Lange: Seit Monaten mahnt der Außenminister Joschka Fischer die russische Führung, diesen Vernichtungskrieg in Tschetschenien zu beenden und sich an die internationalen Spielregeln zu halten, was die Menschenrechte angeht. Kann man diesen Ton der freundschaftlichen Kritik noch beibehalten, ohne sich unglaubwürdig zu machen?
Erler: Ich möchte erst einmal darauf hinweisen, dass es hier unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. Ich selber war vor kurzem in Moskau. Dort hat man mir vorgehalten, dass keine Regierung so hart sei wie die deutsche in der Verurteilung der Vorgänge in Tschetschenien, dass man sich ungerecht behandelt fühle und auch missverstanden, weil man doch gegen internationalen Terrorismus vorgehe, und das sei doch immer die Politik des Westens und auch der Bundesrepublik gewesen, solche Dinge zu unterstützen. Hier gibt es offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen. Herr Fischer hat unter anderem auch mitgetragen, dass die EU durchaus schon Sanktionen verhängt hat, die in Moskau geschmerzt haben. Es gibt zum Beispiel einige Handelsverzögerungen, einige Streichungen von Hilfen, Streichungen von Geldern, die nicht ins neue Haushaltsjahr übernommen worden sind. Diese Maßnahmen hat man durchaus in Moskau als schmerzlich empfunden.
Lange: Könnte es sein, dass man sich durch die Reise des BND-Chefs Hanning in Moskau auf einer sprachregelnden Linie vermutete, was Tschetschenien anging?
Erler: Mit Sicherheit konnte man das daraus nicht schließen, weil das auf einer völlig anderen Ebene zwischen zwei Diensten abgelaufen ist, was auf die offizielle Politik des MID, also des Außenministeriums in Moskau, wie auch auf die deutsche Politik, die zum großen Teil davon ja gar nicht unterrichtet war, keinerlei Einfluss hatte.
Lange: Aber die Art und Weise, wie die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson nun in Tschetschenien und dann in Moskau brüskiert worden ist, müsste doch für die EU ein Anlas sein, nun die Tonart zu wechseln?
Erler: Ja, das ist in der Tat richtig, dass man darauf reagieren muss. Sehen Sie, die Herausforderung ist meiner Meinung nach eigentlich die russische Politik. Dort ist Putin gewählt worden, ein starker Mann mit einem sehr guten Ergebnis im ersten Wahlgang. Alle haben gesagt, Russland ist wieder handlungsfähig, aber was sehen wir denn? Wir sehen diese wirklich provokative Behandlung von Frau Robinson. Wir hören jetzt Kritik an der Duma, an dem Europaratsbeschluss. Auf der anderen Seite sagt Außenminister Iwanow, man wolle das Gespräch aufrecht erhalten, es gebe keine Tabuthemen, man könne über alles sprechen. Dann kommt Herr Jastoschemski und sagt, man sei bereit, mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow zu verhandeln. Am nächsten Tag wird das wieder dementiert. Wer also erwartet hatte, dass mit Putin Handlungsfähigkeit und Erkennbarkeit von Politik in den Kreml einzieht, der muss eigentlich feststellen: nichts davon ist passiert. Ich finde, der Westen muss mal klarmachen, dass von Putin eigentlich etwas anderes erwartet worden ist. Putin hat die Verantwortung für dieses Chaos der russischen Politik, wo man keine Linie in dieser Frage erkennen kann, wie man auf die westliche Kritik in Sachen Tschetschenien reagiert.
Lange: Es gibt aber dennoch den Eindruck, dass Russland in dieser UN-Menschenrechtskommission nun eine bevorzugte Behandlung zuteil wird?
