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Russendisko

Seitdem Wladimir Kaminers erster Erzählband "Russendisko" veröffentlicht wurde, hat er wenig Zeit. Dafür kriegt er jede Menge Besuch. In seiner Dreizimmerwohnung in der Schönhauser Allee trifft man ihn selten allein mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Ehe ein Interview zustande kommt, sitzt man in einer geselligen Runde mit Kaminers Freunden, die er zum Teil bei seinen Lesereisen kennen gelernt hat. Man kriegt einen Schnaps angeboten, den man unbedingt probieren muss, weil sein Onkel ihn gebrannt hat ... Und schon ist Kaminer bei seinen Geschichten. Er holt seinen Pass heraus, der ihm noch in der Sowjetunion ausgestellt worden war. Auf dem Foto hat er lange Haare und einen Schnauzbart. Dieser Pass sei der Grund, warum er noch keine deutsche Staatsangehörigkeit beantragen konnte. Das Land, dem er offiziell angehört, existiert nicht mehr. Er müsste also erst einen russischen Pass beantragen, den er nicht bekommt, weil er dort nicht lebt, um einen Antrag auf einen deutschen stellen zu können. Solche Absurditäten faszinieren den nunmehr staatenlosen Autor. Davon handeln auch die Geschichten in seinem Buch:

Ralph Gerstenberg | 07.02.2001
    "Es ging wieder einmal darum, die deutsche Einbürgerung zu beantragen, schon zum dritten Mal. Ärgerlich. Das erste Mal lief alles wie am Schnürchen, ich hatte alle Fotokopien dabei, meine wirtschaftlichen Verhältnisse waren geklärt, alle meine Aufenthaltszeiten und -orte seit der Geburt aufgezählt, die DM 500,- Gebühren akzeptiert und sämtliche Kinder, Frauen und Eltern aufgelistet. Zwei Stunden lang unterhielt ich mich mit Herrn Kugler über den Sinn des Lebens in der BRD, doch dann scheiterte ich an der einfachen Aufgabe, einen handgeschriebenen Lebenslauf anzufertigen. Er sollte unkonventionell, knapp und ehrlich sein. Ich nahm einen Stapel Papier, einen Kugelschreiber und ging auf den Flur. (...) Am Ende hatte ich drei Entwürfe, die alle interessant zu lesen waren, aber im besten Fall bis zu meiner ersten Ehe reichten. Unzufrieden mit mir selbst ging ich nach Hause. Dort versuchte ich, mir den Unterschied zwischen einem Roman und einem handgeschriebenen, unkonventionellen Lebenslauf klar zu machen."

    Auch die Erzählungen des Bandes "Russsendisko" erscheinen ein wenig so, als wären sie Bestandteil des unkonventionellen Lebenslaufes von Wladimir Kaminer. Allerdings geht es darin vor allem um die letzten zehn Jahre, um Kaminers Leben in Berlin. Ein halbes Jahr nach dem Mauerfall kam der 1967 in Moskau geborene Autor zum ersten Mal in diese Stadt. Er war einer von den jüdischen Einwanderern aus der Sowjetunion, die in der Nachwendezeit aufgenommen wurden - eine Art Wiedergutmachung dafür, dass sich die DDR nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligt hatte. Kaminer:

    "Als ich nach Deutschland kam, hatte ich schon meine Pubertätszeit hinter mir und war mir dann nicht mehr so wichtig. Ich war sehr neugierig auf die weite große Welt, wollte so viel sehen wie möglich, Leute kennen lernen, mir mal angucken, wie die anderen so leben, wie sie denken, wie sie sich durchs Leben schlagen. Wie die anderen ticken, dass interessiert mich am meisten."

    Als Kaminer in Berlin ankam, sprach er kaum ein Wort Deutsch. Ein Intensivkurs an der Humboldt-Universität und ein Handbuch mit dem schönen Titel "Deutsches Deutsch zum Selberlernen" bildeten den Grundstock für seine Sprachkenntnisse. Den Rest lehrte das Leben. Der studierte Dramaturg arbeitete zunächst als Regisseur und Schauspieler in einem Off-Theater. Seine literarische Karriere begann vor gut zwei Jahren mit einem Vortrag über zeitgenössische russische Literatur, zu dem er sich überreden ließ. Einige Journalisten waren anwesend und entdeckten das schriftstellerische Talent Wladimir Kaminers. Seitdem schreibt er Kolumnen für die taz und die Frankfurter Allgemeine Zeitung und tritt regelmäßig bei den Leseveranstaltungen der "Reformbühne Heim und Welt" auf. Eine Literaturagentin hat ihn dort gesehen, und so kam es zur Russendisko.

