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Russische Eiskunstläuferin Anna Schtscherbakowa
"Neujahrswunder" oder Verstoß gegen Corona-Regeln?

Bei den russischen Eiskunstlauf-Meisterschaften gewann die 16-jährige Anna Schtscherbakowa über Weihnachten ihren dritten Titel in Folge. Und das, obwohl sie kürzlich noch mit Corona infiziert war. Zwischenzeitlich hieß es sogar, sie sei mit Fieber gestartet. Kritischen Fragen wich sie aus.

Von Gesine Dornblüth | 03.01.2021
CHELYABINSK, RUSSIA - DECEMBER 27, 2020: Gold medalist, figure skater Anna Shcherbakova during an award ceremony for the ladies competition at the 2021 Russian Figure skating, Eiskunstlauf Championships at Traktor Ice Arena. Sergei Bobylev/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS0F31A6
Anna Schtscherbakowa bei der russischen Eiskunstlauf-Meisterschaft. (imago images / ITAR-TASS)
Als die 16-Jährige Anna Schtscherbakowa am vergangenen Wochenende im russischen Tscheljabinsk ihre Kür begann, lag ihre Konkurrentin, die 14-Jährige Junioren-Weltmeisterin von 2020, Kamila Walijewa, vorn. Für die Fernsehkommentatoren war das Rennen um den russischen Meistertitel weiterhin offen. "Sie gibt nie auf, niemals." "Wir wissen, dass sie eine schwierige Zeit hat, denn sie ist noch nicht wieder ganz genesen. Aber sie hat Rückgrat."
Und tatsächlich: Gekleidet in ein rosa-silbriges Kostüm lief Anna Schtscherbakowa eine fehlerlose Kür mit mehreren Vierfachsprüngen. Es war ihr dritter Meistertitel in Folge. Die Kommentatoren überschlugen sich in ihrem Lob. "Das ist ein Schauspiel, eine Inspiration, das ist die Verkörperung von Zartheit, mädchenhafter Schönheit, Reinheit und einzigartiger technischer Schwierigkeit."
Lungentzündug und Covid-Infektion
Schtscherbakowas Auftritt erstaunte viele. Im Herbst hatte sie eine schwere Lungenentzündung, davor eine Covid-Infektion, wie russische Medien berichteten. Das Abschlusstraining in Tscheljabinsk lief schlecht, auch beim Aufwärmen waren die Probleme nicht zu übersehen. Und nach dem Kurzprogramm verfolgte das Publikum, wie die Athletin an der Schulter ihrer Trainerin nach Luft japste.
Eine Szene aus einem US-College-Football-Spiel. 
Gewinnen um jeden Preis
Der US-Collegesport zeigt in der Coronakrise sein wahres Gesicht. Die Gesundheit der Athleten ist zweitrangig.
Am nächsten Tag allerdings war Schtscherbakowa wie ausgewechselt. Bei der anschließenden Pressekonferenz räumte sie ein: "Dieser Auftritt war super schwer. Ich habe mich gefragt, was ist, wenn ich mittendrin begreife, dass ich nicht bis zum Ende durchhalte?"
Dazu kam es dann nicht. Der russische "Sportexpress" sprach von einem "Neujahrswunder". Die russischsprachige Seite von "Eurosport" dagegen stellte unbequeme Fragen: Möglicherweise habe Schtscherbakowa mit ihrem Start gegen die Anti-Corona-Regeln verstoßen und die übrigen Sportler gefährdet. Zwischenzeitlich hieß es gar, die 16-Jährige sei mit Fieber gestartet. Aleksander Gorschkow, Chef des russischen Eiskunstlaufverbands, wies das zurück. Außerdem habe Schtscherbakowa einen negativen Corona-Test vorgelegt.
Mehrfach über Startverzicht nachgedacht
Die russische Meisterschaft fand mit Publikum statt, die Zuschauer saßen eng beeinander, trugen allerdings Masken. Anna Schtscherbakowa wich der Frage, was zwischen dem Kurzprogramm und der Kür mit ihr geschah, aus. Ihre Trainerin Eteri Tutberidze räumte nach dem Turnier ein, sie habe mehrfach über einen Startverzicht ihres Schützlings nachgedacht. "Wir hatten entschieden, ihren Zustand bis zum letzten Moment zu beobachten. Vor dem Kurzprogramm dachte ich: In dem Zustand wird sie die Kür nicht laufen können. Wir haben sogar ihre Mutter gebeten, sie zu einem Verzicht zu überreden."
Die Sportlerin selbst bestätigte das: "Dass alle Leute um mich herum mir ständig vorgeschlagen haben, den Start zurückzuziehen, hat mich auch belastet. Ich habe schon vor einem Monat endgültig entschieden zu starten und danach nicht einmal daran gezweifelt."
Während weltweit über Trainingsmethoden und Machtmissbrauch im Sport diskutiert wird, ist das in Russland kein Thema. Das Eiskunstlaufen ist straff organisiert, Disziplin oberstes Gebot. Die Trainerinnenlegende Tatjana Tarassowa sagte dem Deutschlandfunk vor einiger Zeit: "Sportler sind Athleten. Sie müssen unter welchen Bedingungen auch immer nach innen schauen und das Maximum aus sich herausholen."
"Wahrscheinlich in der Sowjetunion dazu erzogen"
Der Moskauer Konstantin Jablotski, Richter bei vielen internationalen Eiskunstlaufturnieren, sprach gar von der besonderen Disziplin der russischen Eiskunstläuferinnen. "Der Ehrgeiz, der Siegeswillen… russischen Sportlern, besonders den Mädchen, sieht man das sofort an. Sie haben auch nicht dieses kindliche Glücksgefühl, an einem Wettkampf teilzunehmen. In ihren Augen ist nur eins: Das gesamte Programm von Anfang bis Ende perfekt umzusetzen, um zu siegen. Wahrscheinlich wurden wir noch in der Sowjetunion dazu erzogen, in allem die ersten und die besten zu sein."
Anna Schtscherbakowa kündigte nach ihrem Triumph an, sie werde sich nun erst einmal voll auskurieren.