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Russisches Requiem

Der Anfang ist atemberaubend. Ein Dorf im Kaukasus gegen Ende des Stalinismus. Ein Mann und eine Frau haben sich vor dem Tyrannen in die Einöde geflüchtet. Plötzlich zerreißen Explosionen die Stille. Steinlawinen donnern den Abhang hinab, und aus dem Granit löst sich eine riesige Scheibe:

Sonja Zekri |
    Der Anfang ist atemberaubend. Ein Dorf im Kaukasus gegen Ende des Stalinismus. Ein Mann und eine Frau haben sich vor dem Tyrannen in die Einöde geflüchtet. Plötzlich zerreißen Explosionen die Stille. Steinlawinen donnern den Abhang hinab, und aus dem Granit löst sich eine riesige Scheibe:

    "Der Mann und die Frau blieben wie angewurzelt stehen, ge-bannt von der rasenden Drehung der Scheibe. Ein Stamm, der dem steinernen Rad den Weg versperrte, wurde nicht zersplittert, sondern gespalten wie ein Arm von einem Säbelhieb ... und bevor sie sahen, was geschah, hörten sie das laute Splittern der Palisaden. Die Scheibe brachte ihr Haus nicht zum Einsturz. Sie drang ein wie in Lehm, schlitzte den Fußboden auf und blieb, immer noch senkrecht, in der Mitte des Hauses stecken."

    Die Familie gewöhnt sich an das steinerne Schicksalsrad, wie sie gelernt hat, mit der fernen Bedrohung aus Moskau zu leben. Doch die Scheibe hat dem Verhängnis den Weg geebnet. Drei Monate nach Stalins Tod marschieren Soldaten in das Tal und erschießen den Mann und seine Frau. Warum, erfährt weder der Leser noch der Sohn der beiden, den eine Vertraute der Familie, die alte Französin Sascha, buchstäblich mit den Zähnen im Hemdkragen über den Fluss zerrt. Der Junge ist gerettet, aber er bleibt ein Ausgestoßener, der seine Vergangenheit verbirgt wie eine Schuld. Im Kinderheim gehänselt, kommt er nur bei Sascha zur Ruhe. Sie lehrt ihn Französisch und auf sein Drängen auch die Geschichte seiner Vorfahren. Das ist die Rahmenhandlung in Andrei Makines Roman-Labyrinth "Russisches Requiem" - eine von vielen.

    Schon auf diesen ersten Seiten leuchtet da jene Kunst auf, die Makine berühmt machte: In einem einzigen unvergesslichen Bild die Tragödie eines ganzen Lebens zu fixieren. Ohne Scheu vor Pathos, aber auch weitgehend humorfrei greift er kühn nach dem hohen Ton des Erzählens, der nicht nur dem Frankreich Houllebeques´, sondern auch dem Russland Pelewins fremd ist.

    Der Junge aus dem Kaukasus wird Militärarzt. Während die geheime Wunde in seinem Inneren brennt, flickt er die zerfetzten Leiber an den Fronten des Kalten Krieges.

    "Ich lebte damit, dass jeder neue Tag die Schmerzen des vorangegangenen durch die entsetzten Blicke der neuen Verwundenten vergehen ließ. Das einzige Zeitmaß, das mir blieb, war die sichtbare Vervollkommnung der Waffen, die unsere Soldaten und die Feinde benutzten."

    Verzweifelt über einen Fortschritt, der immer tückischere Geschosse hervorbringt und zermürbt durch den eigenen Schmerz wird der junge Held empfänglich für das geschickte Werben eines väterlichen Geheimagenten mit dem sprechenden Spitznamen "Schach". Mit sanfter Routine verwandelt Schach den Arzt in einen Agenten, denn er verheißt ihm Heilung für beide Wunden. Fortan soll der junge Held die verhassten Waffenhändler jagen, und endlich eine vorzeigbare Identität bekommen.

