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Sabuschko über das nationale Trauma der Ukraine

Oksana Sabuschko, 1960 in der Ukraine geboren, nimmt in ihrem Roman "Feldstudien über ukrainischen Sex" eine private Beziehungshülle, in die sie die Geschichte - das Trauma - eines ganzen Landes packt.

Von Jochanan Shelliem | 11.04.2006
    Nicht heute, sagte sie sich. Nein, nicht heute. Noch nicht.

    Am Küchentisch ihres trostlosen Appartements irgendwo im akademischen Amerika sitzt eine Lektorin für ukrainische Literatur aus Kiew. Vor ihr liegt ein Rasiermesser...

    Eine halbe Packung Tranquilizer plus Rasiermesser – und ich bitte um Verzeihung wegen des nicht geglückten Debüts.

    Eine ukrainische Schriftstellerin hat ein Stipendium als Lektorin in einer amerikanischen Universitätsstadt bekommen, sitzt nun in ihrer Küche und hat ihren Selbstmord soeben aufgeschoben.

    Hab mir wirklich Mühe gegeben, Hand aufs Herz, aber weil nix draus geworden is, is es ehrlicher, gleich alle Karten auf den Tisch zu legen – aus mir wird nie und nimmer eine Spielerin, es wird sogar noch beschissener: kein Schimmer einer Hoffnung und meine Kräfte nicht mehr das, was sie mal waren: bin einfach keine däwotschka, kein junges Ding mehr!

    Und dann setzt sie zu einem gehetzt verstörenden inneren Monolog an. Sie zieht Bilanz. Es geht um einen Mann, eine Maler, Mykola mit Namen, der ihre große Liebe werden sollte und doch nur die Charge eines Ehemanns geworden ist. 170 Seiten lang lässt die "Dichterin des empfindsam tragischen Weltgefühls" das Leben und Leiden an seiner Seite Revue passieren, vom ersten Rendezvous über aussichtslose Wiederaufnahmen bis zum Exitus der Beziehung in einem amerikanischen Motel.

    Weißt Du überhaupt, wie viele Frauen ich gehabt habe? Und kein einziges Mal war es schlecht, einfach nur schlecht! Natürlich war es für dich nicht so, aber für sie, hast du sie mal gefragt? Ich konnte mir früher auch nicht vorstellen, dass es so sein kann, so schlimm sein kann, hast du überhaupt eine Ahnung, Liebling!

    "Was bist du denn so bissig?", hatte er mit seltsam gläsernem Blick in einer eurer ersten Nächte nach der Liebe gefragt, während er mit einer Zigarette bei deinen Füßen saß, "was soll das?" Der Länge nach über den Polster ausgestreckt, sorglos kichernd, streicheltest du ihm mit gestrecktem Fuß über den Kopf, du hattest wunderschöne Beine, all die Dior- und Saint-Laurent-Modelle hätten beim Anblick solcher Beine die Flucht ergreifen und sich ertränken müssen, und jetzt zogst du seit zwei Monaten deine Hose nicht mehr aus, weil deine Waden einer Landkarte glichen, übersät von einem Archipel verschieden groß aufgeblähter, rötlicher und bräunlicher, eingetrockneter und abblätternder Male – Schrammen, Schnittwunden, Verbrennungen – die anschauliche Geschichte einer neunmonatigen ( jawohl, neunmonatigen!) mad love, die in echte madness übergegangen war.


    Wie Nikos Katzantsakis in Alexis Zorbas die Kultur, die den Griechen geformt hat, minutiös abbildet, wie Milan Kundera im Liebesleben von Tomas und Theresa die tschechische Gesellschaft in ihrem Umbruch portraitiert, sucht die ukrainische Autorin im Prägestempel ihres Leides das Muster ihrer Nation.

    "Mir geht es nicht um Sex, mein Buch dreht sich nicht nur um schlechten Sex. Etwas, das in der ukrainischen Literatur zuvor von niemandem jemals ausgesprochen artikuliert worden ist. Wovon sonst eher selten gesprochen wird. Denn, um Doris Lessing zu zitieren: "Wir Frauen sollten die Männer niemals unterbrechen, wenn sie uns erläutern, was wir beim Beischlaf fühlen."

    Insofern geht es in meinem Roman nicht nur um die Entwicklung einer Romanze, die in einem miesen Beischlaf mündet, sondern darum dieses Verhalten, diese Erlebnisse aus der Familiengeschichte der Protagonisten zu verstehen. Dahinter steht das tiefe nationale Trauma dreier Generationen, die bis dahin zum Schweigen verurteilt worden sind und sich kulturell nie artikuliert haben."

    Die Beziehungshölle wird zum patriotischen Opfergang, die jammervolle Gockellei zur Folge einer jahrhundertelangen Verkrüppelung der Geschlechter, deren Leben stets von Angst geprägt worden ist. Als Kind erlebt das Mädchen, wie sie in der Schule von schmierigen Klassenkameraden bespitzelt wird, wie der Vater nach Jahren im Gulag nur noch darauf wartet, dass er wieder abgeholt wird, jedes Gefühl für Nähe und Scham verloren hat und die Tochter zwingt, ihr Hemd zu heben, damit er sehen kann, wie sie sich "entwickelt".

