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Russland: Die Folgen der Wirtschaftskrise

In Russland machen aufgrund der Wirtschaftskrise viele Unternehmen dicht, andere schränken die Produktion ein oder schließen einzelne Betriebszweige. Die Folge: Massenentlassungen – und nicht nur die Arbeitslosen machen die Regierung verantwortlich.

Von Gesine Dornblüth | 01.03.2010
    Das Erdgeschoss eines Hochhauses in einem Moskauer Wohnbezirk. Etwa ein Dutzend Männer und Frauen sitzen in einem Warteraum, nebeneinander auf Stühlen an der Wand, und blicken vor sich hin. In die Moskauer Arbeitsämter kommen derzeit mehr als doppelt so viele Arbeitsuchende wie vor der Wirtschaftskrise. Zum Beispiel Jelena. Sie sucht eine Stelle als Buchhalterin:
    "Bisher habe ich nichts gefunden. Dabei komme ich schon seit drei, vier Monaten hier her. Die Arbeitsvermittlerinnen schlagen mir zwar immer wieder Stellen vor, aber bisher war keine dabei, die mir zugesagt hätte."
    Hinter einer der Türen sitzt Tatjana Sorokina in einem überheizten Büro und blickt auf einen schwarzen Bildschirm mit grellbunten Zahlen und Buchstaben. Sie nimmt die neuen Arbeitslosen in eine Kartei auf. Vor ihr liegen Zettel mit den Daten eines 57-Jährigen.
    "Er war Abteilungsleiter in einer Wohnungsbaufirma, und zwar in der betriebswirtschaftlichen Abteilung. Natürlich können wir Arbeit für ihn finden, aber in seinem Alter ist das natürlich kompliziert."
    Auch die privaten Arbeitsvermittler bekommen die Folgen der Krise zu spüren. Jelena Nowikowa von der Personalagentur "Avanta" in Moskau vermittelt Führungskräfte in ganz Russland:

    "Am meisten haben die Banker und die Versicherungskaufleute gelitten. Und die Luxusindustrie: teure Möbel, Juwelierwaren, teurer Alkohol, so etwas. Aber auch alle anderen Branchen sind betroffen. Die Menschen denken nicht mehr an morgen, sondern nur noch daran, was es heute zum Abendessen gibt. Die Planungen sind sehr kurzfristig geworden. Und das heißt, dass Investitionen in irgendwelche langlebigen Dinge, in Wohnungen, in ein Grundstück auf dem Land, Aktien oder so etwas, fast gar nicht mehr getätigt werden."
    Das heißt: Arbeitslose finden keinen neuen Job, und die, die noch eine Stelle haben, klammern sich an sie, selbst wenn sie mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden sind, so Nowikowa. Die Löhne sind in Russland seit Ausbruch der Krise im Schnitt um dreieinhalb Prozent gesunken. Die russische Regierung steckt in diesem Jahr umgerechnet knapp 850 Millionen Euro in ihr Antikrisenprogramm.

    Damit finanziert sie vor allem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bezahlt Fortbildungen für Arbeitslose und hilft Menschen, die sich selbstständig machen wollen. Diese Existenzgründerzuschüsse sind allerdings gering. Premierminister Wladimir Putin verkündete bereits in seiner Fernsehsprechstunde im Dezember, der Höhepunkt der Krise sei überwunden. Die Personalvermittlerin Jelena Nowikowa hält das für Schönfärberei:

    "Die Krise hat kein Ende. Denn die Entlassungen dauern an. Und diejenigen, die noch Arbeit haben, wissen, dass auch sie früher oder später an der Reihe sind."

    Selbst ein ranghoher Politiker wie Sergej Mironow, der Chef der Putin-freundlichen Partei "Gerechtes Russland", hatte vor Kurzem Kritik am Umgang Putins mit der Wirtschaftskrise geäußert. Beobachter sind sich einig: Russlands Wirtschaft wird nur dann auf die Beine kommen, wenn das Land endlich Arbeitskräfte qualifiziert, in moderne Technik investiert, russische Produkte konkurrenzfähig macht. Denn der Boom der vergangenen Jahre beruhte ausschließlich auf Russlands Rohstoffreichtum und dem hohen Ölpreis. Präsident Dmitrij Medwedew fordert inzwischen immer häufiger, das Land "allumfassend" zu modernisieren. Der Personalberaterin Jelena Nowikowa kommen diese Forderungen viel zu spät.

    "Medwedew redet jetzt von der Modernisierung. Davon hätte man vor vielen Jahren schon reden müssen. Unsere wichtigsten Reichtümer, unsere Rohstoffe, werden mit Methoden unserer Großmütter gefördert. Absolut barbarisch."
    Dazu kommt noch ein weiteres Problem. Russland zahlt sein Antikrisenprogramm aus einem Reservefonds. Darin wurden die Überschüsse aus dem Öl- und Gasexport der vergangenen Jahre angespart. Diese Reserven schrumpfen mit rasanter Geschwindigkeit. Und wenn die Regierung kein Geld mehr hat, um den Arbeitsmarkt zu stützen, dann könnte es in Russland doch noch zu sozialen Protesten kommen.