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Russische Perspektive der Stalingrader Schlacht

Die Schlacht von Stalingrad wird in den meisten deutschen und westlichen Darstellungen als deutsche Tragödie behandelt. Der Historiker Jochen Hellbeck präsentiert in seinem Buch erstmals Dokumente, die der Geschichte eines deutschen Opfergangs eine authentische russische Perspektive entgegensetzen.

Von Martin Hubert | 19.11.2012
    Das Schicksal der sechsten deutschen Armee vor Stalingrad ist in Filmen, Romanen, Offiziersmemoiren und Feldpostbriefen ausgiebig dokumentiert worden: Etwa 190.000 deutsche Soldaten fielen vor Stalingrad, circa 1.000.000 starben noch einmal in der Gefangenschaft. Sie waren von der Roten Armee eingekesselt worden, litten unter Hunger und Eiseskälte und mussten auf Befehl Hitlers aussichtslos bis zum Ende weiterkämpfen. Vielen Darstellungen darüber hafte jedoch ein schwerer Makel an, meint der an der amerikanischen Rutgers Universität lehrende Historiker Jochen Hellbeck. Hellbeck hat sich bereits mit mehreren Büchern zur russischen Geschichte hervorgetan, in denen er sich vor allem für das Selbstverständnis der Menschen in historischen Situationen interessierte. In der ausführlichen Einführung seines neuen Buches "Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht" schreibt er:

    "Vielfach erforscht, bleibt die Schlacht von Stalingrad in den meisten deutschen und westlichen Darstellungen eine zutiefst germanozentrische Geschichte, mehr noch, die Geschichte eines deutschen Opfergangs. Sie setzt häufig erst am 19. November 1942 ein, dem Beginn der Einkesselung der 6. Armee, und macht durch diesen Schritt die Aggressoren zu verzweifelten Verteidigern. Den deutschen Angriff auf Stalingrad und die lange Blutspur, die die 6. Armee auf ihrem Weg nach Stalingrad zog, klammert diese Perspektive aus. Bei der Fokussierung auf Stalingrad als deutschem Drama und Erinnerungsort bleibt der Gegner unkonturiert."

    Tatsächlich existiert bis heute vielfach ein stereotypes Bild des Rotarmisten: roh, triebhaft, ein so gefährliches wie anonymes Massenwesen. Hellbeck präsentiert in seinem Buch erstmals Dokumente, die dem eine authentische russische Perspektive der Stalingrader Schlacht entgegensetzen.

    Eine sowjetische Historikerkommission hatte im Jahr 1942 mitten in der Schlacht systematisch Offiziere, Soldaten und Helfer der Roten Armee über ihre Kriegserfahrungen befragt. Die Dokumente wurden danach jedoch weggeschlossen, da sie mit dem nach der Schlacht forcierten Stalinkult nicht völlig in Einklang standen. Sie wurden vor wenigen Jahren in russischen Archiven wiederentdeckt und in deutsch-russischer Zusammenarbeit ausgewertet, eine russische Ausgabe soll folgen. Jochen Hellbeck hat aus den mehreren Tausend Seiten starken Protokollen von 215 russischen Zeitzeugen eine Auswahl getroffen, die 500 Seiten füllt. Dazu liefert er historische Hintergrundinformationen und beschreibt das Schicksal der Dokumente und der Historiker.

    Als Kontrast enthält als Buch auch einige Verhöre deutscher Gefangener sowie das verzweifelte Stalingradtagebuch eines deutschen Soldaten. So entsteht ein breites Kaleidoskop, das unterschiedliche Facetten der Schlacht beleuchtet. Man liest manchmal ermüdende, manchmal erschreckende Beschreibungen von Kampfhandlungen. Oder man hört, wie ein Hauptmann die typisch deutsche Disziplin einschätzt.

    "Ich möchte noch von der starken mechanischen Disziplin der Deutschen berichten. Ich weiß noch, ich trat zu einem Regiment (von Gefangenen): Bisweilen hörte man unmenschliches Geheul. Das waren Männer mit Erfrierungen, die so schrien. Sie fielen zu Boden, starben, und die Soldaten bleiben weiter in Reih und Glied stehen. Wenn ein Feldwebel oder Unteroffizier ihnen befohlen hatte, stehen zu bleiben, stehen sie."

    Mehrere Offiziere schildern den desolaten Eindruck, den der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen, Friedrich Paulus, bei der Kapitulation hinterließ. Beklemmend sind Berichte über Kriegsverbrechen deutscher Soldaten an russischen Landetruppen, etwa des Hauptmanns Piotr Sajontschkowski.

