Donnerstag, 25. April 2024

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Sabine Bergmann-Pohl
"Wir waren ja nun mal sozialisierte Ossis"

Sabine Bergmann-Pohl war das letzte Staatsoberhaupt der DDR. In die Politik ist die Ärztin nur aus pragmatischen Gründen gegangen, dann nahm die Geschichte so rasant ihren Lauf, dass Bergmann-Pohl am 23. August 1990 den Beschluss der Volkskammer über den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland verlas.

Sabine Bergmann-Pohl im Gespräch mit Rainer Burchardt | 26.01.2017
Sabine Bergmann-Pohl, aufgenommen am 13.04.2016 in Berlin. Bergmann-Pohl war 1990 Präsidentin der Volkskammer und _ da die Funktion des Staatsrates auf den Volkskammerpräsidenten übertragen wurde _ damit das letzte Staatsoberhaupt der DDR. Foto: Michael Kappeler/dpa | Verwendung weltweit
In der Flüchtlingskrise habe Deutschland seine Offenheit und Demokratiefähigkeit bewiesen, lobte Sabine Bergmann-Pohl im Zeitzeugengespräch. (dpa)
Sprecherin: Zu dem Amt sei sie mehr oder weniger durch Zufall gekommen. Ohne Verklärung blickt Sabine Bergmann-Pohl auf ihre Zeit als letztes Staatsoberhaupt der DDR. Es waren nur wenige Monate, in denen sie diese Funktion ausfüllte. Im Frühjahr 1990 zog sie nach den ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer für die CDU ins Parlament ein und wurde zur Präsidentin gewählt. Da der DDR-Staatsrat wenig später abgeschafft wurde, fiel Bergmann-Pohl kurzerhand auch die Rolle als Staatsoberhaupt zu. Dabei war die 1946 geborene Thüringerin von Hause aus kein Zoon politikon und bis in die späten 1980er-Jahre politisch wenig aktiv. Ihr Beitritt zur Ostberliner CDU entsprang mehr pragmatischen Überlegungen und dem Wunsch, sich der SED nicht zu sehr andienen zu müssen.
Nach dem Überraschungssieg des konservativen Wahlbündnisses Allianz für Deutschland bei den Volkskammerwahlen ging es Bergmann-Pohl schließlich wie vielen anderen der neu gewählten Parlamentarier: Sie waren Seiteneinsteiger, mussten aber das politische Geschäft in rasender Geschwindigkeit übernehmen. Binnen eines halben Jahres wurden mehr als 150 Gesetze auf den Weg gebracht. Am Morgen des 23. August 1990 verlas Sabine Bergmann-Pohl schließlich um 2:57 Uhr den Beschluss der Volkskammer über den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Ein historischer Moment, in dem die Parlamentarier endgültig das Ende ihres Staates besiegelten.
Für viele Abgeordnete war es zugleich das Ende ihrer politischen Karriere. Sabine Bergmann-Pohl hingegen gelang der Übergang ins Kabinett von Helmut Kohl, der sie zur Bundesministerin ohne Geschäftsbereich machte. Später wurde sie parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Rein formal sei es mit ihr bergab gegangen, gestand sie später einmal gegenüber der Zeitung "taz". Die Erfahrungen und Positionen der ehemaligen Volkskammerabgeordneten seien in der Bundesrepublik kaum gefragt gewesen. Ihre fachliche Kompetenz als Medizinerin konnte Bergmann-Pohl dennoch einbringen, etwa als Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags. 2002 schied sie aus dem Parlament aus und widmete sich ihrer Tätigkeit für das Deutsche Rote Kreuz.
Ich bin dann im zarten Alter, muss ich sagen, von 18 Jahren in die Gerichtsmedizin gekommen und mit all diesen Schrecklichkeiten, die dort auch sind, konfrontiert worden.
Medizin statt Model-Karriere
Rainer Burchardt: Frau Bergmann-Pohl, ich würde dieses Gespräch ganz gern mit Befindlichkeiten beginnen. Wir befinden uns hier bei dieser Interview-Aufzeichnung im Gebäude des RIAS, jetzt vom Deutschlandradio natürlich. Sie haben in einer Autobiografie mal geschrieben, der RIAS sei Ihr bevorzugter Sender während der Jugend- und Studentenzeit vor allem gewesen. Welches Gefühl oder welches Empfinden haben Sie, wenn Sie jetzt hier dieses Gebäude betreten?
Bergmann-Pohl: Ja, das ist vielleicht auch ein Stück wieder meiner Jugend- und sogar Kindheitserinnerungen. Meine Großeltern lebten ja hier in Westberlin in Kladow und ich habe ganz viel meine Ferien hier verbracht. Und sonntagsmorgens war immer: "Onkel Tobias" im RIAS ist da, das haben wir immer gehört mit meiner Cousine, und später natürlich im RIAS Nachrichten, Lord Knud, die Musik. Und ja, für mich ist der RIAS ein Stück Heimat.
"Man kann ja nicht verbieten, wenn Leute zu Hause Radio und RIAS hören"
Burchardt: RIAS ist ja die Abkürzung für Radio im amerikanischen Sektor. Und RIAS war ja in der ganz harten Zeit des Kalten Krieges so etwas wie ein Feindsender. War das eigentlich verboten damals oder haben Sie dieses Verbot einfach oder, wenn es denn ein Verbot war, ja, dezent umgangen?
Bergmann-Pohl: Also, verboten? Man kann ja nicht verbieten, wenn Leute zu Hause Radio hören und RIAS hören. Sicherlich kann man das überwachen und kann einem Steine in den Weg legen, aber das hat mich eigentlich nicht interessiert. Also, RIAS war mein Sender und den habe ich immer gehört. Ja, und für mich war auch die Information nachher über den RIAS wichtig und insofern - also, ich sage mal, Verbote haben mich eigentlich noch nie so richtig interessiert.
Burchardt: Das wird sicherlich ein gutes Stichwort auch sein für Mauerbau und Folgende. Aber bleiben wir mal bei Ihrer Kindheit. Sie sind eigentlich Thüringerin, dort geboren, es hat Sie aber relativ früh dann nach Berlin verschlagen, wenn man das so sagen darf. Was war dafür der Grund?
