Dienstag, 30. April 2024


Russische Feldpost

Wir sind an Ort und Stelle. Die vordersten Verbände führen schon den Kampf mit dem Feind, und in der ersten Zeit haben wir die Deutschen gründlich verprügelt. (...) Bald werden auch wir uns mit der berühmten Armee auf dem Schlachtfeld treffen; wie werden alles daransetzen, ihnen den Weg zurück zu zeigen.

Von Dietrich Möller | 21.11.2002
    Aus dem Brief eines Soldaten der Roten Armee; wir kennen nur seinen Vornamen – Volodja, die Koseform von Wladimir. Volodja schreibt diese Zeilen kurz vor der Offensive, die Ende November 1942 zur Einschließung der 6. deutschen Armee führt. Der Offiziersanwärter Viktor Barsow wendet sich am Tag, an dem der Kessel geschlossen ist, an seine Mutter:

    Ich habe von Dir einen Brief erhalten, in dem Du schreibst, dass ich jetzt eine historische Stadt, das frühere Zarizyn verteidige, die jetzt Stalingrad heißt. Und sei gewiss, dass Dein Sohn nicht einen Klumpen Erde preisgeben wird, nicht ein Haus. Die Feinde fürchten sich vor uns Matrosen der Landstreitkräfte und nennen uns "schwarze Kommissare". Auf unserem Abschnitt ist der Feind nicht nur keinen Schritt weitergekommen, er ist sogar zurückgewichen. So wird es auch weiterhin sein.

    Jetzt führen wir Kämpfe zur Vernichtung der eingeschlossenen Gruppierungen der Deutschen...

    ...schreibt der Rotarmist Sadik am 27. Dezember an seinen Bruder und schaut dann noch einmal zurück:

    Die Kämpfe waren, besonders am Anfang, schwer und schrecklich, mit vielen Opfern. Natürlich gibt es keinen Krieg ohne Opfer. Und so wundern wir uns jetzt, wie wir am Leben blieben.

    Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Blatt gewendet. Die Lage der eingeschlossenen deutschen Truppen ist aussichtslos. Und die sowjetischen Soldaten erkennen nun, wie es um die Kampfkraft des Gegners bestellt ist.

    Die Deutschen hungern bis zum Ende der Einkesselung. Sie erhalten 100 bis 150 Gramm Brot am Tag und ein paar Löffel Suppe aus dem Fleisch verendeter Pferde. Gefangene Deutsche essen manchmal zwei bis drei Kilo Brot auf einmal. Aber bisher klammern sie sich noch fest, obwohl das alles für sie nutzlos ist.

    Briefe von der Front sind Lebenszeichen. Oder – den sicheren Tod vor Augen – die einzig mögliche Form des Abschieds. Wie der des Soldaten Dmitrij von seinen Eltern.

    Diesen Brief werdet Ihr erst nach meinem Tod erhalten. Dies werden die letzten Worte sein, die ich für Euch zu Papier bringe. Ihr werdet mich nie wiedersehen. Wir gehen für immer auseinander. (....) Ich bin irgendwie gleichgültig geworden und habe eigentlich keine Angst zu sterben. Es tut mir nur leid um Euch; schade, dass ich Euch damit weh tue. (...) Danke für Eure Fürsorge und Eure Zärtlichkeit. Euch sucht mein letzter Blick.

    Die Kämpfe, der Gegner, das Sterben – und die Sehnsucht nach der Familie zu Hause – es sind auf beiden Seiten der Front die gleichen Themen.

    Musja, meine Teure, ich sehne mich nach Dir. (...) Ich schreibe, aber ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll, so viel möchte ich mit Dir reden. (...) Jeden Tag schaue ich mir unser Bild an – das mache ich gern. Ich lese gerne, schöne herzliche Briefe, aber selbst kann ich sie nicht schreiben. (...) Schreib' Musja, schreib' mehr und ausführlich. Ich warte.

    Ein Soldat mit Vornamen Nikolaj in einem Brief an seine Frau. Der Offiziersanwärter Viktor Barsow schreibt an seine Angehörigen, wie er den Jahreswechsel erlebt hat.

    Das neue Jahr habe ich gut begangen. Am Abend trank ich 250 Gramm Wodka; die Häppchen dazu waren nicht schlecht. Morgens habe ich wegen des Katers noch 200 Gramm genommen. Denkt aber ja nicht, dass Euer Nestküken angefangen hat zu trinken. Oft genug verzichte ich sogar auf die mir zustehenden 100 Gramm.

    Der Winter in Stalingrad macht deutschen und sowjetischen Soldaten gleichermaßen zu schaffen.

    Das Stalingrader Wetter gefällt mir nicht. Es wechselt häufig, es taut und dann Schneewehen – so ist es hauptsächlich. Es wirkt sich ungünstig auf die Gewehre aus – sie rosten. Wenn es taut, schneit es auch oft, alles wird feucht, die Filzstiefel durchnässen, und nicht immer hat man die Möglichkeit, durchzutrocknen. Mit dem Schneetreiben kommt so viel herunter, dass man mehrmals am Tag die Feuerstellungen und die Eingänge der Unterstände säubern muss, und dazu kommt dann Frost bis zu 30 Grad.

    Im Januar 1943 drückt die Rote Armee den Ring um die Deutschen Truppen immer mehr zusammen. Der Kommandeur eines Sturmgeschützes, Norizyn, schreibt an seine Familie:

    Seit dem 11. Januar bin ich an vorderster Linie, wir jagen die deutschen Unholde. Dreimal haben wir angegriffen. Vorläufig ist die ganze Besatzung am Leben. Lediglich die Maschinen sind beschädigt und werden gerade repariert. Nach der Reparatur werden wir wieder angreifen. Die Deutschen fliehen nur so, lassen alles zurück. Es ist nur noch ein kleiner Kessel geblieben, der vernichtet werden muss.

    Am 31. Januar kapitulieren die im Südkessel eingeschlossenen deutschen Truppen unter ihrem Kommandeur Paulus, am 2. Februar die Soldaten im Nordkessel. Und am Tag danach notiert die Sanitäterin Gorodjezkaja:

    Heute morgen bin ich fassungslos aufgewacht. Stille. Eine eigenartige, ungewöhnliche Stille. Die Stalingrader Front schweigt. Wir haben auf diesen Augenblick gewartet, und trotzdem kommt er unerwartet. Der Feind hat den Widerstand aufgegeben. An unseren Schützengräben vorbei führte man die sich ergebenden deutschen Generäle. Die Soldaten schauen sie finster an, pressen die Fäuste zusammen und können kaum an sich halten.

    Und einige Tage später – die Front liegt jetzt viele Kilometer weiter westlich – schreibt der Soldat Alexander Smusjew an seine Frau:

    Heute sind wir tiefes Hinterland. (...) Wie schön diese Ruhe ist. Sie sagt uns, dass sich unser Land bald ganz von den Besatzern befreien wird. (...) Und wir beide werden uns bald wiedersehen.