    "In jener Phase entfernte ich mich mehr und mehr von der Person, die ich zuvor gewesen war. Und dieser Bruch war nicht dadurch herbeigeführt worden, dass ich Geheimdienstmethoden oder Fallschirmspringen bei Nacht lernte. Es war allein die Lust, ein Mann ohne Vergangenheit zu werden, mich auf diese Zukunft zu beschränken, statt eine Vergangenheit zu besitzen."

    Nicht Abenteuerlust oder Ideologie locken den Nachwuchs wie die Super-Agenten eines Le Carré oder eines Fleming. Makines Held flüchtet ins Zwielicht der Spionage, weil er das gleißende Licht der Welt nicht erträgt.

    Die Komplizin des frischgebackenen Agenten ist eine zarte, aber entschlossene Frau, von der er lange Zeit nur ihre falsche "Legende" kennt. Mit ihr zieht er von Schlach-tfeld zu Schlachtfeld, folgt dem Feuerschein brennender Städte und der Blutspur der Waffenhändler. Unmerklich wächst in der Todesgefahr die Zuneigung zwischen ihnen, so wie die Liebe in diesem Buch stets eine Liebe in Zeiten des Krieges ist. Doch ihre Beziehung muss auf einfachste Gewissheiten verzichten: Das Wissen, wer der andere ist. So wendet er sich im Stillen an seine Geliebte:

    "Später in der Nacht sollte mir klar werden, dass dich diese auf den Fotos dargestellte, aber nicht gekannte Vergangenheit an uns selbst erinnerte, an unser wirkliches Dasein, das wir unter unserer falschen Identität so selten wahrnahmen. Von diesem Leben gab es kein einziges Foto, keinen Brief, kein Wort dazu war zwischen uns gefallen."

    Makine ist ein Meister vieler Klassen. In wenigen Zeilen gleitet er von der melancholischen Liebe unter Palmen zu atem-beraubenden Action-Sequenzen mit unvergesslichen Bildern. In einer Szene baut ein Kind am Rande des Gefechts aus warmen Patronenhülsen eine Pyramide. Und wenn die Hub-schrauber ihre Attacken an malerischen Stränden fliegen, wirbeln sie den Geruch von Meer, Stahl und Blut über den Seiten auf.

    Doch entgegen allen Verlagsankündigungen ist "Russisches Requiem" kein Thriller und auch kein gewöhnlicher "Spionage-Roman". Das etwas altmodische Genre ist nur eine originelle Tarnung für ganz andere Fragen. "Ein-mal muss es möglich sein, die Wahrheit zu sagen", sagt die Geliebte. Wie aber sagt man die Wahrheit? In einer Szene übersetzt der Protagonist ein Gespräch zwischen dem Geheimagenten-Schach, einem sterbenden französischen Diplomaten und dem Anführer des jemenitischen Aufstandes. Die Verhandlungen sind heikel, aber der Erzähler kann nach Jahren wieder sein geliebtes Französisch sprechen.

    "Da begriff ich, dass der Erfolg nicht von der Stichhaltigkeit der Argumente abhing, sondern von einem Ritual. Da bei jeder Runde dieselben Sätze fielen, hatte ich Gelegenheit, beim Übersetzen mit der Textur der Sätze Fühlung aufzunehmen wie mit einem alten Buch, bei dem man die Körnung des Papiers spürt. In diese Erinnerung mischte sich sogar ein ungetrübter kindlicher Stolz darauf, diese ungewöhnliche Sprache gelernt zu haben."

    Und natürlich schwingt in diesen Zeilen auch der Stolz des Autors mit, der als Sibirier Bücher auf Französisch schreibt und mit ihnen Preise gewinnt. Doch das ist nicht alles: Unwillkürlich kommt dem Leser jene Szene aus Javier Mariás Buch "Mein Herz so weiß" in den Sinn, wo der Dolmetscher zwei hohe Politiker durch falsche Über-setzungen in ein höchst intimes Gespräch führt. Auch durch Makines Werk zieht sich diese tiefe Skepsis gegenüber der Sprache. Doch bei ihm führt sie nie zum Guten, sondern ins Verderben. Die politischen Verhandlungen in den reichen Ländern des Nordens, so schreibt er, werden im armen Süden aufgrund der "grauenhaften Übersetzung" zu "Schmerzensgeschrei, pfeifenden Kugeln, hasserfülltem Nahkampf". Makines einzige Wahrheit ist stumm - auch zwischen den beiden Liebenden.