Bergmann-Pohl: Ja, der Grund war, dass meine ganze Familie gebürtige Berliner sind und ich die Einzige bin, die in Eisenach geboren worden ist, kurz nach dem Krieg. Mein Vater kam aus dem Krieg zurück, meine Mutter mit meinen Geschwistern war nach Thüringen evakuiert, mein Vater hat dann als Arzt in Ruhla ein Krankenhaus aufgebaut, aber es war immer sein Ziel, nach Berlin zurückzukehren. Und dann sind wir 57 nach Berlin gezogen.
"Eigentlich sind mir immer ganz viele Wege geebnet worden"
Burchardt: Ihr Vater war Arzt, auch in einer gehobenen Position, was für Sie ja nicht unbedingt von Vorteil war, denn Sie waren aus einer begüterten Familie, so hieß es ja damals, und nicht unbedingt für ein Studium von vornherein zugelassen. Was haben Sie dann gemacht?
Bergmann-Pohl: Ja, das ist richtig, es gab eine sogenannte 60-40-Prozent-Regelung. Das heißt also, 60 Prozent der Arbeiter- und Bauernkinder wurden bevorzugt, zum Studium zugelassen, und 40 Prozent sogenannte Intelligenzkinder. Und als ich die Aufnahmeprüfung gemacht habe, ist mir mitgeteilt worden, dass die 40 Prozent schon längst erfüllt seien. Und da ich damals so ein bisschen gemodelt habe, um mein Taschengeld aufzubessern, hat mir -
Burchardt: Das ist ja interessant!
Bergmann-Pohl: - hat mir der prüfende Professor der Charité mitgeteilt, ich könnte doch eine Karriere als Model machen! Und das hat mich so erbost und ich wollte dann schon gar nicht mehr Medizin studieren, weil ich gedacht habe, mit solchen Idioten willst du eigentlich nichts mehr zu tun haben. Aber mein Vater, sehr zielstrebig, ist dann zu Professor Prokop, dem damaligen Leiter der Gerichtsmedizin gegangen und hat gesagt, meine Tochter braucht einen Praktikumsplatz. Und ich bin dann im zarten Alter, muss ich sagen, von 18 Jahren in die Gerichtsmedizin gekommen und mit all diesen Schrecklichkeiten, die dort auch sind, konfrontiert worden.
Aber Professor Prokop war ein großer Förderer meiner Person und ich habe also nach einem Jahr die Aufnahmeprüfung wiederholt, dann wurde ich zum Studium zugelassen, aber mit der Auflage, ich sollte noch ein Jahr als Hilfsschwester in der Charité arbeiten. Und das hat aber Prokop nun wiederum verhindert und hat mich also in der Gerichtsmedizin behalten und das war für mich eine ganz, ganz tolle Zeit. Er wollte auch immer, dass ich Gerichtsmedizinerin werde, aber das war nun wirklich nicht mein Ziel. Also, wie gesagt, eigentlich sind mir immer ganz viele Wege auch geebnet worden.
"Im Bundestag sprachen mich die Herren der Schöpfung an und waren ganz begeistert von den tollen Bildern"
Burchardt: Ich würde ganz gern noch mal auf Ihre Model-Karriere zurückkommen. Wie muss man sich das in der DDR damals vorstellen? War das etwa nach derselben Art und Weise, wie so was in Paris heutzutage geschieht? Ich vermute mal, das waren irgendwelche Kataloge -
Bergmann-Pohl: Ja, richtig.
Burchardt: - in denen Sie erschienen sind? Wie war es damals?
Bergmann-Pohl: Ja, mich hat ein Fotograf angesprochen, ob ich nicht Interesse hätte, Modeaufnahmen und solche Sachen zu machen. Und da habe ich zugesagt und da hat man richtig viel Geld gekriegt für DDR-Verhältnisse. Also, so ein Tag, wenn ich da gemodelt habe, 100 Ostmark, das war ganz viel Geld. Und ja, dann war ich also im Magazin und in der "Für Dich" abgebildet und, ja, das hat mir Spaß gemacht. Und irgendwann hat die "Morgenpost" mal diese alten Bilder ausgegraben und hat das noch mal wieder aufgelegt und im Bundestag sprachen mich die Herren der Schöpfung an und waren ganz begeistert von den tollen Bildern, die da von damals noch existierten.
Burchardt: Die hatten noch Bilder davon, ja!
Bergmann-Pohl: Ja!
Man hat sich eingerichtet, man hat sich zwar nicht alles gefallen lassen, aber man musste Kompromisse eingehen.
Leben in der Nische
Burchardt: Sie sind dann ja im Grunde genommen während Ihrer Zeit auch eine Beobachterin der Zeitgeschichte damals schon gewesen. Wie kam es eigentlich bei Ihnen an als Thüringerin, dass Willy Brandt in Erfurt, ich glaube es war so 1970 etwa, dort am Fenster gestanden hat und, ja, alle Menschen "Willy, Willy" riefen, und die meinten nicht Willi Stoph?
Bergmann-Pohl: Das ist richtig. Dieser Besuch macht doch deutlich, was die Menschen auch in der DDR dachten. Und für uns ist damals Willy Brandt ein sehr, sehr großer Hoffnungsträger gewesen und man hat sich ja in der DDR gewünscht, gerade als Jugendlicher, einfach ein bisschen freier zu sein, mehr Offenheit wagen zu können, dass man nicht jedes Wort, was man öffentlich gesagt hat, auf die Goldwaage legen musste. Also, das heißt, dieses Eingeengt-Sein, diese auch mentale und intellektuelle Unterdrückung, die dort permanent stattfand, das ist das, was uns so gestört hat. Und ich meine, ich war vielleicht damals noch nicht so politisch und mir wäre es einfach egal gewesen, wie dieses Mehr an Freiheit und Demokratie in unser Land kommt.
Im Nachhinein bin ich natürlich skeptisch, dass die SPD damals auch noch eine Zwei-Staaten-Theorie mitverfolgt hat, weil es die Wiedervereinigung Deutschlands verhindert hätte. Und deswegen finde ich es so, wie es gelaufen ist, eigentlich besser.
