Im Unterschied zu anderen europäischen Völkern, die ihre Kolonien nicht halten konnten, haben die Russen Transuralien, das riesige Land jenseits des "Großen Steins", so stark geprägt, dass die Neuerwerbung doch allmählich zum "Vaterland" wurde. Parallelen zur Eroberung Nordamerikas liegen auf der Hand. Allerdings war der Besiedlungsprozess in Sibirien für die Ureinwohner trotz blutiger Kämpfe insgesamt weniger schmerzlich:
Es kam sehr bald zu Mischehen, es war ein völlig akzeptierter und gängiger Vorgang, dass sich hier Familien gründeten, die zur Hälfte russisch und zur Hälfte sibirisch waren. Das vordringliche Interesse war, miteinander Handel zu treiben und nicht einander das Land wegzunehmen oder einander zu verdrängen. Dazu ist Sibirien einfach zu groß. Das Ganze hat sich in sehr viel friedlicherer Form abgespielt.
Von Anfang an nahm die gesellschaftliche Entwicklung Sibiriens einen ganz anderen Weg als die im europäischen Russland. Sibirien hat sich immer durch eine gewisse Staatsferne und ein größeres Maß an Freiheit ausgezeichnet:
Moskau war weit, der Zar war fern, seine Hand, seine administrative und auch oft strafende Hand, hat eben nicht soweit über den Ural gereicht, wie die Siedler vorgedrungen waren. Sie haben dort also rechtliche und politische Freiräume vorgefunden, die es im westlichen Russland in dieser Form überhaupt nicht gab. Sie fanden schwierige natürliche Gegebenheiten vor, die sie gemeinsam gemeistert hatten, und sie fanden einen großen Pool kultureller Fremdeinflüsse vor, die sie zu einem gewissen Teil auch übernommen haben und sich damit sozusagen ihre eigene Identität geschaffen haben.
Also gibt es eine "sibirische" Identität? Einer Umfrage von 1998 zufolge sind die Sibirjaken fast hundertprozentig von der Existenz eines sibirischen Charakters überzeugt, den sie als zielstrebig, offen, ehrlich und gradlinig kennzeichnen. Die Menschen hinterm Ural zeigen mehr Flexibilität und Eigeninitiative als ihre Landsleute in anderen Regionen Russlands. Das war schon immer so. Dennoch hat Sibirien keine eigene autonome politische Entwicklung genommen:
Dazu haben wohl die internen Kräfte in Sibirien zu keiner Zeit ausgereicht, und zu keiner Zeit war es jeweils möglich, diese doch sehr heterogene und in diesem riesigen Land auch sehr verstreut lebende Bevölkerung mit einer schlagkräftigen einheitlichen politischen Idee zu motivieren und diese durchzusetzen. Die eigenen sibirischen Kräfte haben nicht ausgereicht - jedenfalls im Vergleich zu den sehr starken Begehrlichkeiten und Machtinteressen, die von außen an Sibirien herangetragen wurden.
Unter den Eroberern und Entdeckern des sibirischen "Hinterlandes" waren auch viele Ausländer. Als Wissenschaftler haben sich insbesondere Deutsche hervorgetan. Da ist zum Beispiel Gerhard Friedrich Müller, der von 1703 bis 1783 lebte und zum "Vater der sibirischen Geschichte" wurde:
Er hat zusammen mit mehreren Expeditionen Sibirien bereist. Er hat mit den indigenen Völkern dort Kontakt aufgenommen, hat alles genauestens notiert und ein umfangreiches Schriftenmaterial von seinen Reisen mitzurückgebracht, das dann auch nach und nach publiziert und auch in Westeuropa veröffentlicht wurde, hat damit erstmals eigentlich diesen Schleier, der über Sibirien lag, diesen Schleier der Unkenntnis, für die Weltöffentlichkeit, kann man sagen, gelüftet.
Im 19. Jahrhundert wusste man in Westeuropa schon mehr über Transuralien. Nun wurden nicht nur Kriminelle zur Zwangsarbeit dorthin verschickt, sondern zunehmend auch politisch Missliebige. Den Anfang machten die berühmten Dekabristen, die 1825 versucht hatten, sich gegen Zar Nikolaus I. zu erheben:
Durch ihre Weltanschauung, die sie letztlich zu Verbannten gemacht hat, haben sie große Sympathien genossen in der Bevölkerung, d. h. sie waren von Anfang an akzeptiert nicht als Kriminelle, sondern man erkannte in ihnen hochkultivierte, gebildete Menschen, die ihren Mitmenschen an den Orten, in denen sie lebten, sehr viel zu geben hatten. Die Dekabristen waren ja auch nicht lebenslang in irgendwelchen Straflagern abgeschottet oder in irgendwelchen Bergwerken vergraben, sondern sie durften nach Verbüßung ihrer Zwangsarbeitsstrafe sich dann auch in Sibirien niederlassen. Sie haben sich dort sehr stark engagiert für die sozialen und vor allem kulturellen Belange der Gemeinden, in denen sie ihre neue Heimstatt genommen hatten.
