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"Sag' bloß nicht, dass Du jüdisch bist"

Die Zeit des Nationalsozialismus ist inzwischen weitgehend erforscht - und doch gibt es immer noch Lücken. Bis heute ist nur wenig bekannt über das Schicksal der Menschen, die im NS-Staat als sogenannte "Halbjuden" oder als "Mischlinge ersten Grades" verfolgt wurden - Menschen, die einen jüdischen und einen nicht-jüdischen Elternteil hatten. Am Wochenende hat sich in Berlin zum ersten Mal eine Tagung mit diesem Thema befasst.

Von Frank Kempe | 12.03.2009
    "Und hier, Moment, das ist die Neue Grünstraße und da ist der Spittelmarkt, da ist der Spittelmarkt, ja."

    Margit Siebner kennt sich nicht mehr richtig aus, in der Gegend rund um den Berliner Spittelmarkt. Das Haus in der Seydelstraße, in dem sie aufwuchs, hat den Krieg nicht überlebt. Dort ist Brachland. Ringsherum achtgeschossige Neubauten. Auch die Fabrik, in der sie im letzten Kriegsjahr versteckt war, ist nicht mehr da. Nur das Haus mit der Kohlenhandlung - das steht noch:

    "Die Tochter dieses Kohlenhändlers, die durfte noch mit mir spielen. Da wurde ich eingeladen zum Kindergeburtstag. Und der Vater, den muss man sich so vorstellen wie ein richtiger Berliner, der hat mich so gestreichelt mit seinen rußigen Fingern. Und hat gesagt: 'Kohlen werden immer gebraucht. Ick muss den janzen Mist nicht mitmachen'. Und diese Helga, das werde ich nie vergessen, die war eben meine Freundin. Und die anderen - das ging nicht mehr."

    Die anderen Kinder durften nicht mehr mit ihr spielen, weil deren Eltern Nazis waren. Und Margit war eine so genannte "Halbjüdin", ein "Mischling ersten Grades" - so stand es in den Nürnberger Rassengesetzen von 1935. Auch in der Schule wurde sie ausgegrenzt. Zwar war sie Klassenbeste, aber der Lehrer nahm sie irgendwann nicht mehr dran. Und in Rassenkunde war sie das negative Anschauungsobjekt.

    Margit Siebner ist heute 80 Jahre alt. Am Wochenende hat sie in Berlin auf der Tagung "Sag' bloß nicht, dass Du jüdisch bist" von ihrer Kindheit erzählt - als eine von mehreren Zeitzeuginnen. 110 Teilnehmer zählte die Veranstaltung, organisiert vom Verein "Der halbe Stern". Aufarbeitung über 60 Jahre nach Kriegsende - warum so spät? Dazu Sonja Grabowsky, eine der beiden Tagungsleiterinnen:

    "Das hat damit zu tun, dass diese Personen durch die Nazi-Terminologie zu etwas geworden sind, zu einer Gruppe, die sie vorher nicht gebildet haben. Sie gab es de facto nicht. So ist ein Personenkreis entstanden, der nach 1945 auch kein eigenes Opferbewusstsein herausgebildet hat."

    71.000 Menschen waren es laut einer Volkszählung aus dem Jahr 1939. Die meisten waren getauft oder christlich erzogen, und nur wenige hatten einen wirklichen Bezug zum jüdischen Glauben. Sie verband nur, dass sie einen jüdischen Elternteil hatten.

    Margit Siebners Vater war der jüdische Buchhändler Fritz Cohn, ihre Mutter Gertrud war evangelisch. 1936 zwangen die Nazis den Vater, seine Buchhandlung zu einem Spottpreis zu verkaufen. "Arisierung" nannten sie das. Zwei Jahre später wurde Fritz Cohn verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt - er hatte ein verbotenes Buch verkauft. Um frei zu kommen, musste er sich scheiden lassen und verpflichten, auszuwandern - innerhalb von einem Monat:

    "China, Schanghai war das einzige Land, wo kein Visum verlangt wurde. Es war die einzige Rettung für 25.000 Juden, deutsche und österreichische. Na ja, jedenfalls habe ich ihn dann zum Bahnhof gebracht. Ich sehe ihn heute noch. Da stand er und ich sehe ihn heute noch wie er gesagt hat 'Gittemaus, lern Englisch!' Weil er natürlich gehofft hat, wir werden nachkommen."