    "Mit erhobenen Armen standst du vor dem Fenster und flicktest das zerrissene Moskitonetz. Fast konnte man im Dunkeln das tastende Auf und Ab der Nadel erkennen. Mit ungeahnter Freude spürte ich, dass es in diesem Augenblick keiner Worte bedurfte. Du warst da, warst ganz du selbst, in der Wahrheit des Schweigens, das stets eintrat, wenn wir in unserem Bemühen zu verstehen scheiterten.

    Immer schneller muss das Paar Hotels, Länder und Pässe wechseln, während die ideologischen Fronten in den 80er Jahren zusehends unübersichtlich werden.

    "Unser Kräftemessen mit den Amerikanern versandete in politischer Demagogie, die so oft neu formuliert worden war, dass wir zuletzt ein Regime unterstützten, das im Ruf stand konservativ zu sein, während die Amerikaner auf den Sieg der Revolution setzten. Diese Etiketten bedeutete nichts mehr, Revolution hieß Zugang zu den Ölquellen."

    Doch während der Held in diesem Chaos das Ende des sowjetischen Imperiums spürt, weigert sich seine Gefährtin, der neuen Epoche ins Gesicht zu sehen. Weder die neuen Herren im Kreml, noch die Reichen in den Pariser Nachtlokalen sind für sie - und für Schach - ein Grund, aufzugeben.

    "Diese Generation glaubte nicht an ein Ende, weder ans Ende des Reichs, noch an das seiner Geschichte. Sie glaubte nicht, dass diese Geschichte und die Menschen, die sie geprägt hatten, in Vergessenheit geraten würden."

    Mit schlechtem Gewissen flieht der Held in den Westen und lässt seine Geliebte und seinen Freund Schach im Stich. Seine Loyalität ist geringer als ihre, sein Glauben gerät leichter ins Wanken. Spione als Gläubige - für Kommunisten eine eher unübliche Eigenschaft.

    Bis hierher ist "Russisches Requiem" eine leidenschaftliche Anklage vergessener Kriege und eine fein gesponnene Studie über die Unmöglichkeit des Menschen, auf dieser Welt heimisch zu werden. Doch Makine will mehr. Sein Ziel ist ein Panorama des Jahrhunderts mit allem Krieg und allem Terror, für das es berüchtigt ist. Dafür beschreibt er die Geschichte Russlands von Lenin bis Jelzin in drei Generationen. Nicht nur der Spion, sondern auch sein Vater und Großvater versuchen, ihrer Zeit ein kleines privates Glück abzuringen - und scheitern.

    Die verschachtelten Rückblenden erzählt Makine in lakonischen Skizzen, gerafft und in großen Schritten. Den Großvater des Erzählers, Nikolai, treffen wir als jungen Mann. Er reitet durch das vom post-revolutionären Bürgerkrieg verwüstete Land, in dem selbst der Nächste zum Feind geworden ist.

    "Die Dämmerung war die beste Zeit, um niemandem zu begegnen. Er musste den Roten aus dem Weg gehen, denen er gerade abtrünnig geworden war. Und den Weißen, für die er weiterhin ein Roter war. Außerdem durfte er keiner der bewaffneten Banden begegnen, die jeweils mit der Fahne plünderten, unter der es am meisten zu holen gab."