Unter den Revolutionären, die um die Wende zum 20. Jahrhundert nach Sibirien verbannt wurden und dort relativ komfortabel lebten, waren auch Lenin und Stalin, die Russlands und Sibiriens Geschicke nach 1917 in ganz andere Bahnen lenken sollten. Anders als die Zaren, die Sibirien eher planlos erobert und ausgebeutet hatten, gingen die Bolschewiki planmäßig vor und schienen zunächst auch sozialen Belangen des "Entwicklungslandes" hinterm Ural Rechnung zu tragen:
Es wurden Investitionen bereitgestellt, in erheblichem Maße. Also, es gibt so eine Statistik, dass in der Sowjetzeit pro Jahr im Durchschnitt etwa 70 Mio. Rubel nach Sibirien geflossen sind. Dabei muss man allerdings auch bedenken, und hier ist wiederum die Parallele zur Zarenzeit, dass man in denselben Jahren ca. 300 Mio. Rubel aus Sibirien wieder herausgezogen hat über geförderte Bodenschätze und andere Wirtschaftsgüter, die dort erzeugt wurden. Das ist letztlich auch das wahrhaft Desaströse daran, dass Sibirien durch die gewachsenen technischen Möglichkeiten im 20. Jahrhundert noch sehr viel schneller, effektiver und brutaler ausgebeutet werden konnte als das zur Zarenzeit der Fall war.
Die Folgen waren insbesondere für die Umwelt katastrophal. Die Tragödie des Baikalsees, die klimatischen Folgen des Wasserkraftwerkbaus, die Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung infolge schlampiger Öl- und Gasförderung, der schlechte Gesundheitszustand der indigenen Völker infolge dieser Umweltschäden - all das ist seit langem weltweit bekannt. Nach dem Ende der Sowjetzeit und der Planwirtschaft haben Privatleute, die sogenannten Oligarchen, die Förderung und Vermarktung der sibirischen Bodenschätze übernommen:
Im Zweifel ist der Oligarchenkapitalismus, wie ihn Sibirien jetzt seit 1991 sieht, günstiger, weil es eben nicht mehr um Prestigeprojekte geht, die um jeden Preis realisiert werden müssen, sondern weil jetzt eben einfach Rentabilitätsgesichtspunkte im Vordergrund stehen müssen.
Mit der Schließung unrentabler Förderstätten entfielen allerdings Zehntausende Arbeitsplätze. Die Finanzierung von Siedlungen im Hohen Norden, die in der Sowjetzeit die Überlegenheit des Systems beweisen sollten, wurde eingestellt. In der Folge erlebt Sibirien derzeit eine Massenabwanderung, die um seine Zukunft als "Morgenland" fürchten lässt. Hat Sibirien eine Chance, sich von 400 Jahren rücksichtsloser Ausbeutung zu erholen?
Ich sehe schon Kraft. Wenn ich durch Sibirien fahre, sehe ich Kraft überall. Ich denke, dass Sibirien einige Zeit brauchen wird, sich von all dem zu erholen, was es in den letzten, vor allen Dingen zwei-, dreihundert Jahren mitgemacht hat. Ich sehe überall Initiativen, ich sehe, dass sich etwas entwickelt, dass es kreative Menschen gibt, dass es Menschen gibt, die wirtschaftliche Initiativen starten, ohne vorher Parteikader gewesen zu sein und sich über die Privatisierung bereichert zu haben, und ich denke, dass innerhalb der nächsten zwei, drei Generationen - ich spreche nicht von Jahren oder Jahrzehnten, sondern von Generationen -, dass in Sibirien sehr viel passieren wird, und dass Sibirien durchaus das Zeug dazu hat, ein kleines Wunderland zu werden. Ich denke, dass die Möglichkeiten Sibiriens noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Wollen wir es hoffen. Sabine Gladkovs Sibirien-Geschichte ist, von ein paar sprachlichen Schwächen abgesehen, eine gut lesbare populärwissenschaftliche Darstellung, der man eine große Leserschaft wünschen möchte.
Marianna Butenschön über Sabine A. Gladkov: Geschichte Sibiriens, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2003.