"Ich habe nie daran geglaubt, die Wiedervereinigung erleben zu können"
Burchardt: Da Sie die SPD gerade erwähnen: Es gab ja bis in die 80er-Jahre hinein, zweite Hälfte der 80er-Jahre, das sogenannte Streitpapier SED/SPD. Gehört das auch in, ja, diese Betrachtungsweise, die Sie gerade geschildert haben?
Bergmann-Pohl: Ja, richtig. Also, ich war damals auch schon immer skeptisch, weil ich Sorge hatte, dass, sage ich mal, dieser Kalte Krieg damit zementiert wird, also dass diese zwei Blöcke zementiert werden. Dass sich also wenig verändern würde. Und ich habe natürlich nie daran geglaubt, die Wiedervereinigung erleben zu können, das ist völlig klar.
Auch unsere Anfänge, die Demonstrationen auf der Straße, dient ja nicht der schnellen Wiedervereinigung. Das war damals überhaupt nicht das Thema. Sondern das Thema war mehr Freiheiten, Demokratie in der DDR zu bekommen. Aber wenn man das alles in eine Betrachtung bringt, dann weiß man doch, dass es wirtschaftlich einfach nicht funktioniert hätte.
"Die Demonstrationen sind teilweise sehr brutal von der Staatssicherheit unterdrückt worden"
Burchardt: Da Sie gerade von Straße sprechen: 1953, da waren Sie noch sehr jung, aber 1956 und dann vor allen Dingen 1868 haben die Sowjets ja massiv eingegriffen gegen Freiheitsbewegungen, sowohl in Ostberlin als auch in Budapest als auch dann in Prag. Waren das auch so die ersten Zeichen dafür, dass man sagen konnte, wir müssen uns nicht mehr alles bieten lassen, vielleicht gibt es doch irgendwo eine Möglichkeit, mehr Demokratie zu wagen?
Bergmann-Pohl: Das war eine schwere Zäsur sicherlich in den Freiheitsbemühungen der Ostblockländer und man war sicherlich dann auch ein bisschen mehr hoffnungslos, dass sich irgendwas ändern würde. Ich weiß nicht, ob wir es geschafft hätten ohne die Entwicklung, die in der Sowjetunion dann …
Burchardt: Gorbatschow.
Bergmann-Pohl: … Gorbatschow, entstanden ist, das hat den Menschen in der DDR wieder mehr Mut gegeben, auch wirklich selber sich zu artikulieren und bestimmte Forderungen aufzustellen. Denn die Staatsführung der DDR war ja völlig anders, die haben sich ja auch abgesetzt von der Glasnost-Perestroika-Bewegung in der Sowjetunion. Und es war einfach dieser Starrsinn dieser alten Herren, aber ohne Moskau konnten sie natürlich auch nichts bewegen. Und das war glaube ich ein glücklicher Umstand und obwohl man nie wusste, wie es ausgeht, denn diese Demonstrationen sind ja teilweise sehr blutig und brutal von der Staatssicherheit unterdrückt worden, aber trotzdem, man hatte die Hoffnung, jetzt passiert was. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und ich sage mal, wir haben wirklich ganz, ganz viel Glück dabei gehabt. Es gab ganz viele glückliche Umstände dabei.
"Dieser Mauerbau war ein schwerer Schnitt durch unsere Familie"
Burchardt: Es ist so ganz schön, Ihnen zuzuhören, weil Sie eigentlich schon auf diese Momente der Befreiung abheben, ich würde aber ganz gern noch ganz kurz auch für Sie persönlich zurückkommen auf den Mauerbau. Was hat das eigentlich für Sie bedeutet? Sie konnten zuvor ja durchaus Ihre Schwester in Münster hin und wieder besuchen, haben auch durchaus Auslandsreisen antreten können, und dann plötzlich war Schluss. Und in dem Zusammenhang ist mir sehr aufgefallen, dass bei Ihnen der Begriff Nischenleben in der DDR gekommen ist. Hat man sich dort eingerichtet und mit allem abgefunden, 1961?
Bergmann-Pohl: Also, dieser Mauerbau war ein schwerer Schnitt durch unsere Familie. Meine Schwester, meine Großeltern lebten ja in Westberlin, die haben wir jedes Wochenende besucht. Ich habe meine Großeltern dann nur noch zwei- oder dreimal gesehen und selbst als meine Großeltern gestorben sind, durfte nicht mal mein Vater zur Beerdigung. Also, das war schon sehr, sehr hart. Und wie gesagt, auch der Kontaktabbruch zu meiner Schwester hat mich sehr getroffen. Aber man hatte ja keine Chance. Ja, klar, wir hätten flüchten können und sicherlich, von meinem Vater hätte das ausgehen müssen. Aber mein Vater hatte eine sehr gut etablierte Stelle im größten Ostberliner Krankenhaus, und obwohl mein Großvater immer meinen Vater aufgefordert hat, komm hierüber, hat mein Vater gesagt: Nee, mir geht es doch gut! Und ich sage mal, diese politische Naivität, also, er hat wohl nie gedacht, dass man durch Berlin mal eine Mauer ziehen würde. Die hat dazu geführt, dass wir also dann letztendlich in der DDR geblieben sind. Ja, und dann habe ich versucht, mich einzurichten.
Das heißt also, ich habe studiert dann mit diesem Praktikum in der Gerichtsmedizin, habe dann auch Gott sei Dank in Berlin eine Stelle bekommen für Facharztausbildung, das war ja auch nicht normal, denn es wurde ja staatlich gesteuert, wo man dann seine Facharztausbildung machen konnte. Ich wollte aber gerne in Berlin bleiben und habe dann eine Facharztausbildung als Lungenfachärztin begonnen und habe meine Promotion begonnen, habe dann das erste Kind bekommen und dann war eigentlich für mich auch jeglicher Fluchtgedanke passé, denn ich fühlte mich auch verantwortlich natürlich für meine Familie. Und ich wäre nie ohne meine Kinder geflohen.
Ja, und dann wurde ich ja sehr, sehr schnell auch Leiterin einer Polyklinik, das heißt also, man hat sich eingerichtet, man hat sich zwar nicht alles gefallen lassen, aber man musste Kompromisse eingehen. Also, zum Beispiel, als ich dann 1980 eine Polyklinik als Leiterin übernehmen durfte – ich war 34, also sehr, sehr jung –, habe ich mitbekommen, dass die SED mich haben wollte, weil jung, Frau, leitende Position, war natürlich für die SED interessant. Und das war für mich so ein Schock, weil, es war für mich keine Option, in die SED zu gehen. Ja, und dann bin ich in die CDU eingetreten.
