund zu gehen, zieht den geballten Zorn seiner Kollegen auf sich. "Leute wie John Pilger und Noam Chomsky wollen die Täter offenbar von ihren Verbrechen freisprechen." So formulierte es der australische Journalist und Universitätsprofessor David McKnight, nachdem ich im "Guardian" geschrieben hatte: "Die Wahrheit (über den 11. September) ist, dass der Mord an Tausenden unschuldiger Menschen weder in Amerika noch sonst wo in der Welt gerechtfertigt ist." Für McKnight und diejenigen, zu deren Sprachrohr er sich macht, ist die Ermordung Tausender unschuldiger Menschen in Afghanistan "die globale Entsprechung einer Polizeirazzia gegen das Verbrechen", wobei "Gewaltanwendung bei der Festnahme von Kriminellen manchmal nicht zu vermeiden ist".

Von Klaus Kreimeier | 23.08.2004
    Die schlichte Feststellung, dass ein afghanischer Bauer das gleiche Recht hat zu leben wie ein Bürger New Yorks, ist unmöglich, ist ein Skandal. Die rücksichtslose Zerstörung afghanischer Dörfer, in denen weit und breit kein Taliban- oder Al-Qaida-Kämpfer zu entdecken war, wird als "unvermeidlich" hingenommen. Das Leben mancher Menschen ist nun einmal mehr wert als das anderer, und nur der Mord an friedlichen Bürgern der einen Kategorie zählt als Verbrechen. Auf diese uralte Lüge setzen gleichermaßen die terroristischen Banden von Osama Bin Laden und George W. Bush.

    Und wenn man sich in der Geschichte umsieht, dann befinden sie sich in bester Gesellschaft. Im Rahmen der CIA-Operation "Zyklon" wurden mindestens 35.000 islamische Fundamentalisten, aus denen sich später die Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer rekrutierten, ausgebildet und bewaffnet. Es wäre die Aufgabe von Journalisten, solche Fakten aufzudecken, damit Nachrichten eine Bedeutung haben und sich nicht nur als unaufhörliches Echo im medialen Hintergrundrauschen verlieren.

    Zu den Journalisten, die dieser Aufgabe nachkommen, gehört zweifellos auch der Verfasser dieser Zeilen selbst, der in London lebende John Pilger. Er hat mehr als 50 Dokumentarfilme gedreht, acht Bücher mit spannenden Reportagen und Analysen der Konfliktherde dieser Welt vorgelegt. John Pilger schreibt regelmäßig für den Guardian und den New York Statesman, gelegentlich für die New York Times sowie für australische, französische, italienische und japanische Blätter. Nur deutsche Zeitungen ignorieren ihn konsequent. Und auch auf dem deutsprachigen Buchmarkt gab es bislang nichts von dem in Australien geborenen Briten. Nun hat der Zweitausendeins Versand zwei englische Originalausgaben von Pilger-Büchern zu einem Band zusammengefasst und den Autor für deutschsprachige Leser zugänglich gemacht. "Verdeckte Ziele - Über den modernen Imperialismus" ist das Werk überschrieben.

    Pilgers Bücher, Artikel und Reportagen über zahllose globale und regionale Konflikte unserer Epoche, haben seit 1966, als er noch über den Vietnamkrieg schrieb, fast alle im Journalismus erstrebenswerten Preise eingeheimst; erst jüngst erhielt der Autor den "Emma Award" als Medien-Persönlichkeit des Jahres. Und spätestens 2002, als sein Buch The New Rulers of the World erschien und er vor 300.000 Menschen im Londoner Hyde Park George W. Bush und Tony Blair als global agierende Terroristen brandmarkte, wurde John Pilger zu einer Leitfigur der Kriegs-, Kapitalismus- und Globalisierungskritiker in aller Welt.