    Der Krieg durchkreuzte die Pläne, und der Vater brauchte eine Existenz. Es entstand die Idee mit den Büchern. Ein Paket nach dem anderen schickte ihm die Tochter - für seinen Bücherkarren, die fahrende Leihbücherei im Flüchtlingsghetto von Schanghai.

    Margit wollte dem verzweifelten Vater helfen, der es noch schwerer als sie hatte. Ein typisches Verhalten für diese Kinder, sagt Tagungsleiterin Brigitte Gensch vom Verein "Der halbe Stern". Es habe oft eine Umkehr der normalen Rollenverteilung gegeben:

    "Diesen Vorgang nennt man in der Traumatheorie Paternalisierung. Und das ist eine Beschädigung, eine defizitäre Situation, die diese Menschen bis heute prägt, sowohl in diesem Geängstigtsein, das im Alter wie wir wissen eine ganz andere Wirksamkeit wieder bekommt, als auch in dem Verantwortungsgefühl, und auch vielleicht in dem Gefühl oder der Erinnerung: Habe ich genug für meine Eltern getan, zumal dann, wenn eben der eine Elternteil wirklich deportiert worden ist."

    Während des Krieges verschärfte sich die Situation auch für die "jüdischen Mischlinge". Margit bekam ab 1942 praktisch Schulverbot. Außerdem drohte Zwangarbeit. Die Mutter nahm allen Mut zusammen und bat einen nur flüchtig bekannten Mann um Hilfe - ein Glücksfall:

    "Er hatte von seiner jüdischen Geliebten, die ausgewandert ist, seine Firma bekommen mit der Auflage, er möge Juden helfen. Das hat er auch gemacht. Er hat mich also, als ich dann 15 wurde, in seine Rüstungsfabrik aufgenommen - unter dem Mädchennamen meiner Mutter."

    Die meisten der so genannten "jüdischen Mischlinge" überlebten die Nazi-Zeit. Von ihrem Schicksal wollte der Rest der Bevölkerung nach 1945 nichts wissen - waren sie doch so etwas wie eine lebende Erinnerung an das, was verdrängt werden sollte. Das Schweigen belastete - die Betroffenen selbst, aber auch die nächste Generation, betont Brigitte Gensch:

    "Wir wissen, belehrt durch Untersuchungen, dass es eben transgenerationelle Beschädigungen gibt, die sich oft eben gar nicht sprachlich, sondern über Emotionen und Verhaltensmuster in den Familien fortsetzen."
    Margit Siebner hat ihren fünf Kindern alles erzählt - auch wie sie nach dem Krieg erfuhr, dass der Vater 1944 in Schanghai an Tuberkulose gestorben war. Und von ihrem Gefühl der inneren Zerrissenheit.

    Ein bisschen davon wohne auch in ihrer Seele, sagt die jüngste Tochter Judith Siebner, die auch an der Tagung teilnahm. Auch sie frage sich oft: "Wo gehöre ich eigentlich hin?". Wahrscheinlich habe sie das von der Mutter übernommen:
    "Es ist aber auch andererseits hilfreich, dass sie mir auch eine gewisse Stärke vermittelt hat. Also diese Stärke: Es geht immer weiter. Jetzt erst recht. Egal, was passiert im Leben: Ich fange neu an. Und das habe ich sehr viel mitbekommen von ihr."

    Margit Siebner versucht das auch an andere weiterzugeben, wenn sie in Schulen über ihr Schicksal spricht. Weil Erinnern heilsam ist.

    "Ich habe gelernt, dass Vergangenheit nicht verdrängt werden darf, sondern dass sie einen einholt - so oder so. Sondern dass sie aufgearbeitet werden muss."