Burchardt: Das war 1981.
Bergmann-Pohl: Das war 81, bin in die CDU eingetreten praktisch als Ausweg, nicht in die SED zu müssen, aber auch den Druck von mir zu nehmen, weil, die hätten ja nicht locker gelassen.
Ich sage mal so, ich bin überwacht worden, aber irgendwie, sage ich mal, konnten sie mich nicht richtig greifen.
Unter Beobachtung
Burchardt: Wie finden Sie denn heute, betrachtet – damals ging ja sofort das Wort um, das ist eine Blockflötenpartei –, dass Sie sozusagen da zugehörig zu einer Truppe sind, die gerade diese latente Abhängigkeit nicht verleugnen konnte?
Bergmann-Pohl: Ich gebe dem recht, es war eine Blockpartei, also die Steigbügelhalterfunktion für die SED, das ist völlig klar, Und das ist mir auch damals klar gewesen. Aber wie gesagt, man hat mich in Ruhe gelassen. Und ich habe mich nachher dann ab 85 ungefähr, als ich nachher ärztliche Direktorin der Bezirksstelle für Lungenkrankheiten und Tuberkulose war, dann auch etwas stärker engagiert. Da gab es so ein [unverständlich] Gesundheits- und Sozialwesen, weil es ja unglaublich viele Defizite auch in der Gesundheitspolitik der DDR gab. Das konnte ich über diese Schiene machen, man konnte über diese Schiene auch Einfluss nehmen und das habe ich getan.
Und ich sage mal so, das hat mir eigentlich auch Spaß gemacht, also hier etwas zu bewegen. Wir haben zum Beispiel in der DDR ein großes Drogenproblem gehabt, also Alkohol und Tabletten und solche Dinge. Und ich habe dann mit kirchlichen Menschen Kontakt aufgenommen, wir haben gemeinsame Initiativen gestartet. Und wie gut das war, habe ich nach der Wiedervereinigung erfahren, weil ein Leiter einer Drogenstelle bei Hannover mich angeschrieben hatte, der war Pfarrer in der DDR vorher, und hat mich eingeladen dorthin und hat mich noch mal gelobt, dass ich so mutig war eben, das alles auch zu initiieren. Und ich habe immer mit dem Bezirksarzt ganz offen auch über die Defizite des Gesundheitswesens diskutieren können und, ja -.
"Es saß immer jemand von der Stasi dabei"
Burchardt: Gab es da keine Sanktionen?
Bergmann-Pohl: Wir hatten zum Schluss einen recht fortschriftlichen Bezirksarzt, Herrn Professor Dellas, der ja Miterbauer des Charité-Hochhauses war, der sogar in den Dienstberatungen also offen angesprochen hat, dass wir in der DDR und auch in Berlin zu wenig Dialyseplätze haben. Es saß aber immer jemand von der Stasi dabei, aber den kannte er natürlich auch. Er war natürlich auch SED-Mitglied, aber ich sage mal, es gab schon auch SED-Mitglieder in Funktionen, die sehr offen Missstände der DDR anprangerten. Und das war das Erfrischende, darum konnte man ihm auch ganz gut diskutieren.
Burchardt: 1985 haben Sie gerade erwähnt, das war die Zeit, als – wir haben schon darüber gesprochen – Glasnost und Perestroika aufkam. War das für Sie persönlich auch so ein erstes Wendesignal, das sich dann 1989 auch tatsächlich manifestiert hat, oder hat man gesagt, na ja, die schreiten voran, aber wir leider nicht hinterher?
Bergmann-Pohl: Ja, das Letztere ist schon der Fall gewesen. Also, es hat sich ja bei uns sehr wenig verändert, allerdings hat man versucht, durch Verbesserungen des Gehaltsgefüges die Menschen ruhigzuhalten, man hat, sage ich mal, versucht, in der Versorgung der Bevölkerung Verbesserungen herbeizuführen.
Aber letztendlich merkte man doch, dass die DDR, wenn Sie so wollen, insolvent war. Also, es fehlte dann an vielem und die Menschen waren eigentlich sehr unzufrieden. Auch die Opposition witterte natürlich jetzt die Möglichkeit, jetzt können wir endlich was tun. Also, die Sowjetunion will was tun, warum sollen wir jetzt nichts verändern? Und diese politischen Diskussionen, die fanden ja nicht nur in diesen Kreisen statt, sondern sie fanden natürlich auch zum Beispiel bei mir in meinem sogenannten Kollektiv, hieß das ja in der DDR, wurde viel offener über politische Entwicklungen diskutiert. Das brachte mir allerdings dann Probleme ein, weil eine Gewerkschaftsfunktionärin mich dann angeschwärzt hatte und ich einen Brief bekam. Also, solche Sanktionen fanden dann statt.
"Gefälscht wurde ja vorher schon ohne Ende"
Burchardt: Ja, Sie sind ja auch angeschwärzt worden wegen Ihrer vielfältigen Besuche bei Ihrer Schwester. Es gab dann eine Stasi-Akte, eine Stasi-Opferakte, muss man dazu sagen. Haben Sie die eigentlich mal gesehen?
Bergmann-Pohl: Ich habe sie mal eingesehen, aber wissen Sie - also, das war teilweise so wenig politisch, also, da wurde nun alles untersucht, mit wem ich zusammenlebe, ich war ja dann geschieden von meinem Mann, man hat aber nie rausgekriegt, wer mein eigentlicher Lebenskamerad war damals, man hat geguckt, wer bei mir ein- und ausgeht, ich habe für jemanden an der Grenze, also einen Cousin, ein Journalist von der "Morgenpost", der Bücher aus der DDR mit nach Westberlin nehmen wollte, die wurden ihm abgenommen an der Grenze, ich bin dann zur Grenze gefahren und habe die Bücher eingesammelt. Das stand alles in der Akte.
