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Russin mit spanischem Programm

Die Geschichte der Gitarre reicht bis ins Mittelalter zurück. Doch hat sie in der Kunstmusik nur eine Nebenrolle gespielt. Die preisgekrönte Musikerin Irina Kulikova präsentiert das Potenzial der Gitarre in Stücken von Francisco Tárrega bis Johann Sebastian Bach.

Von Raoul Mörchen |
    Am Mikrofon begrüßt Sie Raoul Mörchen. Ich möchte Ihnen heute eine neue CD vorstellen und auch ein Instrument: die Gitarre. Nicht die bekannte Wanderklampfe, auch nicht die rock-erprobte E-Gitarre, sondern die klassische akustische Gitarre. Und ich möchte Ihnen eine junge Musikerin vorstellen, eine großartige Gitarristin, die einmal nicht aus einem der typischen Gitarren-Länder kommt, also aus Spanien, Italien oder Südamerika, sondern überraschenderweise aus Russland: Irina Kulikova. Beim Label Naxos stellt sie jetzt ihre dritte CD vor mit Werken von Johann Sebastian Bach, Fernando Sor, Mario Castelnuovo-Tedesco, José Maria Gallardo del Rey und Francisco Tárrega.

    "Francisco Tárrega: Recuerdos de la Alhambra"

    Die Sonne hat seit dem frühen Morgen gebrannt, der Tag war lang und heiß, jetzt weicht er langsam der Nacht. Ein kühlender Luftzug weht durch das Gemäuer, im Garten plätschert ein Brunnen, an seinem Rand sitzt ein alter Herr, den linken Fuß auf einen Stein gestützt, so dass die Gitarre, die auf seinem Bein ruht, ihren Hals leicht dem aufgehenden Mond entgegen streckt. Wir hören ihm eine Weile zu, der melancholischen Melodie, die er selbst mit einfachen Akkorden begleitet, und nehmen dieses romantische Bild mit auf unseren Heimweg: als Souvenir von der Alhambra.

    Ist es das Fernweh eines Daheimgebliebenen? Nein, es ist die musikalische Vision eines Lokalpatrioten, eines sentimentalen Komponisten und eines großen Virtuosen: Francisco Tárrega sein Name, ein Spanier natürlich, 1852 in Villareal geboren, 1909 in Barcelona gestorben. Auf der Gitarre war Tárrega ein Star: einer der bekanntesten Interpreten seiner Zeit, als Pädagoge wegweisend für die Weiterentwicklung der modernen Spieltechnik – und als Komponist ein Genrekünstler, ein Autor kleiner Rühr- und Schaustücke wie eben den "Recuerdos de la Alhambra", den "Souvenirs von der Alhambra".

    "Francisco Tárrega: Recuerdos de la Alhambra"
    Es ist Musik wie diese von Francisco Tárrega, die einem sofort in den Sinn kommt, wenn man an die klassische Gitarre denkt. Romantisch, eingängig, sonnig, Musik, die nach Fiesta klingt, nach Tapas und Rotwein, temperamentvolle, flirrende Musik, die in Granada oder Sevilla zuhause ist, irgendwo im warmen Süden. Was die Geschichte der Gitarre angeht, so stimmen diese Assoziationen auch halbwegs – wer aber glaubt, aus dieser Geschichte die Gegenwart ableiten zu können, der sollte sich vorsehen. Die Spanier sind immer noch eine Macht in der Gitarrenwelt, doch das Instrument hat seinen Siegeszug längst um den ganzen Globus gemacht – und das nicht nur als Wanderklampfe oder in der elektrifizierten Rock- und Pop-Variante, sondern auch in seiner klassischen Form: bester Beweis dafür Irina Kulikova.

    Vor drei Jahren hat die Russin in einem Rutsch fünf große Wettbewerbe für sich entscheiden können, darunter auch den Internationalen Alhambra-Wettbewerb in Valencia, im Herzland der Gitarre. In der "Laureate Series", in der Reihe der Wettbewerbsgewinner vom Label Naxos, stellt Irina Kulikova nun ihr spanisches Programm auf CD vor – das Porträt einer Künstlerin und ihres Instruments.