    Auf einer Lichtung entdeckt Nikolai Gefangene, die man bis zum Kopf eingegraben hat. Unter ihnen, halb tot, ist auch eine schwangere Frau, der man die Zunge herausgeschnitten hat. Er rettet sie. In seinem Dorf bringt sie ihren Sohn, Pawel zur Welt. Doch kaum ist der Krieg vorüber, beginnt die Kollektivierung. Die Bauern müssen ihr Vieh und ihre Pflüge abgeben, manche bringen sogar Töpfe und Pfannen, um nicht in Verdacht zugeraten. Denunziationen werden zum Alltag. Jeder verdächtigt jeden.

    "In solchen Momenten hätte er seinem Sohn gern erzählt, wie es in seiner Jugend gewesen war, vor dem Krieg und vor der Revolution. Wie bei einer Rechnung, dachte er, müsste man einfach die Gegenwart von der Vergangenheit abziehen und dann erzählen, was von dem Glück, der Freiheit und der Sorglosigkeit übrigblieb, die jene Zeit ausmachten. Aber jedes Mal, wenn er den Versuch unternahm, die alten Zeiten in Erinnerung zurückzurufen, verblassten die Unterschiede. Denn auch vor der Revolution hatte es einen Krieg gegeben und Eisenbahnwaggons voll Verletzter."

    Grausamkeit ist in der Welt von Andrei Makine die einzige Konstante. Seine Figuren leben in einem immerwährenden Alptraum, und die kurzen Momente der Ruhe sind nur die Vorbereitung auf neue Schrecken. Als der zweite Weltkrieg das kleine Dorf erreicht, steigert sich der Terror zum apokalyptischen Delirium. Die Gesetze der Wahrnehmung sind außer Kraft, die Welt ist aus den Fugen:

    "Ungläubig hörte er die Namen der eingenommenen Städte, denn sie lagen schon tief in Russland, wo die Gegenwart von Deutschen wie eine optische Täuschung, wie ein kartographischer Fehler anmutete....Eines Tages war selbst diese bizarre Topographie verschwunden. Die Städte verlagerten sich, als würde die Karte zerknüllt."

    Nikolai stirbt im Kugelhagel der Deutschen, aber auch in der Gewissheit, dass sein Sohn Pawel in den Krieg zieht. Pawel kämpft mutig, doch sein Gerechtigkeitssinn wird ihm zum Verhängnis. Er schlägt einen Offizier, der eine Frau bedrängt, und wird kurz vor Kriegsende in eine Strafkompanie versetzt. Hier nun verliert auch er Name und Geschichte. Den sicheren Tod vor Augen, fällt die Identität von den Soldaten der Strafkompanie ab. Ohne den Namen des anderen zu kennen und ohne Waffen stürmen sie deutsche Stellungen oder waten durch schaumig-gelbe Flüsse voller Leichen. Doch Pawel überlebt auch diesen Schrecken.

    In einem moralischen Reflex greift er erneut ein, als eine Frau von Soldaten in die Enge getrieben wird, doch diesmal können beide fliehen. Sie ziehen in den Kaukasus, bekommen einen Sohn und glauben sich geschützt, bis eines Tages die Granitscheibe den Hang hinab rollt und sich auch dieser Kreis der Hölle schließt.

    Makines Geschichtsbild ist zyklisch wie in vielen mythischen Weltvorstellungen. Und im Zentrum dieses Mythos befindet sich jene französische Vertraute Sascha, die den Erzähler rettet, als dessen Eltern erschossen werden. Damit schenkt sie ihm zum zweiten Mal das Leben. Sascha ist die Ur-Mutter, die Hüterin aller Geschichten und aller Geschichte. Irgendwann war sie Krankenschwester, aber das erfahren wir nur beiläufig. Sie ist nicht von dieser Welt.

    "Als ich wieder auf dem Weg zu ihr war, sah ich sie in der Ferne vollkommen allein im Zwielicht des Abends und mitten in der grenzenlosen Weite stehen. Ich ging langsam, schöpfte Atem und sah, wie sie da vorne in einer so vollkommenen Einsamkeit, in einer solchen Losgelöstheit auf mich wartete, dass sie mir fast wie eine Luftspiegelung vorkam".