Also, ich sage mal so, ich bin überwacht worden, aber irgendwie, sage ich mal, konnten sie mich nicht richtig greifen. Allerdings fand ich einen ganz negativen Bericht über mich, der damals offensichtlich auch eine Rolle gespielt hat, als ich Direktorin der Bezirksstelle werden sollte. Man konnte ja demaskieren lassen, das war unter einem IM-Namen geschrieben, und das habe ich gemacht und das war eine ärztliche Leiterin einer anderen Polyklinik, die mich dort angeschwärzt hat, ich wäre also illoyal dem Staat gegenüber und wäre keine gute Leiterin meines sozialistischen Kollektivs und so weiter und so fort.
Burchardt: War das das Klima, bei dem dann auch diese Wahlfälschung der Kommunalwahlen im Sommer 1989 möglich war?
Bergmann-Pohl: Ja, gefälscht wurde ja vorher schon ohne Ende, am Schluss hat es keinen interessiert.
Burchardt: Aber da kam es raus.
Bergmann-Pohl: Aber da kam es raus, da hat man den Mut gehabt, eben dort letztendlich sich dazuzusetzen und bei den Auszählungen dabei zu sein und die zu überwachen. Ich wollte ja gar nicht auch - ich bin zur Kommunalwahl gar nicht gegangen. Und um 17 Uhr stand dann jemand vor meiner Tür und hat gefragt, ob ich nicht zur Wahl gehen will. Und es sind ja auch zu dieser Wahl ganz viele in die Kabinen gegangen.
Zu den Wahlen davor, ich kann mich gar nicht entsinnen, da stand teilweise gar keine Kabine. Sie haben diesen Zettel gekriegt der Nationalen Front, der wurde zusammengeklappt und wurde in die Urne … Also, es fanden ja nie richtige Wahlen statt. Und diese ganze Entwicklung, die politische Entwicklung, mehr Mut zu haben, mehr sich aufzulehnen gegen dieses System, hat ja dann auch letztendlich eben diese Wahlfälschung erstmalig dokumentiert und das hat die Leute dann natürlich auch noch sehr viel mehr beeinflusst, und gesagt, das lassen wir uns nicht mehr gefallen.
Der Ku’damm war ein einziges Volksfest, das war irre!
Die letzten Tage der DDR
Burchardt: Das war tatsächlich dann der Impuls für die 89er-Bewegung, die auf die Straße ging, insbesondere …
Bergmann-Pohl: Richtig.
Burchardt: … die Montagsdemonstrationen in Leipzig.
Bergmann-Pohl: Ja.
"Wir saßen mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher"
Burchardt: Und dann durch Herrn Schabowskis etwas , sagen wir mal, schräge Formulierung ist dann das Volk über die Mauer gegangen, und dann…
Bergmann-Pohl: Ja.
Burchardt: … vorbei an verdutzten Grenzbeamten in den Westen geflohen. Sie selber haben das Ganze verschlafen. Wie konnte das passieren?
Bergmann-Pohl: Ja, ich bin erst relativ spät nach Hause gekommen, habe diese Sendung, also das Interview mit dem Schabowski auch gesehen und habe zu meinem Mann gesagt: Prima, wir fahren Weihnachten zu meiner Schwester und feiern dort Weihnachten! So. Und ich bin dann ins Bett gegangen und mein Mann hat noch vorm Fernseher gesessen, gab es auch Fußball an dem Abend, deswegen blieb der vorm Fernseher sitzen, und ich bin dann halb elf oder elf aufgewacht und habe gedacht, oh Gott, was ist da los, da ist ja so ein Tohuwabohu. Aber ich war so im ersten Schlaf, ich habe meinen Mann geweckt und habe gesagt, komm ins Bett, und wir sind ins Bett gegangen.
Am nächsten Morgen hat mein zwölfjähriger Sohn zu mir gesagt: Oma hat heute Nacht angerufen. Ich sage: Ist ihr was passiert? – Nein, die hat gesagt, die Grenze ist auf. Und da habe ich gesagt: Oma spinnt. So, und dann habe ich aber doch gehört im Radio, dass irgendwas los ist, und habe also Fernsehen angemacht. Ja, und da haben wir das gesehen, und also, mein Mann und ich, wir saßen mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher. Also, wir wären wahrscheinlich in der Nacht sowieso nicht losgelaufen wegen der Kinder, die hätten wir wecken müssen, mitnehmen müssen. Wir sind dann am Sonnabend ganz geordnet über die Bornholmer Brücke mit den Kindern in den Westen gegangen, das war eine riesige Demonstration Richtung Westen. Ja, das war, das Gefühl kann man kaum beschreiben, es war unglaublich.
Burchardt: Ja. Und es gab damals auch die 100 Mark West Begrüßungsgeld.
Bergmann-Pohl: Richtig.
"Das ist so ein Gefühl, ich glaube, das kommt nie wieder"
Burchardt: Das fanden Sie nicht so toll?
Bergmann-Pohl: Ach, was heißt, das fand ich nicht so toll. Für meine Kinder war das toll, mein Sohn hat sich gleich ein Paar Turnschuhe gekauft, ich habe das Geld natürlich zu Hause hingelegt, weil man nicht wusste, wofür man das noch brauchen kann. Aber das war ja nicht der Grund, dass wir in den Westen gegangen sind, dass wir jetzt die 100 DM kriegen, sondern einfach die Freunde, die Verwandtschaft zu sehen, auf dem Ku’damm zu wandeln. Der Ku’damm war ein einziges Volksfest, das war irre.
Das ist so ein Gefühl, ich glaube, das kommt nie wieder. Und völlig wildfremde Menschen haben uns angesprochen, haben uns eingeladen, und ich weiß noch, wir sind dann in so eine Künstlerkneipe gegangen mit meinem Cousin, also dem Journalisten, und wir waren ganz erschüttert, dass dort ein Bier 4,50 DM kostete, in der DDR kostete das, glaube ich, so 60 Pfennige oder so. Und mein Mann hat dann auch nur eins getrunken, er hat gesagt, das ist zu teuer, das kann ich mir nicht leisten.
"Ich wollte meinen Beruf nicht aufgeben"
Burchardt: Aber das war im Grunde genommen dann so der Anfang einer Ad-hoc-Karriere, die insbesondere sich dann manifestierte, als die erste Volkskammer war, die erste freie. Das war im März 1990 und da hat die CDU, Ihre Partei, einen fulminanten Wahlsieg erzielt, obwohl alle Welt gerechnet hatte, dass die SPD gewinnt.