    Um so erstaunlicher, dass erst jetzt ein Pilger-Buch in deutscher Sprache vorliegt: Genau genommen handelt es sich bei Verdeckte Ziele um eine Textkompilation aus Pilgers jüngstem Werk, The New Rulers of the World, dem das Kapitel Das große Spiel entnommen wurde, und Abschnitten aus dem 1998 erschienenen Buch Hidden Agendas. Die Einleitung wiederum wurde - "mit Einwilligung des Autors", wie es im Impressum heißt - aus den einführenden Texte beider Bücher zusammengestellt. Diese Methode, Bücher zu zerstückeln und neu zusammenzusetzen, ist nicht unproblematisch - zumal dann, wenn es sich um einen Autor handelt, der sich in seinem eigenen journalistischen Handwerk größter Akribie befleißigt und seine Erkundungen der aktuellen Weltlage mit präzisen Daten und Fakten spickt. Die Rasanz, mit der sich unsere Welt allein in den vier Jahren zwischen 1998 und 2002 verändert hat, wirft auf die Texte ein Doppellicht, das die deutsche Ausgabe teils als Anthologie, teils als etwas atemlosen Versuch einer Aktualisierung erscheinen lässt.

    John Pilger ist über die Kriegspolitik, die weltweit ausgreifenden Annexionsgelüste und die "Globalisierung" genannten ökonomischen Strategien der angloamerikanischen Machteliten empört - aber er ist ein zu guter Journalist, um seine Anklagen nicht begründet und auf der Basis professionell recherchierter Erkenntnisse vorzutragen. Er ist ein entschiedener Amerika-Kritiker - aber als britisch orientierter Australier und Erbe der großen Commonwealth-Idee nimmt er sich zunächst und vor allem das "Mutterland" Great Britain und seinen gegenwärtigen Zustand vor: die Verwahrlosung der politischen Moral in der Ära des Moraltrompeters Tony Blair und seiner polit-journalistischen Entourage. Pilger arbeitet die Systematik des "liberalen Realismus" heraus, der die heute Mächtigen antreibt, unter der Fahne der Menschenrechte Staatsterror und Völkermord auszuüben - aber zum Verschwörungstheoretiker taugt er nicht, dafür sind seine Schlussfolgerungen zu gut belegt.

    Die Ursprünge der Marktlogik, die heute die Außen- und Wirtschaftspolitik der USA, Europas, Kanadas, Japans und Australiens bestimmt und vor allem die Ausbeutung der unterentwickelten Länder steuert, sieht Pilger in der Konferenz von Bretton Woods 1944, als die USA, damals die ökonomisch stärkste Macht in der Anti-Hitler-Koalition, die Parameter einer "globalen Wirtschaft" absteckten und - so wörtlich - "damit dem amerikanischen Militär und den Großkonzernen uneingeschränkten Zugriff auf Bodenschätze, Öl, Märkte und billige Arbeitskräfte sicherten. Weltbank und Internationaler Währungsfonds wurden als Instrument der Durchsetzung dieser Strategie gegründet. Beide Institutionen haben ihren Sitz in Washington und hängen an der Nabelschnur der US-Notenbank."

    Doch mit Historie hält sich Pilger nicht lange auf - sehr schnell spinnt er die Fäden der Entwicklung weiter zu den Schlachtfeldern der letzten Jahrzehnte, zu den von diversen amerikanischen Regierungen gepäppelten blutigen Diktatoren und Polizeistaaten, zu den "Strukturanpassungsprogrammen" der Weltbank, die in den ärmsten Ländern zugunsten einiger global agierender Konzerne das Massenelend verstärkt - und zu den neo-imperialistischen Kreuzzügen und Stellvertreterkriegen, die das 20. Jahrhundert so schrecklich beendet haben und das 21. wohl weiter überschatten werden. Pilger nennt Zahlen, die schnell vergessen oder nie genannt wurden: 2.000 Zivilisten kamen ums Leben, als die USA 1990 in Panama einfielen, 200.000 irakische Soldaten und Zivilisten starben im Golfkrieg von 1991, der Einmarsch in Somalia kostete annähernd 10.000 Menschen das Leben. Pilger greift die Zahlen nicht aus der Luft, sondern stützt sich auf Regierungsquellen und Statistiken der CIA.