Erler: Die Russen haben sich bisher ja nicht bereit erklärt, diese zwei Forderungen zu erfüllen, nämlich eine Untersuchungskommission und internationale Beobachter in Tschetschenien zuzulassen. Das widerspricht übrigens, um noch mal auf den Widerspruch hinzuweisen, der bisherigen russischen Politik. Russland hat bisher den Europarat gerne benutzt, um Minderheitenrechte von russischen Bürgern in den baltischen Staaten zu schützen. Russland hat immer die Fahne der OSZE hochgehalten und gesagt, wie wichtig ihr diese Organisation ist, wichtiger vielleicht für die europäische Sicherheit als die NATO. Russland hat immer die Vereinten Nationen unterstützt und beschimpft den Westen, dass der die Vereinten Nationen im Kosovo-Krieg außen vorgehalten hat. Alle drei Organisationen haben jetzt Forderungen, haben jetzt Erwartungen an Russland, und Russland brüskiert alle drei Organisationen. Das ist eine völlig widersprüchliche, inkonsistente und für das Ansehen Russlands schädliche Politik. Was wir fordern müssen ist das, was in diesem Resolutionsentwurf der UN-Menschenrechtskommission steht, nämlich dass diese zwei Möglichkeiten, wenigstens eine unabhängige und internationale Untersuchung vor Ort stattfindet. Sonst werden sich die Vorwürfe gegen Russland noch vertausendfachen.
Lange: Der Resolutionsentwurf, so wie er uns bekannt geworden ist, enthält ja gerade nicht die Forderung nach internationalen Beobachtern, sondern nur nach einer unabhängigen nationalen Untersuchung. Das ist doch die Abschwächung.
Erler: Nein, ich kenne den Test. Dort ist sehr wohl als zweiter Punkt neben einer Untersuchungskommission, die in der Tat nicht näher definiert wird, die Zulassung internationaler Beobachter enthalten. Das ist genau das, was auch wahrscheinlich Frau Ferrero-Waldner heute in Moskau fordern wird, dass wieder eine Delegation der OSZE in Tschetschenien zugelassen wird. Das kann genauso eine Delegation der Vereinten Nationen sein. Das macht aber überhaupt nur Sinn, wenn das Leute sind, die internationalen Gremien verpflichtet sind. Ansonsten machen internationale Beobachter keinen Sinn.
Lange: Herr Erler, seit wann ist es denn üblich, dass Resolutionsentwürfe für die UNO-Menschenrechtskommission vorher mit der zu kritisierenden Regierung abgestimmt werden?
Erler: Das ist von der Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen statutenmäßig so vorgesehen. Man will ja nicht ausgrenzen, man will ja nicht jemanden an die Wand hauen, weil er hier mit Beschuldigungen konfrontiert ist, sondern man will auch dort die Möglichkeit geben, im Laufe dieses Prozesses, bevor das vor die Vollversammlung geht, schon den Forderungen nachzukommen oder ihnen zuzustimmen. Das beste wäre ja, wenn die russische Seite diesen Forderungen zustimmt und es dann eine gemeinsame Resolution gibt. Dann braucht man auch nicht eine Abstimmung, möglicherweise eine Kampfabstimmung, in der Vollversammlung der Vereinten Nationen durchzuführen. Deswegen steht das so in den UN-Statuten drin.
Lange: Bedeutet das, dass diese Regierungen zu dem Entwurf eine Stellungnahme abgeben, oder nehmen sie wirklich Einfluss auf die Formulierung, denn dann bleibt am Ende ja nicht viel übrig?
Erler: Es geht eigentlich nicht um die Formulierungen, sondern es geht um die Frage, wie sich Russland gegenüber diesen, jetzt von der EU eingebrachten Forderungen der UN-Menschenrechtskommission verhält. Wenn Russland sagt, es empfindet diese als berechtigte Forderungen und wird diesen nachkommen, dann kann es eine gemeinsame Resolution geben und dann braucht man die Ebene der Vollversammlung nicht. Sollte Russland dem allerdings nicht zustimmen, dann wird es am 18. April zu einer Abstimmung kommen und dann kann es sein, dass sich Russland am Pranger der Weltöffentlichkeit wiederfindet. Das ist auch eine interessante Frage, ob Putin seine neue politische Ära mit einem solchen Paukenschlag verbinden will und dadurch eine Selbstisolierung Russlands riskieren will, oder ob er auf die im Grunde genommen vollkommen berechtigten, in vielen anderen Fällen angewandten Forderungen der Kommission eingehen wird.