Bergmann-Pohl: Ja. Also, ich war schon Stellvertreterin für den Gesundheitsbereich im zentralen runden Tisch. Aber wurde dann angesprochen, ob ich bereit wäre, für die Volkskammer zu kandidieren. Wollte nicht kandidieren, weil ich meinen Beruf nicht aufgeben wollte, dann wurden mehrere Gespräche mit mir geführt, und habe dann gesagt, okay, also, ich kandidiere, bekam dann auch den Listenplatz hinter de Maizière. Ja, und überraschenderweise hat mich während dieser Kandidatur die "taz" interviewt. Und dann hat die Journalistin gefragt: Wie denken Sie denn, wie die Wahl ausgeht? Und ich habe gesagt: Die Allianz für Deutschland wird die Wahl gewinnen. Und da fing die an zu lachen und hat gesagt: Also, das glauben Sie doch alleine nicht, die Umfragen sind alle SPD! Da habe ich gesagt: Ich erlebe an den Ständen was anderes.
Burchardt: Ja.
Bergmann-Pohl: Und genau das ist eingetroffen. Aber auch selbst de Maizière war sehr überrascht und wusste ja, was auf ihn zukommt, aber ich war da noch ganz unbedarft.
Burchardt: Ja, aber nicht mehr lange. Sie sind dann sozusagen in den politischen Fahrstuhl gegangen und waren plötzlich unversehens Präsidentin der Volkskammer, die ja damals noch existierte.
Bergmann-Pohl: Ja.
Burchardt: Und damit auch automatisch aus heutiger Sicht das letzte Staatsoberhaupt innerhalb der DDR.
Bergmann-Pohl: Ja.
Berlin: Volkskammerpräsidentin Dr. Sabine Bergmann-Pohl leitete am 02.10.1990, einen Tag vor der Vereinigung, die letzte Sitzung der DDR-Volkskammer.3.v.l.: Reinhard Höppner. (Ber460-050493) | Verwendung weltweit
Letzte Tagung der DDR-Volkskammer (Archivfoto 1990, Text 1993) (Zentralbild)
"Ja, die Laienspieltruppe waren wir"
Burchardt: War das damals eigentlich damit verbunden, gab es keine Wahl dazu?
Bergmann-Pohl: Nein, es war so, also, damals sind wir davon ausgegangen, dass die Übergangszeit mindestens drei, vier Jahre dauern würde. Und es war geplant, noch ein Staatsoberhaupt wählen zu lassen, und es wurde eine Verfassungsänderung - Also, das Amt des Staatsoberhauptes gab es ja nicht in der DDR und es wurde eine Verfassungsänderung durchgeführt, dass bis zur Wahl eines Staatsoberhauptes der Parlamentspräsident diese Funktion mitübernimmt. Das heißt, ich war Hausherrin sowohl der Volkskammer als auch des ehemaligen Staatsrates. Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, als ich das erfahren habe, dass das so geplant ist, das hat mir natürlich schlaflose Nächte bereitet.
Und weil ich ja völlig unvorbereitet in diese Funktion kam. Und ich muss sagen, ich habe dann Richard von Weizsäcker angerufen und ich habe gesagt: Ich brauche unbedingt einen kompetenten Menschen für den Staatsrat. Und der hat mir seinen damaligen Büroleiter geschickt und dadurch hatte ich eine Vertrauensperson dort im Staatsrat. Und ja, es ging ja dann auch um die Abwicklung nachher durch diese schnelle, rasante Entwicklung, die dann eintrat. Aber wissen Sie, ich muss eins sagen: Sowohl die Kernmannschaft der Volkskammer, die ja überwiegend aus alten Genossen bestand, …
Burchardt: Wurde als Laienspieltruppe denunziert …
Bergmann-Pohl: Ja, die Laienspieltruppe waren wir ja. Aber ich sage mal, die Beamten waren ja die alten SED-Genossen …
Burchardt: Ach, von denen sprechen wir,
Bergmann-Pohl: … in der Volkskammer, und vor allen Dingen im Staatsrat waren ja auch, sage ich mal, 500-prozentige Genossen. Das ist alles ruhig und ich würde fast sagen: komplikationslos verlaufen.
"Es ist alles im Großen und Ganzen recht reibungslos verlaufen"
Burchardt: War das eine überraschende Loyalität, die da sichtbar wurde?
Bergmann-Pohl: Ja, das war für mich sehr überraschend. Wir hatten natürlich auch Feinde, ist völlig klar. Aber es ist trotzdem alles im Großen und Ganzen recht reibungslos eben verlaufen. Natürlich gab es zum Beispiel ganz gezielte Pressegeschichten, die gegen mich aufgebaut wurden, die von der Stasi gesteuert waren, ich habe Morddrohungen gekriegt, klar, da ist ganz viel daneben passiert. Aber im Großen und Ganzen, muss ich sagen, bin ich heute wirklich glücklich darüber, dass es so friedlich dann letztlich abgelaufen ist. Man muss einfach wissen, dass diese Leute alle wussten: Sie verlieren ihre Jobs, und mit wenig Chancen auf Weiterbeschäftigung. Und das galt auch für den diplomatischen Korps und so weiter und so fort.
Burchardt: Ja. Ihr Pendant im Bundestag hieß damals Rita Süssmuth, mit der Sie dann auch auf Reisen gegangen sind. Besonders beeindruckt hat Sie offensichtlich die gemeinsame Reise nach Israel.
Bergmann-Pohl: Richtig.
"Jetzt mit der Flüchtlingskrise haben wir bewiesen, dass wir offen sind"
Burchardt: War das eigentlich unproblematisch für Ihre alten Genossen in der DDR?
Bergmann-Pohl: Nein, das war für die DDR überhaupt nicht unproblematisch, auch nicht für die engen diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten, die auch letztendlich dann über ihre akkreditierten Diplomaten bei mir waren und nicht wünschten, dass ich diese Israel-Reise antrete. Ich habe ihnen aber deutlich gemacht, dass ich also mir keine Vorschriften machen lasse, sondern das entscheide, wie ich das entscheide.