    Wohl unvermeidlich, dass aus diesem Buch ein Rundumschlag gegen die Mächtigen der modernen Welt wurde, eine Generalabrechnung, die weder die Öl-Dynastie der Familie Bush und ihre arabischen Geschäftsfreunde noch den fadenscheinigen Menschenfreund Bill Clinton, weder Maggy Thatcher noch John Mayor oder Tony Blair verschont - besonders auf diesen und den inzwischen ramponierten Glanz von "New Labor" richtet Pilger sein Geschütz. Nicht alles in diesem Buch ist brandneu: Der gut informierte Zeitgenosse wird an vertraute Machenschaften, sattsam bekannte Täuschungsmanöver, Korruptionsfälle und Gewaltexzesse erinnert, aber er findet sie in eine ungemein dichte Argumentationskette eingeordnet, die ihre Beweiskraft nicht verfehlt.

    Am meisten beeindruckt das zentrale Kapitel "Ein Medienzeitalter", in dem Pilger nicht nur mit der Verflechtung von Politik und Presse, Politik und Fernsehen ins Gericht geht und sie am Beispiel des Aufstiegs seines australischen Landsmanns Rupert Murdoch dokumentiert. Sein Hauptangriff gilt vielmehr jenen Kollegen der eigenen Innung, die als Reporter und Leitartikler die Prinzipien der journalistischen Ethik hintanstellen und zu Nachbetern und Stichwortgebern des angloamerikanischen Kartells geworden sind: Sie siedeln nicht etwa nur in den Vorzimmern, sondern buchstäblich an den Schreibtischen der Macht - als Mitglieder neo-konservativer "think tanks" und zweifelhafter, teilweise von rechtsradikalen Kreisen finanzierter Akademien.

    Im Kotau zahlreicher seiner britischen Kollegen vor Tony Blair und ihrem Beitrag zu dessen Glorifizierung sieht Pilger einen Fluch der Medienära und ein "kulturelles Tschernobyl" - eine Metapher, die er sich von seinem deutschen Kollegen Reiner Luyken ausgeborgt hat. Sein Zorn ist gerechtfertigt und, betrachtet man einzelne Journalisten-Biografien, begründet. Allerdings verkennt Pilger die Dialektik der Medienmaschine, ihre systembedingte ideologische Blindheit und ihren Hunger auf den Skandal. Ebenso wie vom Konsens und von der Lüge leben die Medien von der Opposition und vom Kampf um Aufklärung. Wäre dem nicht so, wäre auch John Pilger nicht eine überaus erfolgreiche Medienfigur.

    Ohnehin ist Dialektik Pilgers Sache nicht. Er ist angetrieben von einem unbedingten, grund-integren Verständnis politischer Moral - um so ehrlicher seine Empörung über diejenigen, die im Namen hehrer Werte, im Namen der Demokratie und der Menschenrechte Tod und Verderben säen. Sein Buch bestätigt aber auch die alte betrübliche Einsicht, dass die Moral allein über keine Waffen und bedauerlicherweise über keine Theorie verfügt. Vorschläge, wie dem angloamerikanischen Leviathan und den fatalen Folgen der Globalisierung beizukommen sei, finden sich in diesem Buch nicht. Begriffe wie "Umverteilung" des Reichtums, die Beschwörung der "Solidarität der arbeitenden Bevölkerung" und die These, dass wir noch immer in einer "Klassengesellschaft" leben, rekurrieren auf hausbackene Denkmodelle und verraten, dass dem "modernen Imperialismus" in Sachen Theorie noch kein Kraut gewachsen ist. Insoweit offenbart dieses kämpferische Buch ein Defizit, für das freilich ein integrer Journalist wie Pilger keineswegs allein verantwortlich zu machen ist.

