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Sagenhaft und perfekt

Die Balletttage in der Hamburgischen Staatsoper zum Saisonende sind eine Art Leistungsschau des Hamburg-Balletts und ihres Direktors John Neumeier, der dessen Geschicke nun schon seit über drei Jahrzehnten lenkt. Ein fünfeinhalbstündiger Tanzmarathon stand auf dem Programm in dessen Mittelpunkt die Französin Sylvie Guillem stand, die als berühmteste Ballerina der Gegenwart gilt.

Von Wiebke Hüster |
    Zu einer Ballettzeit vor John Neumeier erlebte Hamburg glanzvolle Tanzabende, an denen sich der berühmteste Choreograph des zwanzigsten Jahrhunderts, George Balanchine, vor dem Publikum in der Staatsoper verbeugte. Dem damaligen Intendanten Rolf Liebermann war aufgrund seiner Freundschaft mit Igor Strawinsky die Idee gekommen, Balanchine zu bitten, dem Hamburger Ballett regelmäßig Werke einzustudieren. Mit einem glamourösen Gastspiel des New York City Ballet feierte man auf der Hamburger Bühne 1962 den achtzigsten Geburtstag Strawinskys. Getanzt wurden einige von Balanchines und Strawinskys schönsten Balletten – Orpheus, Agon und Apollon Musagète. So kommt es, dass Hamburg heute über eine imposante Liste von Balanchine-Balletten im Repertoire verfügt und dieser Tradition auch ein wenig verpflichtet ist. Natürlich fing der Ballettdirektor John Neumeier 1973 damit an, sich als Autor eigener Werke zu etablieren und ließ andere Choreographen eher in den Hintergrund treten. Wie gut seine Tänzer hingegen in Balanchine-Balletten wirken, war jetzt bei der Premiere zum Auftakt der Ballett-Tage zu erleben. Das dreiteilige "Jewels" gehört nun neu ins Hamburger Repertoire.

    Die zwei Wochen bis zur Gala waren wie stets ausgefüllt mit Vorstellungen großer Neumeier-Werke – in diesem Jahr darunter der "Sommernachtstraum", "Die Kameliendame", "Romeo und Julia" und der neueste Abend "Lieder der Nacht" zu Musik von Frédéric Chopin und Gustav Mahler.

    Mit der Nijinsky-Gala kam Neumeier dann auf Balanchine zurück und präsentierte seine Solisten Hélène Bouchet und Thiago Bordin, die zum ersten Mal den "Tschaikowsky-Pas de deux" tanzten. Hier hat der Choreograph Musik benutzt, die Tschaikowsky für "Schwanensee" komponiert, dann aber nicht verwendet hatte. Nach dem Eingangstanz der beiden steigern sich die Schwierigkeiten in den abwechselnden Solovariationen immer mehr.
    Hier springt der Tänzer en manège, im Kreis. Und hier beweist die Ballerina ihre überlegene Kunst, die Gesetze der Schwerkraft Lügen zu strafen.
    Versteht man den Begriff "Gala" so wie John Neumeier, dann ist sie eine phantastische Demonstration der Qualitäten aller Solisten. Das Publikum sieht seine Lieblingstänzer von einer neuen Seite, es lernt Choreographien kennen, die sonst im Fundus der Ballettgeschichte ruhen, viel zu selten entstaubt und auf die Bühne geholt würden. Es erhält Gelegenheit, Tänzer, die wie Jiri Bubenicek gehen, zu verabschieden und Kommende, wie Kusha Alexi zu begrüßen. Oder Solisten anderer großer Bühnen zu erleben, für die es sonst weit reisen müßte.

    In Hamburg trat dieses Mal die sagenhafte französische Ballerina Sylvie Guillem auf. Was man neben leidenschaftlich verfolgter technischer Perfektion und einer seltenen Intensität der Darstellung bei ihr spürt ist, dass sie sich den Legenden ihres Berufes entfremdet hat. Sie ist unabhängig, nicht eines einzigen Ballettmeisters Muse, Geschöpf oder Instrument. Sie tanzte "Two", ihr hinreißendes Barfuß-Solo, das Russell Maliphant 1998 für sie erfand. Er stellte sie ein exaktes Lichtquadrat und ließ es sie erst mit magisch langsamen, dann ausgreifenderen und kampfesmutig hervorschnellenden Bewegungen ausmessen.

    Davor gab sie ihr Rollendebüt als Marguerite in einem Pas de deux aus Neumeiers "Kameliendame". Guillem tanzte ihn mit dem ebenfalls großartigen Nicolas LeRiche. Hingerissen vom Begehren, schlüpft Guillems Marguerite mit einer einzigen stürmischen Bewegung aus dem Kleid, die gleichzeitig ihr Haar löst. Wenn sie innerlich in den Abschied von ihrem Geliebten einwilligt, sitzt sie auf dem Boden vor ihm wie ein Kind und legt die Stirn in seine Hände. Sie sieht sehr klein aus in diesem Augenblick. So groß ist die Kunst der Guillem. Wenn sie zu erleben ist, bleibt trotz eines Fußballendspiels kein Platz frei. Weltmeisterschaft, das war hier.