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Salafisten zerstören 80 Mausoleen in Tunesien

Salafisten haben in Tunesien etwa 80 Schreine der Sufis niedergebrannt und verwüstet. Die regierende islamistische Ennahda-Partei lässt die Radikalen häufig ohne Strafverfolgung davon kommen.

Von Detlef Urban | 18.05.2013
    Die 30 Männer singen und beten schon seit zwei Stunden, ein rhythmischer Gesang. Es sind Sufis von der Bruderschaft Tijaneia, ihr Treffpunkt ist ein mit edlen Kacheln und Fayencen ausgestattetes Mausoleum in der Medina, der Altstadt von Tunis. Verehrt wird hier Sidi Ibrahim, ein Heiliger, zu Lebzeiten Diplomat, Dichter und Gelehrter. Sein Sarg steht im Nebenraum, doch der Heilige selbst wird nicht angebetet. Die Männer chanten bis zur Ekstase. Tausende Male wiederholen sie den Namen Allahs in verschiedenen Varianten: All-Erbarmer, All-Barmherziger, All-Mächtiger.

    Der Sufismus verbreitete sich in Tunesien und im Maghreb ab dem 12. Jahrhundert. Es ist der religiös-kulturelle Humus, auf dem sich ein liberaler Volksislam in Tunesien bilden konnte. Scheich Ibrahim Riahi, ein Nachkomme des hier verehrten Sidi Ibrahim, war bis zu seiner Pensionierung Geschäftsführer einer großen Geschäftsbank. Er hat wie viele Sufisten ein asketisches Aussehen, ist fromm, doch äußerst weltgewandt.

    "Der Sufismus in Tunesien ist ein guter Gegenpol zum religiösen Extremismus. Ganz allgemein gibt es gegenwärtig eine Tendenz in der islamischen Welt zur Intoleranz und zum religiösen Extremismus. Der Sufismus aber ist von seinem Wesen her Nächstenliebe, wie auch Liebe zu Gott und zu den Propheten."

    Die Sufi-Bruderschaften waren stets auch soziale Anlaufpunkte und Schiedsstellen, besonders im ländlichen Bereich. Sie organisierten Armenhilfe, waren ein Netzwerk, das sich aber nicht parteipolitisch organisierte. Trotzdem wurde den Bruderschaften die finanzielle Unterstützung in Zeiten der Diktatur entzogen.

    Mausoleen wie Sidi Ibrahim, auch Marabouts genannt, gibt es überall im Land, erkennbar an ihren weißen Kuppeln, von der Medina in Tunis bis zur Sahara, an Berghängen, in Oasen, neben Moscheen. Seit Ende letzten Jahres sind sie Angriffsziele extremistischer Salafisten, die sie zerschlugen oder niederbrannten. Der Vorwurf der Salafisten lautet, hier würden Tote angebetet, was nach dem Koran nicht gestattet ist, und neben dem einen Gott dürfe es keine Heiligen geben. Vorwürfe, die gar nicht der sufistischen Glaubenspraxis entsprechen, sagt Ibrahim Riahi.

    "Die Menschen, die hierher kommen, kommen aus Gründen der Spiritualität. Sie beten Gott an, nicht den Heiligen. Deshalb irren die Salafisten, wenn sie uns Sufis als Ungläubige bezeichnen."

    Es gehe den Salafisten weniger um Religion als um Macht. Sie seien von Ultra-Konservativen aus Saudi-Arabien und Katar bezahlt und gesteuert, sagen übereinstimmend Experten in Tunis. Doch Salafisten finden Anhänger. Jetzt sei es wie in Mali, als in Timbuktu religiöse Schreine von Extremisten zerschlagen wurden, meint Adnan Louhichi. Er ist Direktor des Instituts für das nationale Kulturerbe in einem arabischen Palast in der Medina. Louhichi unterstehen die antiken Ruinen von Karthago nahe Tunis genauso wie Hunderte Sufi-Schreine, von denen etliche sogar in der Liste der UNESCO aufgeführt sind.

    "Wir gehen von einigen Dutzend aus, an die 80 Monumente, die entweder verbrannt oder zerstört wurden. Es gibt aber Tausende von Marabouts in Tunesien. Die Brände und Verwüstungen sind keine Einzeltaten, wir haben sie im ganzen Land zu verzeichnen – im Süden und Norden, Osten und Westen. Ich meine, das ist sicher eine zentral gelenkte Aktion."

    Südlich der Medina. Die Al-Fatah-Moschee quillt über, im Hof, auf der Straße, in den Seitengassen lauschen Männer der Predigt des Imam, Männer mit Fes, mit Krawatte, gut situierte Bürger, die zum Freitagsgebet gekommen sind. Es ist nicht irgendeine Moschee. Hier spielten sich vor wenigen Monaten dramatische Szenen ab: Polizei und Nationalgarde wollten einen radikalen Salafisten verhaften, der im Verdacht stand, einen Überfall auf die amerikanische Schule organisiert zu haben. Er hatte sich in der Moschee verschanzt. Mithilfe seiner Glaubensbrüder konnte der Anführer von Ansar al-Scharia dann jedoch unter den Augen der Polizei entkommen.

    "Allah akhbar" – Gott ist groß, ruft der Imam. Es ist nicht irgendein Imam, sondern der Minister für religiöse Angelegenheiten persönlich: Noureddhine Khadmi, parteilos, jedoch nicht auskunftsbereit. Einem Interview verweigert er sich. Er schickt seinen Berater, Kamel Essid, der auf die Frage antworten soll, wie das Religionsministerium die salafistischen Gruppen beurteilt.

    "Das sind keine radikalen Gruppen. Es sind einfach Einflüsse im Volk nach der Revolution. Ich klassifiziere die Leute auch nicht, die die Marabouts angegriffen haben. Es sind eben geistige Strömungen, die gegenwärtig Anklang finden."

    Vom Religionsministerium wird das Problem der Fundamentalisten heruntergespielt, obwohl nahezu jede Woche von Überfällen radikaler Salafisten berichtet wird, nicht nur auf Mausoleen, sondern auf Schulen und Universitäten, wo sie die Schleierpflicht für Mädchen und Frauen einführen wollen, oder auf Kinos und Ausstellungen, weil dort Gotteslästerung betrieben würde. Auch Tabakhändler auf der Straße und Restaurantbesitzer, die Alkohol verkaufen, werden angegriffen, meistens mit dem Fluch "Kafir" – "Ungläubiger".

    Dass dies viel mehr ist als nur eine "geistige Strömung", die nach der Revolution ihren Platz haben müsse, sieht Abdelfattah Mourou ganz und gar nicht. Er ist Mitbegründer der Ennahda-Partei und als deren Vizepräsident zuständig für Internationale Angelegenheiten. Mourou saß unter Diktator Ben Ali im Gefängnis.
    "Es hat niemals in Tunesien einen Islam gegeben, der die Menschen zu einer bestimmten Glaubenspraxis gezwungen hat. Oder Frauen verpflichtet hat, den Schador oder Schleier zu tragen. Sicher gibt es solche Vorschriften im Islam, aber unsere Gesellschaft ist damit immer tolerant umgegangen. Die Salafisten glauben aber, dass ein Sufist den Islam verlässt."

    Der religiöse Extremismus hat in Tunesien keine Tradition. Doch scheint das Rekrutierungsfeld der Militanten derzeit günstig. Der Angriff auf die Marabouts ist nur einer der zahlreichen extremistischen Vorstöße.