Mittwoch, 24. April 2024

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Sabine Liebner spielt Stockhausen
Experimente auf 88 Tasten

Karlheinz Stockhausen gilt als experimentierfreudiger Pionier der deutschen Musikavantgarde. In den 1950er Jahren schrieb er seine berühmten "Klavierstücke I-XI", die auf mathematisch-logischen Prinzipien basieren. Sabine Liebner hat sie jetzt auf CD eingespielt: eine exemplarische Aufnahme.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 19.08.2018
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    Spezialisiert auf Avantgardemusik: Sabine Liebner (Siggi Müller)
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück IX" (Ausschnitt, Version 1)
    "Wer heute Klaviermusik komponiert, also die Möglichkeiten eines Instruments, eines Spielers mit seinen zehn Fingern und zwei Füßen erforscht und erweitert, der wählt bewusst die Tugenden der Disziplin, Konzentration, Einfachheit, Subtilität", notiert Karlheinz Stockhausen 1969. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits zahlreiche Stücke für Klavier solo geschrieben. Zwischen 1951 und 1962 entstanden seine "Klavierstücke I-XI".
    Nicht viele Pianisten haben sich bislang einer Gesamtaufnahme dieses Zyklus gestellt; Sabine Liebner hat ihn kürzlich für das Label WERGO aufgenommen.
    Anregungen aus der Mathematik
    Karlheinz Stockhausen, Jahrgang 1928, galt bis zu seinem Tod 2007 als wichtiger Wegbereiter neuer Musik, sein Name war nicht nur Spezialisten vertraut. Neben Pierre Boulez war er entscheidend an der Entwicklung der Seriellen Musik beteiligt.
    Obwohl die Entwicklung der elektronischen Musik einen maßgeblichen Anteil in seinem kompositorischem Schaffen einnimmt, bilden Stockhausens Klavierstücke eine relativ umfangreiche Werkgruppe. 1952 fasste der einstige Student der Schulmusik mit Hauptfach Klavier den Plan, 21 Kompositionen für Klavier solo zu schreiben. Diese Kompositionen, die teilweise auch von elektronischen Tasteninstrumenten gespielt werden können, tragen den Titel "Klavierstück" und sind fortlaufend mit einer römischen Ziffer bezeichnet. Zugleich berühren diese Stücke viele kompositionstechnische Themen und Dimensionen, die Stockhausen zeitlebens beschäftigten.
    In dem Kontext fallen Begrifflichkeiten wie punktuelle Musik, Musik im Raum, Aleatorik, Stille, Geräusch, statisches Komponieren oder musikalische Prozesse. Zu diesen Ansätzen suchte Stockhausen nach exemplarischen, unverwechselbaren Lösungen. Anregungen dazu fand er in Schönbergs Zwölftonlehre, Weberns konsequenter Form der Werkstrukturierung und Messiaens Aufbau von Material. Musikalische Elemente und ihre Beziehungen zueinander hat er durchleuchtet, um mit Hilfe von Zahlenproportionen und tabellarischen Anordnungen eigene kompositorische Zusammenhänge zu finden. Stockhausen hat sich auf den direkten Umgang mit dem Klavier ohne Präparierung beschränkt und über unterschiedlichste und erweiterte Spielarten sowie dynamische Abstufungen nach neuen Klangmöglichkeiten gesucht.
    In extremen Lagen
    Seine ersten "Klavierstücke I-IV", die auch als "Werk Nr. 2" zusammengefasst sind, entstanden noch vor seinen ersten Erfahrungen mit elektronischer Musik. Stockhausen bezeichnete diese als "Zeichnungen" im Gegensatz zu den späteren elektronischen klangfarbereichen Werken, den sogenannten "Gemälden". Die Töne sind oft einzeln, weitgehend für sich angeordnet und in ihren Tonlagen deutlich voneinander abgehoben, was ein Spiel in extremen Lagen verlangt.
    Kurze, zu Gruppen zusammengefasste Einheiten bestimmen den Aufbau im "Klavierstück I". Es gibt keine Anschlags-und Artikulationsvorschriften, aber Anweisungen zur Dynamik und Art des Umgangs mit dem Pedal. Stockhausen selbst hat für dieses Stück eine Anleitung zum Hören verfasst, um sich in die neue musikalische Sprache hineinhören zu können. Besonders wichtig ist ihm hierbei die Wahrnehmung von Pausen. Gewidmet ist das Stück der belgischen Pianistin Marcelle Mercenier, die es 1954 in Darmstadt uraufgeführt hat.
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück I"
    Die Entstehung der Klavierstücke folgt keiner Chronologie, denn das "Klavierstück III" ist bereits 1952, also zwei Jahre vor dem ersten geschrieben. Es ist mit einer knappen halben Minute das kürzeste Werk in Stockhausens Gesamtschaffen.
    Zu hören ist eine fein ziselierte abstrakte musikalische Miniatur in atonaler Konzeption, die in ihrer Knappheit stark an die Klavierstücke von Anton von Webern erinnert. Das Geschehen basiert auf einer Tonreihe, in der einige Noten nur punktuell auftreten und sich zu rhythmischen Zellen formieren.
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück III"
    Als renommierte Interpretin Neuer Musik hat Sabine Liebner zahlreiche CD-Aufnahmen gestaltet. Ihr Interesse gilt in den letzten Jahren vor allem den amerikanischen Komponisten der New York School. Beim Kölner "Forum neuer Musik" im Deutschlandfunk Kammermusiksaal war sie 2011 an vier aufeinanderfolgenden Abenden mit den "Etudes Australes" von John Cage zu erleben.
