Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Russland
"Wir sind keine liberale Nation"

"Die Krim gehört uns." Nicht nur Wladimir Putin, viele Russen stehen hinter dieser Parole. Und viele Europäer hinterfragen die russische Mentalität. Intellektuelle erklären sie mit der Geschichte ihres Landes, in der demokratische Reformversuche immer wieder scheiterten.

Von Gesine Dornblüth | 24.08.2014
    Der Kreml und die Dreifaltigkeitskathedrale in Pskow in Nordwestrussland.
    Die Glocken der Dreifaltigkeitskathedrale im Kremel von Pskow in Nordwestrussland. (picture-alliance/ dpa / Uwe Zucchi)
    Der alte Arbat, das Herz Moskaus. Der Musiker trägt Bart und einen Strohhut. Asiatische Touristinnen ruhen sich mit Wasserflaschen in der Hand auf Bänken aus. Maler bieten Kitsch an: Stillleben mit Blumen oder Gassen im Abendlicht. Vor einer belgischen Bäckerei sitzen Touristen beim Kaffee. Auf den ersten Blick wirkt alles wie in nahezu jeder europäischen Metropole.
    Doch über den Dächern ist die Spitze des sowjetischen Außenministeriums zu sehen, der Sowjetstern. Seit Monaten verbreitet es eine Parole, die Europa nicht akzeptieren kann: "Die Krim gehört uns." Und die Menschen in Russland stimmen ein – fast einstimmig. Warum? Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Aleksandr Archangelskij sitzt in einem der Cafés und trinkt grünen Tee.
    "Wir haben immer noch das sowjetische Erbe in uns. Als 1977 der Satz in die sowjetische Verfassung aufgenommen wurde, es sei eine neue historische Gemeinschaft entstanden - das sowjetische Volk – da haben wir darüber gelacht. Aber es stimmte. Diese Gemeinschaft hatte und hat spezifische kulturelle, psychologische und soziale Züge: Paternalismus, Ablehnung persönlicher Verantwortung, ein historischer Minderwertigkeitskomplex und die Bereitschaft, das eine zu denken und das andere zu tun. Das hat sich bis heute erhalten. Die Menschen in Russland benehmen sich jetzt im Alltag wie wilde Individualisten. Jeder kämpft für sich. Zugleich bekennen sie sich zum Kollektivismus. Die Menschen leben in Mythen. Und das merkt man auch an den Reaktionen auf die Politik. Jeder macht sein Ding, aber wenn die Krim annektiert wird, sind alle dafür."
    Sowjetunion hat noch hohe Bedeutung für die Mentalität
    Die Bedeutung von 70 Jahren Sowjetunion für die Menschen kann man gar nicht hoch genug einschätzen, meint auch die Kunsthistorikerin Jelena Nemirowskaja. In ihrem Wohnzimmer tickt eine Wanduhr. Die Bücherregale reichen bis unter die Decke. Auf dem Klavier steht ein Blumenstrauß.
    "Wir sind alle noch sehr sowjetisch. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, aber die sowjetische Mentalität. Und in der gibt es keine Moral. Dieser amoralische Zustand, in dem sich alle befinden, ist der Punkt, der mich am meisten enttäuscht und den wir hinter uns lassen müssen. Aber bisher weiß niemand, wie."
    Das Grunddilemma aber, sagt Jelena Nemirowskaja, sei älter als die Sowjetunion:
    "In der Geschichte Russlands gab es keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung in dem hohen Sinne, wie sie in Europa stattfand. In Russland gab es keine öffentlichen Diskussionen. Und bis heute ist niemand an öffentliche politische Diskussionen gewöhnt."
    Viele Russen wollen klare Ansagen, keinen Diskurs. Das hat nichts mit Denkfaulheit zu tun, sondern damit, dass sie Diskurskultur, Entscheidungsfindung über einen Wettstreit der Meinungen, Auseinandersetzung mit Widerspruch, nicht kennen. Der Versuch, in Russland in den 1990er-Jahren ein demokratisches Wertesystem zu etablieren, ist zudem an Alltagsproblemen gescheitert, an Chaos und Armut. Für die meisten Russen ist die Demokratie damit auf Jahre diskreditiert.
