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Salafismus-Forscherin
"Sie spielen mit Menschen"

Europa fragt sich, wer die tausenden Salafisten sind, die auf dem Kontinent leben und aus deren Reihen Anschläge verübt werden. Die Religionswissenschaftlerin Nina Käsehage ist dem Phänomen auf den Grund gegangen und hat 175 Salafistinnen und Salafisten interviewt. Sie blickt differenziert auf die Szene und will die Hoffnung in die Menschen nicht aufgeben.

Von Alexander Budde | 01.07.2016
    Mit einem Plakaten auf dem Rücken versuchen Teilnehmer der von Salafisten organisierten Koran-Verteilaktion "Lies" auf der Zeil in Frankfurt am Main die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Teilnehmer einer von Salafisten organisierten Koran-Verteilaktion in Frankfurt am Main (dpa / Boris Roessler)
    Der Begriff Salafismus ist in aller Munde – doch kaum jemand kennt sich damit aus. Nina Käsehage, Religionswissenschaftlerin an der Uni Göttingen, will es genauer wissen. Sie hat sich mit Salafisten getroffen und das Gespräch gesucht, schon lange bevor die neue religiöse Bewegung zum Dauerthema von Politik und Medien wurde.
    "Wir sind nicht so naiv, wie man das im ersten Augenblick von einem Wissenschaftler annehmen sollte, sondern wir sind auch sehr stark darauf bezogen, die Praxis zu involvieren. Das sollte der Sinn jeglicher Forschung sein, dass sie nicht nur im Elfenbeinturm verbleibt."
    Die empirische Religionswissenschaft will die innere Plausibilität der religiösen Vorstellungen und Praxis erkunden. Vereinfacht gesagt: Forscherinnen wie Käsehage wollen verstehen, was die Akteure umtreibt. Käsehage macht nicht den Eindruck als sei sie leicht zu erschüttern. Im Ruhrgebiet ist sie aufgewachsen, ihre Masterarbeit schrieb sie über Konvertiten und Re-Konvertiten. Schon damals, 2011, trifft sie auf Menschen, die sich gegen die etablierte Religion wenden und ihre eigene Enklave bilden.
    "Ein Konvertit zum Islam würde sagen: Er hat wieder zurückgefunden, letztendlich. Und ich habe mich gefragt, wie das sein kann, dass es Menschen in Deutschland gibt, die sich Salafisten nennen, weil man das eigentlich in dieser breiten Masse nur von Ägypten und Saudi-Arabien kannte."
    Die Doktorandin knüpft Kontakte, beobachtet, differenziert: Da ist zum Beispiel der junge Mann, der in zweiter Generation aus einer Familie von Zugewanderten stammt und plötzlich seine Identität als "wahrer Muslim" neu entdeckt – in bewusster Abgrenzung zu den liberal geprägten Eltern. Ganz anders die Erlebniswelt einer jungen Frau aus nicht kirchlich gebundenem Elternhaus, die als Teil ihrer Selbstfindung einem autoritären Islam zuwendet.
    Interviews mit 175 Salafistinnen und Salafisten
    Käsehage erarbeitet sich Vertrauen, führt über die Jahre 175 Interviews in Deutschland und dem europäischen Ausland. Ihr Material dokumentiert die ganze Vielfalt des salafistischen Milieus. Die Koran-Kundige trifft auf rhetorisch wie fachlich sattelfeste Prediger, aber auch auf selbst ernannte Experten, die ihr Unwissen mit umso größerem Sendungsbewusstsein kompensieren. Was da geschieht, sagt Käsehage, ist zunehmend ein Aufstand der Laien gegen das religiöse Establishment.
    "Sie werden von manchen Imamen einfach nicht gut genug umsorgt – wenn er nur auf sich selbst fixiert ist, Frontalunterricht macht, keine Kritik irgendwo duldet, ein anderes Land bevorzugt als das, aus dem seine Mitglieder stammen, die hier geboren sind. Es gibt viele Muslime, die mittlerweile versuchen, nach vorne zu gehen, koran-exegetisch viel zu bewegen, aber sie sind oft sehr allein vor der Übermacht der rückwärtsgewandten Vertreter von Moscheeverbänden." (*)
    Ihre Feldstudien führen die heute 37-Jährige in die Türkei, aber auch in die Tristesse französischer und belgischer Trabantensiedlungen. Dort, in der Banlieue, traf Käsehage schon vor einigen Jahren auf Hardliner, die sich nicht länger nur in frommer Nabelschau üben wollten – und unverhohlen zum Kampf aufriefen.