    Neben den Stockhausen-Einspielungen durch Aloys Kontarsky oder Herbert Henck kann die aktuelle Aufnahme mit Sabine Liebner als exemplarisch gelten, weil sie ihre Lesart der Partitur ganz in den Dienst einer werkanalytischen Haltung sowie Stockhausens Anweisungen stellt und Details bezüglich Klang und Timing sehr präzis gestaltet.
    Unbestimmtheitsrelationen
    Stockhausen hat sich vielfach zu seinen eigenen Kompositionsverfahren geäußert und seine Intentionen offen gelegt. Die "Klavierstücke V-X" entstanden bereits unter dem Eindruck der intensiven Beschäftigung mit elektronischer Musik. Durch das strenge strukturelle Komponieren für das Klavier konnte er wesentlichen musikalischen Phänomenen begegnen und notierte: "Vor allem geht es dabei um die Vermittlung eines neuen Zeitgefühls in der Musik, wobei die unendlich feinen irrationalen Nuancierungen und Bewegungen und Verschiebungen eines guten Interpreten manchmal eher zum Ziele verhelfen als ein Zentimetermaß."
    Eine Herausforderung für die Pianistin stellt das "Klavierstück VI" dar, das in vier Versionen aus den Jahren zwischen 1954 und 1961 existiert und mit gut 40 Minuten zu den längsten Klavierstücken zählt. Zur Tempoangabe hat Stockhausen ein mathematisches Achsensystem als dritte Zeile in die Partitur gefügt. Während das Klangmaterial streng rational sortiert wird, werden Pausen zu kalkulierbaren Momenten der Stille. Beim Hören dominiert zunächst ein dicht gewobener Klangkomplex, dessen Facetten aber zunehmend aufgeschlüsselt werden und eine sogartige Wirkung entwickeln.
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück VI" (Ausschnitt)
    Variable Form
    Eine breite Spanne an Variabilität in der Interpretation fordert das "Klavierstück IX". Statt weiträumiger Tonbewegungen erfährt Einzelnes Veränderung. Einhunderzweiundvierzigmal wird ein Akkord mit vier Tönen angeschlagen.
    Die rhythmischen Proportionen folgen der Summe der mathematischen Fibonacci-Reihe - also 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55 usw. Weitere rhythmische und metrische Eigenschaften werden ebenfalls daraus abgeleitet. Atmen und Schwingen sollen hier, ausgelöst durch den jeweiligen Interpreten, einander abwechseln. Stockhausen notiert am Partiturbeginn: "In regelmäßigen Abständen diminuendo ganz kontinuierlich ohne Rücksicht auf nicht ansprechende Tasten bei geringer werdender Intensität". Zudem gibt es eine chromatisch ansteigende Skala, bei der jede Note eine andere Dauer hat. Starre monotone Ereignisse wandeln sich und mischen sich in stets neuen Verbindungen. In der Unmöglichkeit, alle vier Töne der wiederholten Akkorde immer genau gleichzeitig anzuschlagen, liegt Spielraum, dass sich einzelne Töne quasi unfreiwillig in den Vordergrund schieben und somit die Klangfarben variieren.
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück IX" (Ausschnitt)
    Formale Vieldeutigkeit
    Während die "Klavierstücke I-X" bestimmten Zahlenproportionen gehorchen und jedes einzelne klangliche Detail als Teil des Ganzen konzipiert ist, markiert das "Klavierstück XI" eine Wende hin zu freieren Gestaltungsräumen für den Pianisten. Die Großform kann er hier selbst bestimmen, je nachdem, auf welchen Teil der Partitur er seinen Blick richtet. Stockhausen verlangt, dass "der Interpret in der Formgebung offen, unvorhersehbar und mitschöpferisch ist". Neunzehn verschiedene Notengruppen, verteilt über eine einzige große Seite sind hier in beliebiger Abfolge zu spielen. Wenn ein Interpret eine Gruppe absichtslos gewählt, und mit freier Geschwindigkeit, Lautstärke und Anschlagsart gespielt hat, liest er an ihrem Ende die Spielanweisungen für die folgende, wiederum absichtslos zu wählende Gruppe. So entsteht jeweils aus einer spontanen Entscheidung eine eigene Version der klanglichen Umsetzung. Es dominiert die Unvorhersehbarkeit des musikalischen Verlaufs. Einzelne Gruppen sind miteinander verknüpfbar, aber nicht auslassbar. Alles entsteht also aus dem zufälligen Agieren des Interpreten.
    Karlheinz Stockhausen wollte damit nicht nur den Interpreten für bestimmte Erfahrungen sensibilisieren, sondern auch den Hörer und formulierte in diesem Kontext: "Das Entscheidende beim Hören einer Komposition ist, was sich in dieser speziellen, einmaligen Welt im Einzelnen und als Prozess ereignet und was sich buchstäblich erhört".
    1957 spielte der Widmungsträger des Stückes, David Tudor, die Uraufführung in New York in zwei Versionen. Hören Sie hier Sabine Liebner mit einem Ausschnitt aus dem "Klavierstück XI".
    Musik: Karlheinz Stockhausen - "Klavierstück XI" (Ausschnitt)
    Karlheinz Stockhausen - "Klavierstücke I-XI"
    Sabine Liebner Klavier
    WERGO CD 7341 2, LC 00846
    EAN:4010228734126