    "Das Schicksal dieser Landetruppen war schlimm. Einige ertranken in der Wolga, einige erreichten das Ufer, wurden jedoch teils getötet, teils gefangen genommen. In den Stellungen der deutschen Unterstände, fand ich bestialisch gefolterte Leichen. Die Augen waren ausgebrannt und auf der linken Schläfe war mit einem glühenden Eisen eine Wunde zugefügt worden."

    Für Jochen Hellbeck widerlegen die Dokumente aber vor allem ein uraltes Klischee: die Vorstellung, dass die russischen Soldaten hauptsächlich aufgrund des stalinistischen Terrors so entschlossen gekämpft hätten. Zwar gab es Stalins berühmten Befehl Nummer 227 vom 28. Juli 1942 mit der Parole "Keinen Schritt zurück". Zwar töteten danach Erschießungskommandos im Rücken der Front flüchtende Rotarmisten. Das sei aber seltener geschehen als bisher gedacht. Und diese Zwangsmaßnahmen erklären für Hellbeck keineswegs allein, warum die russischen Soldaten trotz riesiger Verluste gegen die Deutschen weiter kämpften. Er schreibt:

    "Die Soldaten sehen sich als aktive Teilnehmer des Kriegs, identifizieren sich mit dem Geschehen. Die Interviews vermitteln aber auch die Einsicht, die den meisten westlichen Darstellungen des 'Großen Vaterländischen Krieges' zuwiderläuft: Sehr deutlich zeichnet sich in den Gesprächen die breite Präsenz und der enorme Einsatz der KP bei der ideologischen Konditionierung der Soldaten ab. Die Partei war in der Armee allgegenwärtig. …Die politischen Offiziere geißelten Anzeichen von Schwäche als 'Feigheit' und konterrevolutionären 'Verrat', zugleich predigten sie ein kommunistisches Verständnis von Angstkonditionierung, Selbstüberwindung und Heldentum und zeigten, wie man über sich hinaus wuchs."

    Tatsächlich belegen viele Dokumente, wie die ideologische Arbeit der Kommunistische Partei und die Einstellung der Soldaten teilweise miteinander verschmolzen. Etwa in den Äußerungen des Hauptmanns Lukjan Morosow:

    "Am 28. Januar 1943 erhielten wir den Gefechtsbefehl. Wir leiten den Gefechtsbefehl an jeden Soldaten weiter, hielten Partei-und Konsomolversammlungen ab, führten individuelle Gespräche mit den Soldaten. Direkt vor dem Gefecht führten wir eine Kundgebung durch. Nach der Kundgebung stellten 46 Mann den Antrag, in die Partei aufgenommen zu werden die besten Soldaten und Kommandeure. Der Kampfgeist war außergewöhnlich stark."

    Aus der russischen Memorienliteratur wird oft ein eindeutiger Trend abgeleitet: demnach hätten die russischen Soldaten keineswegs für die Kommunistische Partei, sondern nur für das russische Volk und ihre Familie gekämpft.

    Jochen Hellbecks Buch erweitert hier die Sicht in durchaus diskussionswürdiger Weise, auch wenn sich darüber streiten lässt, inwieweit in den Dokumenten nicht doch KP-Funktionäre überproportional vertreten sind. Demnach habe die Kommunistische Partei während der Schlacht doch auch eine relevante Rolle gespielt, weil sie die Kampfmotivation bestärkt habe. Nun war der ideologische Klassenfeind nämlich zum direkt erlebbaren Aggressor geworden. Wobei Hellbecks Auswahl der Dokumente nicht dazu führt, die russische Seite zu idealisieren. Die russischen Soldaten erzählen auch von sowjetischen Kriegsverbrechen und von Erschießungen deutscher Gefangener, sie künden von Stalinverehrung und der kalten Logik sowjetischer Scharfschützen. Die Berichte zeigen aber, dass ihr Handeln von zwei Komponenten bestimmt wurde. Von der ideologischen Arbeit der Kommunistischen Partei und von den eigenen Erfahrungen mit einem rücksichtslosen deutschen Feind, der sie zum entschlossenen Widerstand motivierte.

    Das Buch wird vom Verlag mit dem Hinweis angepriesen, dass es das Bild von der Stalingrader Schlacht revidiere. Das ist einerseits übertrieben, denn grundsätzlich Neues über den Verlauf der Schlacht enthält es nicht. Aber die Dokumente machen klar, dass Stalingrad eben keineswegs nur eine deutsche Tragödie war, sondern auch eine russische. Hier wehrten sich russische Menschen mit allem, was sie zur Verfügung hatten, gegen die eigene Vernichtung. Jochen Hellbecks Buch hat das Verdienst, diese russische Perspektive nacherlebbar zu machen, ohne sie in abstrakte Vergleiche zwischen dem deutschen und dem sowjetischen System einzuzwängen.

    Jochen Hellbeck: "Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht", S. Fischer Verlag, 608 Seiten, 26 Euro, ISBN: 978-3-100-30213-7