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Russische Liebesgeschichte

In dem Versroman "Eugen Onegin" hat der Dichter Alexander Puschkin Anspielungen auf die Literaturgeschichte und auf seine eigene Entwicklungsgeschichte eingebaut. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis inszeniert das Stück originell an der Berliner Schaubühne.

Von Eberhard Spreng | 26.11.2011
    Unzählige Möbel, Hausrat und Requisiten sind auf der Vorderbühne versammelt: Betten, Tische, Bücherschränke, ein Sekretär, Schminktisch, Ohrensessel, ein Ofen, Waschschüsseln, Gläser und manches andere. In einem breiten schmalen Streifen reiht sich all dies auf der Vorderbühne auf, wie ein Dekor auf dem Flohmarkt, oder eine Schaufensterdekoration im Superbreitwandformat. Und es ist für die Schauspieler nicht einfach, sich in diese enge Welt hineinzufinden. Zu Beginn zeigt Alvis Hermanis, wie sie aus heutiger Alltagskleidung in die aufwändige Garderobe der damaligen Zeit schlüpfen und damit das Lässige zugunsten eines aufrechten, formbetonten Körperideals hinter sich lassen. Während dessen klären sie über die diversen Kulturpraktiken dieser Puschkinschen Vergangenheit auf, auch über Unterwäsche und Körperpflege.

    "Jahrhunderte lang wusch man sich kaum, das Wasser galt als lebensgefährlich. Gewaschen wurden nur die Körperteile, die sichtbar waren, also Füße, die Hände, das Dekolleté, das Gesicht. Auch Sitz- und Halbbäder sind üblich. Manch einer befürchtet jedoch den Verlust der Verführungskraft durch das Wasser, das die Körpersäfte beseitigt."

    Besonderes Augenmerk gilt in dieser kulturhistorischen Unterrichtung des Publikums dem Tagesablauf und der Garderobe des Dandy. Drei Stunden Morgentoilette seien üblich gewesen, wobei wie bei den Damen, auch bei den Herren Korsetts zum Einsatz kamen. Zum anderen erfährt der Zuschauer einiges über die Condition Féminine, über den damaligen Fehlglauben in Bezug auf die Biologie des weiblichen Geschlechts. Alvis Hermanis geht es also in erster Linie darum, die sozialen, klimatischen, hygienischen und physiologischen Begleiterscheinungen der misslingenden Liebesgeschichte zwischen dem einstigen Petersburger Dandy Eugen Onegin und dem Provinzfräulein Tatjana zu beleuchten. Der lettische Regisseur aktualisiert den Stoff also lobendwerter Weise nicht wie sonst im Theater üblich, reduziert ihn also nicht auf das, was sich leicht zeitgenössischen Befindlichkeiten vermitteln lässt. Er macht umgekehrt den erheblichen Abstand kenntlich, der uns von den Figuren der Geschichte trennt, will sagen, von ihren konkreten Lebensbedingungen. Wie in früheren Arbeiten sucht er nach Authentizität der Figuren, informiert über die diversen üblen Gerüche, denen Menschen damals vor allem in Gesellschaft ausgesetzt waren und begleitet dies mit Reproduktionen von damaligen Gemälden, die auf die Wand über der Spielfläche projiziert werden: Idealisierte Modelle für den Menschenkörper der damaligen Zeit. Immer wieder deuten die Akteure in kleine Szenen Ausschnitte des Versromans an, wechseln von der Prosa der historische Dokumentation in die Poesie der literarischen Vorlage.

    "Die Qual der Liebe zu erfahren
    War Tanjas Los, so jung sie war
    Sie sehnte sich danach zu trauern
    Und fürchtete zugleich das Lauern
    Der Leidenschaft die Tag und Nacht
    Sie ruhelos und ängstlich macht
    Gesundheit, Fröhlichkeit, Verlagen
    Nach Lachen Wärme Harmonie
    Die zarte Jugendmelodie
    Es ist vorbei"

    Weise weicht dieses Theater vor der Aufgabe aus, die Liebesgeschichte und ihre Epoche spielerisch zu ergründen, es bleibt im Schwebezustand zwischen Dokumentartheater und Fragmenten eines Seelengemäldes. Ein Duell, das Lesen in einem sentimentalen Roman, Sehnsucht und Müßiggang, all das sind allemal Skizzen, in denen die Akteure mit ihrem Schicksal allein bleiben. Im Dunklen bleibt die Geschichte ebenso wie die Entwicklung der Figuren. Das Ergebnis ist eine Meditation im Russlandmuseum, subtil organisiert und kunstvoll arrangiert. Den entfernten Planeten Puschkin aber erreicht diese Aufführung nicht.