Und der Besuch wurde auch vorbereitet über das Büro von Frau Süssmuth. Wir sind zusammen nach Israel gereist und ich sage mal, insgesamt hat dieser Besuch ein ganz großes Presseecho gehabt sowohl in der deutschen Presse als auch in der israelischen Presse, und das Resümee war außerordentlich positiv. Denn es ging uns darum, zu werben für die deutsche Wiedervereinigung. Man hat da natürlich große Vorbehalte besonders in Israel gegen diese deutsche Wiedervereinigung gehabt.
Am beeindruckendsten war für mich der Besuch in Yad Vashem oder der Privatbesuch bei dem damaligen Knesset-Präsidenten Schilanski, der immer gesagt hat: Ich gebe nie wieder einem Deutschen die Hand und auch sich geweigert hat, Frau Süssmuth und mich in der Knesset zu empfangen, war aber dann bereit zu einem persönlichen Gespräch in seiner Wohnung. Und das zehnminütige Gespräch dauerte dann über eine Stunde und er erzählte uns dann aus seinem Leben, was uns wirklich sehr erschüttert hat, denn seine gesamte Familie ist im Holocaust umgekommen, er war der einzige Überlebende. Und man merkte, dass im Laufe dieses Erzählens die Atmosphäre sich bei ihm in der Wohnung auch entspannte. Am Anfang bekamen wir kein Getränk, nichts, dann stellte die Frau Getränke hin, Obst, und es war ein wirklich sehr, sehr beeindruckendes Gespräch, und vor allen Dingen: Er gab uns zum Schluss beim Rausgehen die Hand. Und das hat mich so bewegt insofern, dass ich merke, dass Leute, die so ein schweres Schicksal haben, letztendlich sich dann doch eben auch überwinden können und einem die Hand reichen und sagen: Ich vertraue euch, dass ihr es in Zukunft besser macht. Und dieses Versprechen haben wir ja damals in Israel ja auch abgegeben beide, weil wir gesagt haben, wir werden ein Deutschland errichten, in dem solche Entwicklungen nicht mehr möglich sein werden. Und ich denke, gerade jetzt auch mit der Flüchtlingskrise haben wir eben auch das bewiesen, dass wir offen sind, dass wir demokratisch sind, dass wir Hilfe geben und nicht Krieg säen.
Es gab überhaupt gegen uns Vorbehalte, denn wir waren ja nun mal sozialisierte Ossis, sage ich mal in Anführungsstrichen
Ankommen in der Bundesrepublik
Burchardt: Zum Thema Bewegung in der Deutschland-Politik, die entstand im Juli, als es zu einer Währungsunion gekommen ist in Deutschland. Und am 2. Dezember gab es die ersten gesamtdeutschen Wahlen, am 3. Oktober hatte man sich dann irgendwie dazu bereiterklärt, diesen Tag der Deutschen Einheit zu begehen oder zu erfinden, wenn man so sagen darf. War das eigentlich unproblematisch? Welche Funktion hatten Sie da als, ja, Staatsoberhaupt der DDR?
Bergmann-Pohl: Also, ich sage mal so, der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober, ist nicht erfunden worden, sondern den hat die Volkskammer beschlossen. Denn die Volkskammer hat ja den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober in der Nacht vom 21. zum 22. August in der Volkskammer beschlossen.
Burchardt: Das war auch eine schwere Geburt, weil das nach Artikel 23 ging, den sozusagen …
Bergmann-Pohl: Richtig, nach Artikel 23. Und ich sage mal, es gab ja viele Termine, die immer wieder in der Öffentlichkeit kursierten. Die Volkskammer hat das gemacht und darauf lege ich auch ganz großen Wert. Wenn die Volkskammer diesen Beitritt nach Artikel 23 nicht beschlossen hätte, ich weiß nicht, ob wir die Wiedervereinigung damals dann bekommen hätten. Und darum ist mir der Ort dort, wo jetzt das Schloss aufgebaut wird, denn dort fand dieser Beschluss statt, ist er mir auch so sehr wichtig.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (3.v.r.) posiert am 30.10.1990 mit den neuen Bundestagsabgeordneten auf der Terrasse der Villa Hammerschmidt in Bonn für die Fotografen. In der vorderen Reihe stehen Lothar de Maiziere, Richard Stücklen, Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, von Weizsäcker, und Sabine Bergmann-Pohl. Von Weizsäcker hatte die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlamentes zu einem Empfang in die Villa Hammerschmidt eingeladen. Foto: Martin Gerten +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (3.v.r) empfängt am 30.10.1990 die neuen Bundestagsabgeordneten. Sabine Bergmann-Pohl steht rechts in der ersten Reihe. (dpa)
"Ich habe sogar einmal gewagt Helmut Kohl zu widersprechen"
Burchardt: Palast der Republik.
Bergmann-Pohl: Ehemaliger Palast der Republik. Ich wollte ja auch nicht, dass der abgerissen wird. Gut, aber das ist eine andere Geschichte. Das war ja nicht die einzige Schwierigkeit. Also, wir haben ja dann 160 Abgeordnete der Volkskammer delegiert in den Deutschen Bundestag, aber es gab ja dann noch Probleme auch mit dem Europäischen Parlament, also, auch die Delegation der Abgeordneten ins Europäische Parlament verlief ja nicht reibungslos. Also, da gab es ja auch viele Vorbehalte. Es gab überhaupt gegen uns Vorbehalte, denn wir waren ja nun mal sozialisierte Ossis, sage ich mal in Anführungsstrichen.
Ja, und dann fanden die ersten gesamtdeutschen Wahlen statt und dann wurde … Ich meine, das war mehr ein Akt gegenüber, ja, uns Ostdeutschen, dass fünf aus je einer Partei – also, nicht aus der PDS, aber von den anderen Parteien –, ein herausragender Minister für besondere Aufgaben ernannt wurde von den …
Burchardt: Sie hatten so was wie eine Katzentischfunktion da, Kabinettstisch …
Bergmann-Pohl: Ja, eine Katzentischfunktion, ja. Ich habe sogar einmal gewagt in der Kabinettssitzung, Helmut Kohl zu widersprechen, weil ich der Meinung war, dass die Privatisierung der Betriebe über die Treuhand nicht so laufen würde, wie ich mir das vorstelle, und ich auch viel Negatives gehört habe, aber da wurde ich schnell eines Besseren belehrt und somit war ich relativ ruhig.