    In Sascha lebt jene französische Großmutter fort, die in Makines Debütroman "Das französische Testament" Lebensweisheit, Bildung und Herzensgüte verkörperte. Und alle beide sind literarische Schwestern einer echten Figur: Makines eigener französischer Großmutter, von der er als Junge in Russland Französisch lernte.

    Doch anders als im Erstlingswerk kann Sascha ihr Versprechen nicht einlösen. Ihre Sprache erzählt noch immer von einer besseren Welt in Frankreich, aber Makines frühere Frankophilie ist der Bitterkeit gewichen. Paris ist zum kalt glänzenden Salon einer dekadenten Intelligenzija geworden.

    "Hässliche Worte, hässliche Gedanken, hässliche Lügen, an denen sich jeder beteiligte. Die ausserordentliche Hässlichkeit des jungen Gesichts dieser Frau, ihrer großen, geschmeidigen, jugendlichen Figur, die sich unter der Heuchelei der Worte bog. Die Hässlichkeit all dieser glatten gepflegten Gesichter und Körper, die sich in der wohligen Wärme des Clans aneinander rieben. Die unglaubliche Hässlichkeit dieses Frankreichs.:

    Da ist wenig zu spüren von einer Sehnsucht nach der Heimat seiner Sascha, aber auch wenig von der süßen Vergeblichkeit des ersten Teils. Überhaupt fällt die zweite Hälfte des Buches stark ab. Nikolai und Pawel sind furchtbare Exempel für die russische Tragödie, aber Figuren aus Fleisch und Blut werden sie nie. Makine muss das gespürt haben, denn immer wieder verlässt er sie, um andere Figuren einzuführen, deren Mikro-Dramen nach kurzer Zeit wieder im Mahlstrom der Historie verschwinden. Ganze Handlungsfäden enden so im Nichts.

    Der Autor betreibt einen ungeheuren formalen Aufwand. Er wechselt die Schauplätze schneller als ein Spion die Briefkästen: Berlin und Paris, Jemen und der Kaukasus, Uganda und Florida. Meist aber bleibt es bei Postkarten-Ansichten, mit Deutschen im Karneval und braungebrannten Amerikanern.

    Überdies variiert Makine das Tempo und den Stil, webt Ellipsen und Wiederholungen zu einem opulenten Panorama. "Russisches Requiem" ist ein vielstimmiger Roman. Über Pawel und Nikolai berichtet uns ein allwissender Erzähler, der sich über die Schlachtfelder aufschwingt und Gedanken lesen kann. Die Geschichte des Agenten erzählt Makine sogar aus drei verschiedenen Winkeln. Die Passagen des Heranwachsenden hören wir in der dritten Person. Der erwachsene Spion erzählt seine Geschichte selbst und wendet sich überdies immer wieder an seine verschwundene Geliebte. Solche Polyphonie ist eindrucksvoll, aber hemmt den Erzählfluss allzu sehr. Doch ein echtes Ärgernis sind die exzessiv geschilderten Grausamkeiten.

    "Im Blick: Ein Klumpen Erde trifft eine Wolke. Ein abgerissener Arm. Die Augen des Deutschen, sein offener Mund, und die Geschmeidigkeit, fast Anschmiegsamkeit, mit der das Bajonett in seinen Bauch dringt. Der nächste Granateinschlag. Der aufgespießte Körper schützt vor Splittern. Die offenstehende Tür einer Baracke. Übereinander gestapelte Skelette in gestreifter Häftlingskluft. Eine Granate sprengt die Toten auseinander. Eine Mauer stürzt ein - grelles Sonnenlicht.

    Wie in einem Gemälde von Bosch lässt Makine einen schier endlosen Reigen zerfetzter, gemarterter, verwesender Körper vorbeiziehen. Doch sein Purgatorium vollzieht sich in einem politischen Vakuum. Im plakativen Stakkato-Stil wirken die schockierenden Bilder fast wie ein Video-Clip.