    Die Geschichten, die Kaminer in seinem Buch erzählt, handeln von Leuten, denen er in seinem Alltag begegnet: von dem vietnamesischen Gemüsehändler, der sich als Zeichen seines Integrationswillens eine Dauerwelle machen lässt und nun aussieht wie Paganini, von dem Arbeitsberater, den man nachts mit einer Goldkette um den Hals in Schwulenclubs trifft, oder von der Freundin Katja, deren Körper und Geist nach allerlei psychedelischen Experimenten getrennt voneinander in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden. Es sind Geschichten von ganz normalen Menschen, die tapfer versuchen, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, das immer neue Überraschungen für sie bereit hält. Und so ist es kein Wunder, dass in Kaminers Welt nichts ist, was es scheint. Griechen eröffnen italienische Restaurants, Baugruben werden von Vietnamesen als Versteck für schwarzgehandelte Zigaretten benutzt, die Sprachtests der Ausländerbehörde entpuppen sich als kryptische Rätsel, die auch ein mit normaler Intelligenz ausgestatteter Muttersprachler nicht zu lösen imstande ist. Kaminer braucht nicht lange zu suchen. Sein großer Bekanntenkreis sind für den umtriebigen Autor ein immer neuer Quell für skurrile Storys. Kaminer:

    "Ich bin einfach ein neugieriger Mensch. Ich interessiere mich für alles Mögliche. Ich weiß auch, dass es vielleicht gar nicht gut ist, sich für das Privatleben anderer Menschen zu interessieren. Aber ich mache das sehr vorsichtig. Nicht, dass ich da überall meine Nase rein stecke, in das Privatleben anderer Menschen. Nein, nein, das nicht. Aber es interessiert mich trotzdem. Wenn sie selbst was erzählen, dann bin ich immer sehr froh."

    Wladimir Kaminer zeichnet ein sehr persönliches Bild von den Bewohnern der neuen Hauptstadt. Der Autor ist mit dem Ich-Erzähler stets identisch und versteht es hervorragend, seine Geschichten zuzuspitzen und in kurzen Sätzen äußerst pointiert und ökonomisch zu erzählen. Dabei gelingt ihm das seltene Kunststück, seine Erzählungen zwischen Tragik und Komik in der Schwebe zu halten. Und obwohl sie oftmals unglaublich sind, hat er keine einzige von ihnen erfunden - behauptet zumindest Kaminer. "Nie etwas ausdenken, sondern dem Leben vertrauen", lautet sein Motto. Und wenn es um fiktionales Erzählen geht, wird der sonst so bodenständige Mann geradezu metaphysisch.

    "Ich denke, das ist eine Selbstlüge, das mit der Fiktion. Es gibt gar keine Fiktion. Alles, was Menschen sich ausdenken oder was sie produzieren, sind ja Imitate von Dingen, die schon bereits existieren. (...) Die Menschen denken nur, dass sie selbst darauf gekommen sind. In Wirklichkeit machen sie nur nach und beschäftigen sich mit Dingen, die sie nichts direkt angehen - wie die Verbesserung der Welt oder die Verschlechterung der Welt. Das sind ja alles nur Scheinergebnisse. Wir sind ja alle Teil einer Infrastruktur, wir können sie nicht ändern insofern, weil wir drin sind, so wie ein kleinerer Mechanismus einen größeren Mechanismus nicht ändern kann."

    Benannt wurde das Buch nach einer Tanzveranstaltung, die Wladimir Kaminer einmal im Monat für seine Landsleute durchführt. Mittlerweile ist die Russendisko Kult. Es kommen Japaner, Amerikaner, Deutsche und natürlich auch Russen, um sich zu russischer Popmusik zu bewegen. Das Buch machte Kaminer mit einem Schlag bekannt. Harald Schmidt hielt es bereits in die Kamera. Ein Team von Arte, das über den witzigen russischen Autor, der auf Deutsch schreibt, einen Film drehen will, hat Kaminer gerade von einer Woche auf einen halben Drehtag heruntergehandelt. Wie gesagt, er hat jetzt wenig Zeit.