    "wenn doch nur Papa noch leben würde!" – wie denn, Gott sei ihm gnädig, wie hätte er denn am Leben seinkönnnen – in die Tiefe des Brunnens hinabgeworfen und sich krampfhaft am Brunnenschacht anklammernd: alles besser als ins Lager! – lebendig eingemauert in vier Wänden Radio hören, bei der Lüftungsklappe hinausrauchen und mit Entsetzen beobachten, wie sich etwas unter ihm unabwendbar ausschaltete, sich durch die Luke hinausdrängte, mit der ganzen Kraft des organischen Wachstums hinausgestoßen wird sie, die eizige Frau in seinem leben, die, welche er selbst gezeugt hat!"
    Zieh das Hemdchen hoch, ich will sehen, wie du dich entwickelst!" ( und setzt nicht jene äußerst verordnet-besorgte Intonation – "Dreh dich um, ich will dich noch von hinten nehmen" – nach zwanzig Jahren, als hättest du sie eben erst gehört , das längst verlorene Gefühl für dein Zuhause in Bewegung?), und es hat keine Bedeutung mehr, dass du es von hinten niemals gemocht hast, keine Bedeutung mehr, dass du dich im ersten Moment geweigert hattest, dein Hemdchen hochzuziehen, nachdem in dir eine unkindliche Kränkung aufgelodert war ( gegen die stille, neuerlich tiefe, feuchte Ergriffenheit: mein Kindchen, ich bin’s doch, dein Papa!), .....


    "Sklaven sollten keine Kinder in die Welt setzen", rät der Schwiegervater, der die Jugend im KZ verbracht hat, seinem Sohn. Die Suada der Sabuschko, die in einer Samistad-Kultur des clandestinen Widerstandes aufgewachsen ist, bezieht ihre Wut aus dem tabuisierten Passionsweg der Ukraine und seinen zahlreichen traumatischen Stationen.

    "Es ist das historische Trauma, das die Körpersprache der weiblichen Sexualität prägt. Unsere Nation blickt auf eine der leidvollsten Geschichten von Europa zurück, auch wenn man das im Westen vielleicht nicht weiß. 1933 starben in der Ukraine zehn Millionen Menschen, wegen des fruchtbaren schwarzen Boden unseres Landes nannte man die Ukraine damals den Brotkorb von Europa.

    Wer die Hungersnot thematisierte, der wanderte in den folgenden sechzig Jahren in ein Arbeitslager. Dieses Trauma findet sich in jeder Familie in der Ukraine. Im Zweiten Weltkrieg haben wir – eingekeilt zwischen zwei Diktaturen – gegen zwei totalitäre Regierungen gekämpft. In der Ukraine haben sich Stalin und Hitlerdeutsche gleichermaßen ausgetobt.

    Die letzte Welle der Verluste hatten wir in den Siebzigern, es gibt heute kaum Fünfzigjährige in der Ukraine, die meisten, die in Siebzigern studiert haben, wurden von der Szene entfernt. Das sind nur einige der Anhaltspunkte, um unsere Trauma zu umreißen. Außerhalb des Landes ist nie davon gesprochen worden und im Lande selbst wurde manches nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion thematisiert. "

    Das Bett gilt der Sabuschko als Stätte der weiblichen Unterwerfung, die Liebe zwischen Frau und Mann beschreibt sie als Krieg. Anders als der blutarmen Freundin in Amerika, der die Gewalt in der Beziehung fremd und reizvoll exotisch erscheint, ist ihr der Mann Schicksal und Vaterland und Zuhause zugleich. Nach 160 Seiten Leid schleudert sie der begriffsstutzigen Amerikanerin die Quintessenz der ukrainischen Passionsgeschichte vor die Füße.

    Was soll ich dir darauf antworten, Donnchen? Dass wir bei Männern aufgewachsen sind, die nach Strich und Faden durchgefickt wurden, dass wir dann genau von diesen Männern durchgevögelt wurden, und dass sie in beiden Fällen das mit uns machten, was andere, fremde Männer mit ihnen gemacht hatten? Und dass wir sie als solche angenommen und geliebt haben, wie sie sind, denn sie nicht anzunehmen, hätte bedeutet, auf der Seite der anderen zu stehen? Sodass unsere einzige Wahl also war und bleibt, Opfer oder Henker zu sein.

    Man spürt, dass der Roman Mitte der Neunziger entstanden ist, als die Ukraine noch in tiefster Kutschma-Depression erstarrt verharrte, isoliert, ignoriert, vergessen. Die giftige Darstellung jener "grinsenden westlichen Intellektuellen", denen sie Mal um Mal demonstrieren muss,

    dass auch die Ukrainer, na kaum zu glauben, fähig sind, sich in komplexen Satzgefügen auszudrücken

    klingt noch nach Ca ira, nach Emanzipation und Barrikadenkampf. Nach der Normalisierung der orangefarbene Revolution hat sich der Ton verändert. Fast wirken ihre Feldstudien ein wenig antiquiert, ist heute die Ukraine mit Andrej Kurkow und Juri Andruchowitsch Europa doch so nah, dass Russland ganz nervös die sanfte Brudermaske fallen ließ und seine Zähne zeigte. Vor zehn Jahren jedoch, als dieser Text entstand, sprengte die schmerzliche Passionsgeschichte die ersten Risse in das nationale Schweigen.