    Dass es ihm dennoch um eine verquere Moral geht, verrät eine Szene in Paris. Der Erzähler trifft einen schmierigen Filmemacher, der eine Dokumentation über den zweiten Weltkrieg gedreht hat und die Zahl der Toten wie die Gewinne seiner Firma auf dem Taschenrechner addiert.

    "Als diese Menschen ihr Martyrium und ihren Tod erlitten, hatten sie ein Gesicht, eine Vergangenheit, einen Namen. Jetzt waren sie praktischerweise zu diesen anonymen Millionen zusammengefasst, ein Heer von Toten, das unablässig auf den großen Basaren der Ideen vorgeführt wurde. Dünne wie Dicke beriefen sich unermüdlich auf die Pflicht zur Erinnerung, aber eigenartigerweise förderte ihr Spektakel das Vergessen. Weil sie von Millionen sprachen, die so gesichtslos waren, wie die Nullen auf den Flüssigkristallanzeigen ihrer Taschenrechner."

    Das ist mehr als ein Beitrag zur Finkelstein-Debatte. Makine will jenen Millionen ihren Namen zurückgeben, indem er ihr individuelles Leid schildert. Doch er scheitert auf grosteke Weise: Die Flut der Qualen wirkt in seinem Buch so überwältigend, aber auch so anonym wie die bloße Zahl. Die Verklärung übermenschlichen Opfermutes gipfelt in eine mehrfach wiederholte Szene, in der ein KZ-Häftling einem sterbenden russischen Soldaten einen Becher Wasser reicht. Da wirkt die monumental übersteigerte Selbstlosigkeit fast wie eine obszöne moralische Erpressung. Makines Helden sind Märtyrer der Geschichte, sie fügen sich in jedes noch so grausame Schicksal. Da belebt ausgerechnet der Sibirier Makine das uralte Klischee der russischen Leidensfähigkeit wieder.

    Nach dieser Logik muss sich auch für den Ex-Spion das Schicksal vollenden. Die Geliebte, so erfährt er, wurde von einem Überläufer verraten, von den Amerikanern an Paramilitärs ausgeliefert und starb einen schrecklichen Tod.

    Ein letztes Mal legt er sich eine falsche Identität zu und nimmt die Spur des Verräters auf. Doch der hat sich im sonnigen Florida eingerichtet mit Sandburg und Sandalen. Die alten Rituale der Vergeltung erscheinen grotesk:

    "Diese Welt, der Morgen eines Ferientags, erwachte ringsum in der Biederkeit ihrer alltäglichen Gepflogenheiten, und ich spürte, dass ich immer weniger hierher passte. Ich war jener Mann aus einer in Vergessenheit geratenen Epoche, der gekommen war, um eine alte Rechnung mit einem Urlauber zu begleichen.

    So scheitert der Erzähler, woran seine Geliebte zugrunde ging und auch Schach zerbricht: Sie alle sind Opfer der neuen, post-sowjetischen Zeit, Veteranen einer untergangenen Epoche, Fossile. Mit ihnen aber geht in diesem Buch der letzte Rest aufrechter Haltung dahin. Makine beschreibt den Post-Kommunismus als Triumph amerikanischer Oberflächlichkeit. Der Weltpolizist Amerika verschachert unwidersprochen ganze Kontinente, während das große, ohnmächtige Russland ausgeweidet wird wie ein Kadaver. Und Agenten jagen keine Waffenhändler mehr, sondern verkaufen Militär-Konstruktionen hungernder Ingenieure in Sibirien.

    So endet "Requiem auf den Osten", wie der Originaltitel lautet, als bittere Abrechnung mit der post-sowjetischen Weltordnung. Am Ende eines Romans, der von den Schrecken Russlands handelt, mutet das seltsam nostalgisch an. Für einen Emigranten mag dieser innere Widerspruch normal sein. Doch für die nächsten Bücher macht er nicht eben Hoffnung.