Lange: Diese Resolution würde ja doch keine Verurteilung bedeuten. Das wäre ja wohl das schärfste Instrument, das die Kommission hat. Es bleibt vielmehr bei einer Kritik und bei Empfehlungen, wie man sich anders verhalten könnte?
Erler: Die Frage ist doch, was eine Menschenrechtskommission will. Sie muss in erster Linie den Schutz der betroffenen Bevölkerung im Auge haben. Eine Verurteilung Russlands nutzt den Menschen vor Ort nicht, sondern eine Beobachtermission, die unabhängig die Untersuchung von Verbrechen durchführt. Das ist etwas, was wie wir wissen auch im Vorhinein bereits ein Schutz für die betroffenen Menschen bedeutet, und das ist es, was prioritär das Interesse der UN-Menschenrechtskommission sein muss.
Lange: Wenn in Fragen der Menschenrechte mit gleicher Elle gemessen werden soll, dann kann das doch nur heißen: gleiche Menschenrechtsverstöße werden in gleicher Weise verurteilt ohne Ansehen der verantwortlichen Regierung. Ist das die Position auch der Koalition?
Erler: Ich könnte Ihnen eine Fülle von Verurteilungen des russischen Verhaltens im Tschetschenien-Krieg öffentlicher Art im deutschen Bundestag, in verschiedenen internationalen Gremien, vorgetragen von Vertretern der Bundesregierung und auch Vertretern des deutschen Bundestages, hier aneinander reihen. Es hat an Verurteilungen nicht gefehlt. Was wir haben ist eine inkonsistente, widersprüchliche russische Politik, die offenbar nicht geführt wird, wo es offenbar keine Linie gibt, wie man mit dieser Kritik umgeht. Jetzt ist eigentlich die letzte Chance die Ebene der Vereinten Nationen. Wenn Russland nicht riskieren will, jetzt auch dort eine völlige internationale Isolierung zu erleiden, dann muss es konstruktiv mit den Forderungen der UN-Menschenrechtskommission umgehen.
Lange: Wie erklären Sie sich denn diese Kritik der Menschenrechtsorganisationen an Joschka Fischer? Das hat ja irgendwie etwas von enttäuschter Liebe. Dort ist jemand den hohen Erwartungen, die er selbst geweckt hat, vielleicht nicht gerecht geworden.
Erler: Joschka Fischer hat noch vor kurzem vor der Menschenrechtskommission eine Rede gehalten, die belegbar ist und die zeigt, dass von einer Zurückhaltung Deutschlands gar keine Rede sein kann. Ich wiederhole noch einmal: die Perzeption der deutschen Position in Moskau - und das ist ja nun sehr wichtig, wie das dort wahrgenommen wird - ist eine völlig andere. Dort wird behauptet, dass Deutschland eine härtere Position als andere EU-Partner einnimmt, dass man darüber enttäuscht sei, weil man ja eine strategische Partnerschaft mit Deutschland suche und dass man es auch nicht begreife, weil doch die Deutschen am ehesten wissen müssten, welche Verhältnisse im Kaukasus sind, und dass sie im Grunde genommen das russische Vorgehen rechtfertigen. All das spricht nicht dafür, dass hier irgendein objektiver Grund zu dieser Kritik ist. Ich glaube, hier spiegelt sich eher die allgemeine Unzufriedenheit, dass der Westen keine Hebel hat. In der Tat haben wir wenig Hebel, um die russische Politik zu beeinflussen. Sie erweist sich im Augenblick als wenig flexibel in der Reaktion auf Kritik. Aber andere Hebel stehen eben nur sehr begrenzt zur Verfügung, wenn man mal von diesen Ebenen der OSZE und der Vereinten Nationen absieht.
Lange: In den "Informationen am Morgen" war das Gernot Erler, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. - Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: (Russland nach der Wahl Wladimir Putins (27.3.2000)==>/cgi-bin/es/neu-hintergrund/205.html)
Link: Interview als RealAudio