    "Das war damals schon ein schwieriges Milieu, sehr gewaltbetont wegen Nichtigkeiten. Die Stimmung konnte innerhalb von Sekunden umschlagen in Aggressivität. Es stehen dort Waffen, man wird sehr deutlich auf seine Möglichkeiten hingewiesen."
    Religionsforscher wie Käsehage wissen: Nur ein Bruchteil der fundamentalistischen Gruppierungen ist gewaltbereit. Doch nicht weniger als 36 ihrer Gesprächspartner wollen nach Syrien ausreisen, um sich der radikal-islamischen Al-Nusra-Front anzuschließen, die im Kriegsgebiet für ein eigenes Staatswesen kämpft. In ihrer Forschung fragt Käsehage nach den Motiven der selbsternannten Gotteskrieger:
    "Beispielswiese, wenn man aus einem Milieu kommt, wo vielleicht der Vater abwesend ist oder keine so gute Figur abgibt, muss man sich ein anderes Vorbild suchen. Man wird eingelullt in diese Vision von einem gerechten Krieg, der dort geführt würde, dessen Ausmaße man sich gar nicht persönlich vorstellen kann. Und dann gibt es natürlich auch die Leute, die ein Gewalt- und Sadismus-Potential in sich tragen – und die würden das gerne ausleben."
    Kritik an Propaganda und Sicherheitsbehörden
    Wann immer verzweifelte Eltern sie um Hilfe baten, fiel Käsehage aus ihrer Beobachterrolle: Viele der jungen Eiferer, sagt sie, habe sie in nächtelangen Diskussionen am Küchentisch von der geplanten Reise ins Unglück abhalten können.
    In ihrer Arbeit dokumentiert Käsehage auch mit welchen Methoden und Narrativen die gut vernetzten Prediger ihr jugendliches Publikum in den Krieg locken – Propagandavideos in der poppigen Aufmachung eines Computerspiels, spezielle Websites in salafistischer Lesart, kumpelhafter Plausch am Büchertisch:
    "Prediger, die blitzschnell sehen können, dieser neue Adept ist einer, der ist gut für die Straße, für die Street-Da`Wa, oder es ist jemand, der ist für den Kampf geeignet. Sie spielen mit Menschen, als ob sie Spielfiguren wären. Und es ist tatsächlich so, dass dann auch entsprechende Gelder fließen, unter anderem aus Saudi Arabien, die in die Vermittlung eingehen. Mir war das wichtig, die salafistische Szene als transnationale Bewegung darzustellen. Das habe ich schon vor zwei, drei Jahren gesagt, auf vielen Konferenzen – und keiner wollte das wahrnehmen."
    Wenn aus Interviewten Gefährder werden
    "Arroganz, Überheblichkeit, Desinteresse!" – Mit den Sicherheitsbehörden geht die selbstbewusste Forscherin hart ins Gericht. Viele ihrer Gesprächspartner von einst werden seit den Anschlägen von Paris und Brüssel als "Gefährder" geführt.
    Käsehages Göttinger Doktorvater Andreas Grünschloß ist Religionswissenschaftler und evangelischer Theologe. Er bezeichnet das Projekt als beglückende Pioniertat. Käsehage könne dank der enormen Fülle von Einblicken aufzeigen, …
    "… dass es eben nicht den Salafismus als solchen gibt, in der hiesigen Gegenwartskultur, sondern sehr unterschiedliche Strömungen. Fundamentalismus ist eine religiöse Reaktion auf bestimmte traditionszersetzende Auswirkungen der Moderne. Religiöse Inbrunst ist sicherlich ein wichtiges Kriterium, aber wie die sich äußert, ob die kampfbereit ist oder nicht – das ist eben sehr unterschiedlich."
    Noch in diesem Sommer will Käsehage ihre Doktorarbeit über den Salafismus einreichen:
    "Ich hoffe, dass es der Mühe wert war!"
    Käsehage spricht von einer Grundlagenarbeit, auf der andere Forscher, aber auch Sicherheitsbehörden und Initiativen aus der Betreuungsarbeit aufbauen könnten. Sie glaubt fest daran, dass die Deradikalisierung gerade junger Muslime mit vereinten Kräften gelingen kann.

    (*) Korrekturhinweis: Die Transkription des O-Tons enthielt zunächst einen sinnentstellenden Wortdreher: Statt "... vor der Übermacht der Vertreter von rückwärtsgewandten Moscheeverbänden" muss es heißen: "... vor der Übermacht der rückwärtsgewandten Vertreter von Moscheeverbänden". Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.