    Reformversuche kamen zu spät und scheiterten oft
    Natürlich gab es auch schon in früheren Jahrhunderten diverse Versuche, Russland zu reformieren. Doch alle mussten scheitern, aus verschiedenen Gründen, so Nemirowskaja.
    "Peter der Große hat sehr viel für die Modernisierung Russlands getan, aber nur äußerlich, das war die Imitation einer Modernisierung. In Wirklichkeit hat er über die Orthodoxie und über andere staatliche Instrumente die Anfänge von so etwas wie freiem Denken noch stärker unterjocht. Deshalb haben die Adligen sich Katharina entgegengestellt, als die das Land modernisieren und die Leibeigenschaft aufheben wollte."
    Man hätte bereits unter Jekaterina mit der Leibeigenschaft aufräumen müssen. Was gemacht wurde, wurde spät gemacht. Und dann hat die russische Intelligenzija diese ganze Diskussion zwischen Slawophilen und Westlern zerredet, und so war alles für die Katz. Auch im 19. Jahrhundert haben nicht alle begriffen, was das Spezifische am Westen ist.
    Russland hat die Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft. Der Streit zwischen Slawophilen und Westlern, zwischen Anhängern eines eigenen, slawischen Weges, und eines europäischen Russlands, war ein Elitendiskurs. Er prägt Russlands Geistesgeschichte über Jahrhunderte. Die Westler konnten sich nie durchsetzen. Das lag gar nicht mal daran, dass die Slawophilen so stark waren, meint der Schriftsteller Archangelskij. Es lag – wie heute – an der Trägheit der Masse.
    "Die Slawophilen war damals auch eine Minderheit. Die Mehrheit aber war gar nicht denkend. Es gibt Andersdenkende und Garnichtdenkende. Westler und Slawophile waren abgegrenzte intellektuelle Zirkel, sie haben nur eine winzige Schicht erreicht. Deshalb hat keiner den anderen auf seine Seite gezogen."
    Archangelskij findet es schwierig, bestimmte historische Personen oder Ereignisse als prägend für die russische Mentalität herauszuarbeiten. Das funktioniere nicht, weil viele Russen nicht an historische Fakten, sondern sehr oft an Mythen glaubten.
    Russen glauben nicht an Fakten
    "Das Schlechte im kulturellen Bewusstsein ist: Die Massen sind bereit, schnell die Vorzeichen zu ändern. Jetzt wird bereits darüber geredet, dass Iwan der Schreckliche gar nicht so schrecklich war. Wenn das noch lange so weiter geht, werden die Menschen das annehmen. Oder Peter I, der kann auf einmal eine negative Figur werden. Der einzige, den die Massen anerkennen, ist Stalin. Nicht der echte historische Stalin, sondern das Bild von Stalin als ein starker und harter Herrscher, der mit der Faust auf den Tisch hauen und für Ordnung sorgen konnte."
    Aleksandr Archangelskij warnt auch davor, Besonderheiten des orthodoxen Christentums als Erklärungsmuster für das Verhalten der Russen heranzuziehen, wie es konservative Denker aus dem Umfeld des Kreml derzeit tun. Sie berufen sich auf angebliche höhere, typisch orthodoxe Werte, auf eine aus dem orthodoxen Glauben resultierende innere Freiheit, die wichtiger sei als äußere Freiheiten. Diese These vertritt zum Beispiel der einflussreiche Publizist Maksim Schewtschenko. Er sagt:
    "Wir sind Russland. Wir lieben Europa, wir lieben die europäische Kultur. Aber wir sind nicht Europa. Wir sind keine liberale Nation. Wir glauben nicht an westliche Werte und westliche Freiheiten."
    Der Haken bei der Sache: Es geben zwar bis zu 90 Prozent der Russen an, sie seien orthodox. Aber sie üben den Glauben gar nicht aus. Zwar sei der Patriarch aufs Engste mit dem Kreml verbunden – und das im Übrigen seit Jahrhunderten. Archangelskij:
    "Die lebendige Orthodoxie ist eine Minderheitenkultur. Sie hat überhaupt nichts mit dem politischen System zu tun, mit den politischen Entscheidungen, mit dem Russland, das heute über die angebliche russische Welt redet und im Donbass kämpft oder die Krim annektiert."