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Safran und Salz

Dies sind sechs Jahre im Leben der Mina Pereira, deren Mutter Dolores Maria Adelina heißt und aus Bombay stammt. Mit ihrem Vater - aus dem seinerzeit portugiesischen Goa - und den zwei Schwestern Deepa und Shanti wohnt Mina in Rain Hill, einem Örtchen bei Sydney, und dort wird der Basmati-Reis gekocht, dort werden die Auberginen in der Pfanne gewendet und mit Kamun, Gelbwurz, Kardamon und Zitronensaft gewürzt, mit Safran und Salz, dass die Vokale nur so durch die Gegend spritzen.

Hartmut Kasper |
    Exotisch wie die Namen sind auch ihre Träger, allen voran die Heldin und Ich-Erzählerin Mina, die schöne Mutantin. Ihr Schädel nämlich trägt von Geburt an zwei von der Evolution für Menschenkinder nicht vorgesehene Auswüchse, zwei Fühler oder Antennen, die Minas Seelenleben und momentane Befindlichkeiten an die Außenwelt verpetzen. Manchmal richten sie sich zornig auf, manchmal hängen sie entmutigt herab (wie die Flügel auf dem Helm Asterix, des Galliers).

    Shanti, ihre jüngere Schwester, ist leidenschaftliche Fernseherin. Sie liebt den Slapstick der Looney Tunes, die Hochgeschwindigkeitsakrobatik des Roadrunners und der schnellsten Maus von Mexiko. Von dieser Trickfilm-Choreographie wie von einem Fernkursus belehrt, schlägt sie bald selbst im Vorgarten ihre Saltos und Kapriolen.

    Die ältere Schwester, Deepa, ist schlicht ein Genie: "Mit drei Jahren - ein Alter, in dem ich noch nicht einmal die Heilige Dreifaltigkeit kapiert hatte (...) - hatte sie bereits Thomas von Aquins komplettes Werk gelesen und war zu einer überzeugten Atheistin geworden." Mina, die mittlere Tochter, erscheint dagegen wie die Verkörperung kindlicher Normalität, ihrer kleinen zusätzlichen Extremitäten auf dem Kopf zum Trotz. Ihre Sorgen sind die alltäglichsten: die ersehnte Mitgliedschaft im örtlichen Mädchengeheimbund; Freundschaft zu einem Nachbarjungen; Schule, Mathematik und hier besonders die ungekürzte Division; Aufklärung, Selbstbefriedigung und der erste BH; und immer wieder: die Hausarbeit. Homework - so der Originaltitel des Romans - Hausarbeit oder Heimarbeit - hat in dieser Familie eine besondere Bedeutung: Die Eltern nämlich verlagern ihre Tätigkeiten immer mehr ins Haus und leben sich durch verschiedenen Heimarbeiten weiter und weiter auseinander. Die Mutter, eine Ärztin, stellt nach einer Krebsoperation an ihren Eierstöcken allmählich jede aushäusige Tätigkeit ein, um in einem immer wahnsinniger werdenden kompensatorischen Eifer Eier aus Vogelnestern zu rauben. Endlich verlegt sie ihr Leben ganz in die Bäume.

    Der Vater, der bislang im Auftrag der Einwanderungsbehörde Flüchtlinge und Einwanderer über rechtlich beraten hat, flüchtet in die Gegenrichtung. Er vergräbt sich unter dem Vorwand hausmeisterlicher Reparaturarbeit im Keller. Aber der Meister seines Hauses ist er längst nicht mehr; der Haushalt ist zum Erliegen gekommen, gekocht wird nur noch notdürftig, Mina ist in die Badewanne gezogen, den einzigen Ort, der noch nicht vor Schmutz starrt. Und da der Vater in Sachen Handwerk blutiger Laie ist, führen seine "Tiefbauallüren", wie Mina die Wühlarbeiten ihres Vaters nennt, eines Tages zur Katastrophe.

    Woody Allen hat gesagt, dass der Schluss einer Komödie wie ein Haus sein muss, das lichterloh brennt. Am Ende brennt das Haus von Mina lichterloh, von Vaters Homework in die Luft gesprengt, brennt, ohne dass ihr Leben dadurch zu einer Komödie würde.

    Denn was sie zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr erlebt, hat nicht die Tom-Sawyer-und-Huckleberry-Finneske Leichtigkeit, die kindliche Dinge in der Erinnerung gerne annehmen. Die Risse durch ihre Welt sind von Anfang an gravierend und irreparabel; die Desintegration ihrer Familie wird durch kein Schlussbild von neuer, höherer Gemeinschaft geheilt. Dass all diese locker aneinander gefügten Erzählungen von erlittener Schmach, Peinlichkeit und Verlust den Leser nicht deprimieren, dass sie nie so tragisch wirken, wie sie sind, liegt zum einen daran, dass viele Episoden in Bildern von ungeheurer Komik gipfeln. Etwa, wenn Minas Vater, dessen Herz ganz im Geheimen für die Befreiung seiner Heimatinsel Goa von indischer Fremdherrschaft träumt, seine Töchter auf einen Ausflug nimmt nach Old Sydney Town. Dort werden in einer Art Freilichtmuseum die Gräuel der Vergangenheit Australiens als Strafgefangenenlager nachgespielt, inszenieren Schauspieler Auspeitschungen und Kanonendonner. Auch eine nachgebaute Guillotine steht dort, und Minas Vater "steckte aus Spaß Kopf und Hände hinein. `Wollt ihr nicht ein Foto machen? So hätte mich Mum am liebsten immer!´ , rief er." Dann bekommt er seine Hände nicht mehr frei; die Töchter eilen ihm zu Hilfe, ohne Erfolg.

    Japanische Touristen werden aufmerksam, wenden sich von den routinierten Darbietungen ab, dem Vater zu, knipsen, und noch immer unter dem Fallbeil beginnt der Vater ein Gespräch mit einem älteren japanischen Herrn über die Kriegsgeschichte Japans, man freundet sich an, das Fernsehen erscheint, macht ein Interview, und Vater ruft in die Kamera: "Freiheit für Goa! Goa libre!"

    Der eigentliche Spaß des Buches aber ist die Sprache, in der die Autorin ihre Mina erzählen lässt: ganz und gar anachronistisch, unkindlich nämlich, hochtrabend-witzig, konfrontiert sie ihre Figuren, die zu Mina ja wie zu einem Mädchen reden, mit Kommentaren wie diesem: Als ihr Vater Mina aus pädagogischer Absicht fragt:

    "Wenn Felicitas Summers und Chloe Withers sich in einen Brunnen stürzten, würdest du dann hinterherspringen?", denkt sie zur Antwort:

    "Ich wusste das philosophische Prinzip seiner Trajektorie zu schätzen, doch erschien mir der Brunnen als lächerliche, absolut widersinnige - und obendrein provinzielle - Analogie".

    Das ist triumphal. Denn so spricht, wer über den Dingen steht, nicht, weil er sie für klein hielt, sondern weil er sie überlebt hat.