Donnerstag, 28. März 2024

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Russische Zitronen

Andrej Bitows Armenische Lektionen, von denen 1969 nur Auszüge in einer sowjetischen Literaturzeitschrift erschienen, sind eine einzige Liebeserklärung. Kein Wunder, dass ganz Armenien begeistert die Reisebilder las, kein Wunder, dass andere Sowjetrepubliken voller Neid den Russen einluden – und kein Wunder, dass der Autor entschieden ablehnte. Schließlich überredet man sich nicht zur Liebe, sie überwältigt einen.

Jörg Plath | 15.03.2004
    Aber natürlich hörte Bitow nicht auf, zu reisen und darüber zu schreiben. 1970, unmittelbar nach den Armenischen Lektionen, entstanden die ersten Teile des Georgischen Albums. Beide Republiken waren Nachbarn im sonnigen Süden der Sowjetunion, doch Bitow fand in beiden etwas ganz Verschiedenes. Armenien war fremd in seiner Heiterkeit, Sinnlichkeit und Diesseitigkeit. Bitow betete es dankbar an und errichtete ihm einen Tempel aus Worten. Georgien aber erwies sich als das Eigene. "Die Armenischen Lektionen", schreibt Bitow, "waren (...) wie eine Kirche gebaut. (...) Armenien hatte ich erschlossen, nach Georgien kehrte ich zurück. Wie nach Hause. Deshalb ist das Georgische Album keine Kirche mehr, sondern eine Kirchenruine."

    Es ist zugig in dieser romantischen Ruine. Über Georgien schreibt Bitow in Russland, über Russland in Georgien. In zwölf Abschnitten, die blendet das "Georgische Album" hin und her. "Wir sind uns ähnlich, aber sie sind schöner", heißt es gleich zu Beginn über die Georgier. Mit Hilfe Georgiens kann Bitow von Russland und von sich als Russe erzählen, aber dieser Erzählung das Provisorische, Ruinöse nehmen, das kann er nicht. Immer bleibt etwas unbeschreibbar, nicht fassbar. Die Totalität trägt viele behelfsmäßige Namen: das Leben, die Echtheit, das Sein, das Glück. Und: die göttliche Fülle.

    Das Georgische Album enthält daher nicht die üblichen Reisebilder. Georgien ist weniger ein Land als ein Sehnsuchtsort, ein Schauplatz von intensiven Erlebnissen. Dort erkennt Bitows Erzähler eine mit Sicherheit fremde Stadt beglückt wieder, an einer Felswand betrachtet er leuchtende Mosaikreste, Überbleibsel eines Klosters, ein provisorischer Gasthof auf dem Land schenkt eine bukolische Feier, und hinter einer kleinen Kirche öffnet sich ein sprachlos machender Blick in eine Welt, wie sie einst wohl die Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies vorfanden. Bitow ist kein Gottessucher, er möchte nur die Fehler der Menschheitsgeschichte rückgängig machen.

    Welche das sind, zeigen die Russland-Kapitel. Beim Besuch des Zoos mit seiner Tochter befürchtet der autobiographische Erzähler den Untergang der lebenden Tiere angesichts der über Hand nehmenden Produktion von Spielzeugtieren. Er erinnert sich an den Tod seiner Tante, die als Jüdin eine Außenseiterin in der Familie blieb, und er blickt aus einem Luxusschlafwagen der Eisenbahn auf zwei Bauern, die sich gegenseitig vor einen hölzernen Pflug spannen. Das Alte und das Neue stehen isoliert nebeneinander. Eine lähmende "Doppelnostalgie" nach Fortschritt und Patriarchalität herrscht vor. Sie erlaubt, eine westliche Importjeans, ein industrielles Massenprodukt, zur Ikone zu erheben, während zugleich Handwerk und volkstümliches Kleingewerbe degenerieren. In Russland herrscht die leere Zeit, in Georgien steht die erfüllte still. "Leben ist nur ein Augenblick", wird der georgische Dichter Rustaweli zitiert.

    Wer sich das Buch so manichäisch erklärt, hat nicht Unrecht, verfehlt allerdings seine ungeheure Faszination. Bitow ist nämlich weder ein christlicher Schwärmer noch ein traditioneller Zivilisationskritiker. Vielmehr inszeniert das Buch ständig glückende Grenzüberschreitungen – am deutlichsten in den Träumen, in denen liebe Tote besorgt nach ihrem Wohlergehen "drüben" gefragt werden. Auch Dichter durchziehen das irdische Leben "wie das Himmelsgewölbe", und ihre Wohnhäuser werden als Museen zu Orten der Transzendenz. Freilich keiner feierlichen, sondern einer, die das Leben steigernd vollendet.

    "Auf der Suche nach Heimat", so der Untertitel des Georgischen Albums, fügt Bitow beständig zwei Teile zu einem Ganzen zusammen, und daher ist sein Erzähler ein dithyrambischer Tänzer, der, ganz dem Moment anheimgegeben, hin- und herfliegt. Übergangslos beginnen die Kapitel, die Sätze bleiben zuweilen vor Eile halb vollendet, der Leser wird des öfteren angesprochen. In überraschender Montage folgen Erinnerungen, Erzählungen, Gespräche, Witze, Träume und Reflexionen aufeinander. Sie sind drängend gegenwärtig, äußerst persönlich und bersten vor Anschaulichkeit – und sind doch zugleich rätselhafte, vieldeutige Symbole, Allegorien oder Chiffren: Ziegelsteine der Kirchenruine eben. Sie ist ein gewagter Bau, ein Syntheseversuch im modernen Bewusstsein des Scheiterns. Alles fließt ineinander, und schließlich lässt der Erzähler die Zeit rückwärts gehen bis zum vorrevolutionären Jahr 1910. "Nun – gibt es mich nicht", sagt er zufrieden, drei Zeilen vor dem Ende.

    Dieses Satyrspiel ist der Verzweiflung abgerungen. Bitow weist im Vorwort darauf hin, dass Breschnews Herrschaft damals ewig schien. Sie beförderte die verheerende Doppelnostalgie nach Fortschritt und Patriarchalität, und in diesem Staat konnte Bitows Versuch, das bessere Russland in Georgien zu finden, natürlich nicht erscheinen. 1976 wurden drei georgische Kapitel legal publiziert, 1979 illegal drei russische im legendären Samisdat-Almanach "Metropol". Erst 1996 ist das "Georgische Album" der sowjetischen Eiskammer entkommen, und in wunderbarer Frische ist es nun in der Übertragung von Rosemarie Tietze ins Deutsche gelangt.