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Säkulare Familientragödie

Oper als "Anhang eines gesellschaftlichen Events" ist Opernregisseur Peter Konwitschny ein Greuel. Aus der DDR, in der er als Mitarbeiter von Ruth Berghaus seine Bühnenarbeit begann, hat er die Überzeugung mitgebracht, dass das Musiktheater "ein Ort der gemeinsamen Verständigung über wichtige Fragen des Lebens ist". Und solche existentiellen Fragen - zum Beispiel das Problem von Gewalt und Gegengewalt - prägen auch seine jüngste Inszenierung der "Elektra".

Von Christoph Schmitz |
    Peter Konwitschny mißtraut Strauß und Hofmannsthal und ihrem ersten gemeinsamen Werk "Elektra" aus dem Jahre 1909. Darum dichtet er in seiner Stuttgarter Inszenierung dazu. Vor allem am Anfang und am Ende. Das verleiht dieser symphonischen Oper ein neues Gesicht, das aber schon verborgen in ihr angelegt ist. Etwas Besseres kann dem Regietheater kaum passieren.

    Denn eigentlich beginnt die Geschichte ja viele Jahre nach der Ermordung des mykenischen Königs Agamemnon. Der war aus dem trojanischen Krieg zurückgekehrt und von seiner Frau, Klytämnestra, und ihrem Geliebten, Ägisth, erschlagen worden. Agamemnos und Klytämnestras Tochter Elektra ist zu Beginn der Oper schon erwachsen, sie will die Tat rächen und wartet auf ihren Bruder Orest. Orest soll den Racheakt vollziehen. Bei Konwitschny beginnt die Geschichte aber schon, bevor die Oper beginnt. Während das Publikum die Plätze einnimmt und die Musiker sich im Orchestergraben einspielen, nehmen Agamemnon und seine drei kleinen Kinder, Elektra, Orest und Chrysothemis, ein Bad. Die Kinder hüpfen mit Spielsachen beladen zum Vater in die Wanne und wieder hinaus, plantschen, prusten, streiten, es geht wild zu, und Agamemnon hat allerhand zu tun, um die ungestümen Geschwister im Griff zu halten. Plötzlich treten Klytemnästra und Ägisth ins Badezimmer und erschlagen vor den Augen der kleinen Elektra Agamemnon mit einem Beil.

    Noch im panischen Schrei des Mädchens schlagen die ersten Opernakkorde aus dem Graben. Die Badewanne mit dem blutüberströmten Leichnam bleibt auf der Bühne zurück, bleibt dort während der gesamten Aufführung inmitten eines sehr edlen und sehr cleanen Wohnambientes unserer Tage. Die erwachsene Elektra hat den ermordeten Vater immer vor sich.

    Susan Bullock als Elektra zeigt einen gebrochenen Menschen, weil er den kindlichen Schock nicht verwunden hat. Nicht das speziefische Verhältnis zum Vater wird hier problematisiert, das den Konflikt mit der Mutter verursacht, sondern die Erfahrung von Gewalt in der Familie, in nächster Umgebung. Damit entzieht Konwitschny den Stoff einer rein psychoanalytischen Deutung. Vom schwülen Ambiente des freudianischen und jungianischen Jahrhundertbeginns ist hier nichts mehr zu spüren. Auch Richard Strauß’ Konzept eines dämonischen und ekstatischen Griechentums als Gegenentwurf zu Goethes Harmonie-Antike hat der Regisseur der Oper ausgetrieben.

    Diese Elektra in Jeans und schwarzem T-Shirt ist Alkoholikerin, wie ihre Mutter Klytemnästra, und sie würde sich zu Tode saufen, wenn sie der Haß auf die Mörder nicht so umtriebe. Gezeigt wird eine säkulare Familientragödie einer an kaputten Beziehungen reichen Gegenwart. Eine verklemmte und biedere Chrysothemis, die den Schrecken verdrängen und nur heiraten und weg will, paßt gut ins Bild. Brilliant gesungen wird die Rolle von Eva-Maria Westbroek.

    Eva-Maria Westbroek war der Star des Abends. Ihr Sopran war die einzige Stimme, die es durchgehend mit der wunderbar transparent gestalteten, aber mitunter zu lautstarken Wucht des Orchesters unter dem Dirigenten Lothar Zagrosek aufnehmen konnte. Susan Bullock als Elektra und Renée Morloc als Klytämnestra boten und gaben viel, kamen aber nicht ganz durch, die Sänger von Ägisth und Orest blieben auf der Strecke.

    Konwitschnys Schlussdeutung ist kühn. Anders als bei Strauß und Hofmannsthal beteiligt sich Elektra handgreiflich am Mord ihrer Mutter und an Ägisth. Anders als in der Vorlage bricht Elektra in ihrem Jubelgesang und Jubeltanz über die geglückte Rache nicht einfach tot zusammen, sondern wird von einer Maschinengewehrsalve hinterrücks erschossen. Bruder Orest macht ganze Arbeit, beziehungsweise sein Begleiter in weißer Weste, dem Orest nur als Marionette dient. Die namenlose Nebenfigur ist zur neuen Hauptfigur geworden. Er macht gleich tabula rasa mit der ganzen Welt. Unter Elektras Schlußjubel, der hier zum Vernichtungsjubel mutiert, knattern zu einem Freudenfeuerwerk die Maschinengewehre weiter und mähen Scharen von flüchtenden Männern, Frauen und Kindern auf der Bühne nieder.

    Die Kette von Gewalt und Gegengewalt ist nicht zu sprengen. Doch da geht Konwitschny einen Schritt zu weit. Mit dem Massenmord an Unschuldigen suggeriert er, die Ränke unter den Mächtigen würden auf dem Rücken der Schwachen ausgetragen. Aber die Inszenierung hat diesen massiven Vorwurf nicht begründet. Konwitschny ist in die Ideologiefalle gerutscht: Die Bösen da oben – die Guten hier unten. Doch das war sein einziger Ausrutscher an diesem ansonsten starken Premierenabend an der Stuttgarter Staatsoper.