    Klaus Kreimeier über John Pilger: "Verdeckte Ziele. Über den modernen Imperialismus". Das Buch hat 347 Seiten, kostet 19,90 Euro und ist zu beziehen über den Zweitausendeins-Versand in Frankfurt oder in den Zweitausendeins Läden, die es allerdings nur in einigen westdeutschen Großstädten gibt. Deshalb hier die Versandadresse: Zweitausendeins, 60381 Frankfurt am Main, Postfach.

    "Karrieren der Gewalt - Nationalsozialistische Täterbiographien" ist ein Sammelband überschrieben, den Klaus Michael Mallmann und Gerhard Paul bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt herausgegeben haben. In 23 Einzelstudien führen ebenso viele Autoren vor, was die neue Täterforschung zu leisten vermag. In ihrem Einleitungskapitel versuchen die Herausgeber ihr Konzept zu umreißen. Sie grenzen ihren am biographischen Einzelfall orientierten Ansatz, der streng empirisch argumentiert und vorschnelle Generalisierungen vermeidet, ab gegen die traditionelle Täterforschung, aber auch gegen neuere Zugänge, die Brutalisierungen soweit psychologisieren, dass die individuelle Verantwortung aus dem Blickfeld verschwindet.

    Das sozialpsychologische Schwadronieren über die Täter, über Regressionen, zerfallendes Über-Ich und die Metaphorik des Todestriebes sowie die völlige Ignoranz gegenüber der bisherigen Täterforschung markieren die unvermeidbaren Abwege und Sackgassen der neueren Diskussion. Mit Sätzen wie "Die Tötungsmaschinerie von Auschwitz erscheint als die kollektive Entfesselung eines Todestriebes" fallen die Autoren hinter das Niveau der 1960er Jahre zurück.

    Dass aber auch die Vertreter der älteren Täterforschung mit den neuen Ansätzen ihre Schwierigkeiten haben, wird exemplarisch an Hans Mommsen deutlich. Ihm zufolge lasse der gegenwärtig gebräuchliche Begriff des Täters zu sehr die weltanschaulichen Eliten in den Hintergrund treten, "obwohl erst sie die politischen und mentalen Bedingungen schufen, unter denen die Täter ihr Mordhandwerk verrichteten".

    In dieser Kritik Mommsens schwingen zwei traditionelle Deutungsmuster der älteren NS-Forschung mit: zum einen das überholte Exkulpationsbild, mit dem die Direkttäter als letztlich willenlose Objekte einer bei Hitler beginnenden Befehlskette ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen versuchten, zum anderen die Vorstellung, der Völkermord an den Juden lasse sich ausschließlich als Reflex der ‚oben’ gefassten Beschlüsse verstehen.

    Demgegenüber geht es der neueren Täterforschung eben nicht darum, die Täter kurzschlüssig als verlängerten Arm ihrer Vorgesetzten, sondern als eigenständige Akteure des Vernichtungsprozesses zu deuten, mit dem dieser erst seinen Schwung und seine Dynamik erhielt.

    Zum Gegenstand der Forschung werden daher die allzu lang übersehenen Täter jenseits der Führungsetage, die von Wolfgang Benz angemahnten "Täterbiographien der zweiten und dritten Handlungsebene" in Wehrmacht, Polizei und ausländischen Kollaborationsgruppen. "Das ist das Beruhigende: Handlungsmöglichkeiten öffnen sich in jede Richtung", urteilte Alf Lüdtke über jene dort sichtbar werdende Palette von Hinnehmen, Mitmachen und kreativem Selberhandeln. "Jeder einzelne machte sich die Befehle zu eigen, nutzte dabei alltagsweltliche Orientierungen, vermengt mit ideologisch geprägten Vorurteilen wie mit NS-Stereotypen: Gewalt- und Mordimaginationen hatten dabei jede Chance. Die Mischungen bestimmten, was ‚man’ tat - und wie man es tat. Unerlässlich sind biographische Erkundungen. Sie lassen ihrerseits nicht nur Einzel- oder gar Sonderfälle erkennen, markieren vielmehr das Spektrum des Möglichen."