    "Castelnuovo-Tedesco: Sonate D-Dur, III. Tempo di Minuetto "

    Die Gitarre ist kein neues Instrument und bei weitem auch kein seltenes: ihre Geschichte reicht zurück bis ins Mittelalter, Vorläufer gab es sogar schon zu vorchristlichen Zeiten. Ihren ersten Höhepunkt feierte sie, damals noch mit fünf statt wie heute sechs Saiten bezogen, in Renaissance und Barock. Doch obwohl sie sich früh etablieren konnte, hat sie in der Kunstmusik nur eine Nebenrolle gespielt. Selbst als sie im 19. Jahrhundert zu einem regelrechten Modeinstrument wurde, hat sich keiner der bedeutenden Komponisten für sie interessiert. Gitarrenmusik von Beethoven, Schumann, Brahms und Bruckner: Fehlanzeige. Stattdessen ist das Repertoire klassischer Gitarristen voller Namen, die man nur hier findet – und wiederfindet auch im CD-Programm von Irina Kulikova: den bereits erwähnten Francisco Tárrega oder seinen 1961 geborenen Landsmann José Maria Gallardo del Rey und natürlich den Beethoven-Zeitgenossen Fernando Sor, der gemessen an seinen unmittelbaren Konkurrenten eine wahre Lichtgestalt ist. Eingespielt hat Kulikova von ihm eine formal recht harmlose, in ihren klanglichen und technischen Details aber doch reizvolle Fantasie, eine Variationsfolge mit abschließendem Final-Rondo.

    "Fernando Sor, Fantasie op.30, II. Allegretto"

    Das war das Allegretto, der zweite Satz der Fantasie op. 30 von Fernando Sor, gespielt von der in Russland geborenen und seit einiger Zeit in den Niederlanden lebenden Gitarristin Irina Kulikova. Sor, Tárrega und Gallardo del Rey – so lauten also die einschlägig bekannten Namen spanischer Gitarren-Komponisten im Recital von Kulikova. Ein anderer kommt dazu, der des etwas bekannteren italienischen Neo-Klassizisten Mario Castelnuovo-Tedesco. Aber nicht ihm ist das Ende der gewichtigste Programmpunkt der neuen Platte zu verdanken, sondern Johann Sebastian Bach.

    "Bach, Suite BWV 1007, III.Courante"

    Mit Johann Sebastian Bach beginnt Irina Kulikova ihre neue CD. Bach allerdings ist nicht deren Ouvertüre, sondern gleich ihr Höhepunkt. Kompositorisch sowieso. Dabei geht die junge Gitarristen durchaus ein Risiko ein, greift sie doch nicht zurück auf Bachs Originalwerke für Laute, die recht einfach auf der Gitarre adaptiert werden können, sondern auf die berühmte erste Cello-Suite BWV 1007 – die sechs Sätze der Suite hat Kulikova für ihren Auftritt eigenhändig bearbeitet. Sie hat sich dabei längst nicht nur mit der kompositorischen Praxis Bachs auseinander gesetzt, sondern ganz offenbar auch intensiv mit dem Kontext ihrer historischen Aufführungspraxis. Dass Bach die moderne Gitarre gar nicht kannte, dass das Instrument dem mittel- und norddeutschen Barock völlig fremd war – Kulikova lässt es vergessen. Ihr Bach klingt authentisch: anmutig und filigran und transparent in der Stimmführung, nachvollziehbar in der melodischen Linie, der Rhythmus ist klar und doch nicht steif, die Musik federt und bewegt sich elegant nach vorn.

    Und Kulikova weiß, was sie dem Notentext schuldig ist: nicht zuletzt eigene Ideen für Verzierungen und leichte Variationen, vor allem bei den Wiederholungen. Triller, Mordente, Schleifer, Vor- und Doppelschläge - was auf dem Klavier, der Geige oder dem Cello ein Leichtes ist, das ist auf der Gitarre richtig knifflig und bei weniger versierten Musikern mit oft deutlich hörbarer Mühe verbunden. Kulikova realisiert ihre Verzierungen mit leichter Hand, ganz beiläufig: So klingt ihr Bach musikalisch ernst und relevant und zugleich heiter und vergnüglich. Und kann, wenn das noch nötig sein sollte, auch Zweifler überzeugen vom großen künstlerischen Potential der klassischen Gitarre.

    "Bach, Suite BWV 1007, VI. Gigue"
    Das war die Gigue, der letzte Satz der Cello-Suite BWV 1007 von Johann Sebastian Bach, in einer eigenen Bearbeitung gespielt von der russischen Gitarristin Irina Kulikova. Die Aufnahme entnommen ihrer neuen, mittlerweile dritten CD, auf der sie für das Label Naxos außerdem Werke eingespielt hat von Fernando Sor, Mario Castelnuovo-Tedesco, José Maria Gallardo del Rey und Francisco Tárrega. Die neue Platte wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.