Eine bissige Feststellung, die Iwan Turgenjew eine seiner Romanfiguren sagen lässt. Doch sie beschreibt treffend die gesellschaftliche Atmosphäre im Russland des 19. Jahrhunderts.
Leidenschaftlich stritten die russischen Intellektuellen über die Entwicklung ihrer Nation, deren Rückständigkeit im Vergleich zu Westeuropa nach der Französischen Revolution und der Epoche Napoleons ihnen immer deutlicher bewusst wurde.
"Russland ist noch ein Kind, das einer Njanja bedarf [...]", "
schreibt der junge Wissarion Belinskij.
" "Einem Kinde volle Freiheit geben, heißt: es verderben. Russland in seinem jetzigen Zustand eine Verfassung geben, heißt: Russland ins Verderben stürzen. Nach den Begriffen unseres Volkes ist Freiheit Zügellosigkeit und Zügellosigkeit ist Frechheit."
Gewappnet mit dem Rüstzeug der Philosophie des deutschen Idealismus nahm Belinskij den Kampf mit Worten für ein besseres Russland auf. Geprägt war er vor allem von Hegels Idee der einer dialektischen "Weltvernunft" folgenden Entwicklung der sozialen Zustände. Die Selbstherrschaft der russischen Zaren zog er noch nicht in Zweifel. Doch diese Haltung gab er bald auf.
"Hegel träumte von einer konstitutionellen Monarchie als idealer Staatsform - welch beschränkte Sicht! Nein, es darf keine Monarchen geben, alle Menschen sollen Brüder sein."
So Belinskij Anfang der 1840er-Jahre.
"In mir hat sich eine wilde, rasende, fanatische Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit der menschlichen Persönlichkeit erhoben, ich habe sowohl die Französische Revolution als auch Marats blutige Liebe zur Freiheit begriffen."
Wissarion Belinskij wurde zum Lehrmeister der neuen sogenannten "Natürlichen Schule" in der russischen Literatur. Sie forderte eine realistische Darstellung der Lebenswirklichkeit als soziale Anklage, die den Kampf gegen Ausbeutung und Erniedrigung des Menschen unterstütze.
"Was hilft es, wenn das Genie auf Erden schon im Himmel wohnt, solange die Menschen sich noch im Schmutze wälzen!", "
fragte er seine Zeitgenossen.
Zum Vorkämpfer für eine engagierte Literatur war Belinskij durch seine Herkunft bestimmt. Geboren am 11. Juni 1811 und aufgewachsen in einer der finsteren russischen Provinzstädte, in der sein Vater als Kreisarzt diente, entfloh er mit achtzehn Jahren der niederdrückenden Atmosphäre der Kindheit und nahm ein Studium als Kronstipendiat an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität auf.
Drei Jahre später wurde der Student Belinskij aufgrund eines jugendlichen Dramas, in dem die staatlichen Zensoren einen Angriff gegen die Leibeigenschaft sahen, von Amts wegen exmatrikuliert. Ohne Einkommen und Alimentierung durch die Eltern schlug er sich mühevoll als Repetitor und mit Übersetzungen französischer Unterhaltungsromane durch und machte schon bald als Kritiker in den die öffentliche Meinung bestimmenden Literaturzeitschriften "Vaterländische Annalen" und "Der Zeitgenosse" von sich reden.
Großen Einfluss auf die Entwicklung der russischen Literatur gewann sein berühmter Brief vom 15. Juli 1847 an Nikolaj Gogol, in dem er die Rolle des Schriftstellers für die russische Gesellschaft definierte.
" "Das Publikum sieht in den russischen Schriftstellern seine einzigen Führer, Beschützer und Erretter vor der Finsternis der Selbstherrschaft."
Der flammende Brief kursierte in Abschriften und beeinflusste die Generation junger Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew nachhaltig.
Die Welle der revolutionären Erhebungen in Europa 1848 verschärfte die Maßnahmen der zaristischen Sicherheitsbehörden gegen die demokratisch gesinnten Intellektuellen. Die berüchtigte "Dritte Abteilung" stellte den Befehl aus, Wissarion Belinskij zu verhaften und in der Peter-Paul-Festung zu internieren. Bevor es allerdings dazu kam, starb der bereits seit Langem an Tuberkulose Leidende im Alter von nur 37 Jahren. Seinen Namen in der Presse auch nur zu erwähnen, blieb lange Jahre verboten.