"Ich glaube, wir haben unseren Job gut gemacht"
Burchardt: Wenn Sie gestatten, aus heutiger Sicht gesehen: Sie waren Staatsoberhaupt eines bis dato bestehenden States und wurden dann abgefunden, sage ich mal ganz bewusst, mit einer Ministerposition für besondere Aufgaben, und wenig später waren Sie dann parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Sicherlich sehr berufsnah für Sie, aber war das nicht irgendwie auch ein Affront aus dem Westen gegen alles, was aus dem Osten kam?
Bergmann-Pohl: Also, es ist im politischen Leben so, dass man sich hart hochkämpfen muss. Und das haben wir nicht gebraucht, letztendlich alle waren wir sogenannte Laienspieler, wie Sie schon vorher gesagt haben, wie der Westen das teilweise genannt hat, und kamen so letztendlich von heute auf morgen in diese Funktion.
Wobei ich letztendlich sagen muss: Wir haben das als Laienspieler gar nicht schlecht gemacht. Wir haben die Wiedervereinigung in relativ kurzer Zeit herbeigeführt und man kann noch so viel recherchieren, aber ich glaube, wir haben unseren Job gut gemacht. Aber wir waren ja plötzlich Konkurrenten und insofern … Ich weiß nicht, ob man mir nicht viel zugetraut hat oder was der Grund auch immer gewesen ist, also, letztendlich war ich eigentlich zufrieden mit meinem Job als parlamentarische Staatssekretärin, weil ich ein bisschen wieder in meine berufliche Laufbahn gekommen bin, Gesundheitspolitik ist das gewesen, was ich auch gerne gemacht hätte. Also, ich wäre nicht gerne Frauenministerin geworden, sage ich mal so.
"Wenn Sie politisch etwas bewegen wollen, dann treten Sie immer irgendwelchen Berufsgruppen auf die Füße"
Burchardt: Aber hätten Sie nicht auch ein wenig auf die Barrikaden gehen müssen seinerzeit, bezogen auf die Seehofer … der ja damals … Seehofer war damals Ihr Chef als Minister für Gesundheit, die sogenannte Strukturreform auf den Weg gebracht hat, die ja die westdeutschen Ärzte zumindest, und ich vermute mal auch viele im Osten, dann doch zu Protestbewegungen verleitet haben, weil sie sagen, das geht jetzt alles auf unsere Kosten. Hätten Sie als Ärztin von Haus aus da nicht auch sagen können, dafür habe ich Verständnis?
Bergmann-Pohl: Verständnis habe ich sehr wohl dafür gehabt, aber wissen Sie, wenn Sie politisch etwas bewegen wollen, dann treten Sie immer irgendwelchen Berufsgruppen auf die Füße. Und allen recht getan ist sicherlich eine Kunst, die keiner kann, schon gar nicht in der Politik. Es ist ja damals das Ziel gewesen, den Kosten, die im Gesundheitswesen davonlaufen, Einhalt zu gebieten und die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung stabil zu halten. Das hat auch vor allen Dingen wirtschaftliche Gründe, das hat auch was zu tun mit Arbeitsplätzen. Und das ist das gewesen, was man als Politiker, egal aus welcher Berufsrichtung man kommt, im Blick haben muss. Und da muss man sich freimachen von den Lobbyisten.
Wir sind ja nicht nur den Ärzten auf die Füße getreten, wir sind der Pharmaindustrie auf die Füße getreten, den Apothekern, also alles, was da so im Gesundheitswesen verdient. Und am Gesundheitswesen wird sehr viel verdient. Und das ist für mich nicht einfach gewesen. Ich habe viele böse Anrufe bekommen, bis hin zu meinem Bruder, der ja auch Arzt ist, und vielen Freunden. Aber das muss man aushalten in der Politik, das ist der Job. Und ich habe auch immer versucht, ihnen das zu erklären, ob sie das akzeptiert haben, weiß ich nicht, ich glaube nicht, aber es ist egal.
"Darauf bin ich so ein bisschen stolz"
Burchardt: Sie waren bis 1998 dann tätig, dann wurden Sie oder wurde die damalige Regierung Kohl abgewählt. Sie sind dann noch in Ihrem Bereich geblieben, wenn ich so sagen darf, Sie haben dann das DRK in Berlin saniert.
Bergmann-Pohl: Ja.
Burchardt: Wie war das möglich?
Bergmann-Pohl: Ja, ich habe also, ich bin 2002 freiwillig, muss ich sagen, aus dem Bundestag ausgeschieden und suchte natürlich auch nach einer neuen Aufgabe. Und dann sprach mich der ehemalige regierende Bürgermeister Schütz an, der vorher Präsident vom Roten Kreuz in Berlin war, ob ich nicht bereit wäre, Präsidentin dort zu werden. Der Landesverband war insolvent, sollte abgewickelt werden. Und entgegen aller Warnungen habe ich gesagt, okay, das wäre noch mal eine Aufgabe. Und das hat mich unglaublich gereizt, und mit einer kleinen Mannschaft von vier Leuten. Also ja, drei Leuten eigentlich, die mir zur Seite standen, zwei Vizepräsidenten und einem Geschäftsführer, haben wir es geschafft, innerhalb von zehn Jahren den Landesverband wieder auf gesunde Beine zu stellen. Und ich konnte den Landesverband nach, ja, elf Jahren mit einer Eigenkapitalquote von über 70 Prozent wieder an meine Nachfolger übergeben, und ich muss sagen, darauf bin ich so ein bisschen stolz. Denn es war eine ehrenamtliche Aufgabe, für die ich aber volle Haftung übernommen habe, aber es hat mir unheimlich Spaß gemacht, weil man was geschafft hat wieder.
Burchardt: Und man ist auch dankbar gewesen, hat Sie zur Ehrenpräsidentin ernannt.
Bergmann-Pohl: Richtig, man hat mich zur Ehrenpräsidentin und sogar zum Ehrenmitglied im bundesweiten Verband.
Burchardt: Frau Bergmann-Pohl, herzlichen Dank für das Gespräch …
Bergmann-Pohl: Bitte schön!
Burchardt: … und weiterhin alles Gute.
Bergmann-Pohl: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.