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Salvatore Sciarrino: Luci mie traditrici

* Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - Anfang aus: "Luci mie traditrici" Unbegleitet einstimmig beginnt eine Männerstimme diese Musik hinter dem Vorhang zu singen: "Was ist aus dem schönen Auge geworden ...?" Das klingt etwas fremdartig, wie aus sehr ferner Zeit. Der Text stammt von Pierre de Ronsard aus dem 16. Jahrhundert, die Melodie ist um 1608 verbunden mit dem Namen Claude Le Jeune entstanden: * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - aus: "Luci mie traditrici" Erst der zweite der dreizehn Teile des Stücks lässt die eigene Handschrift des Komponisten erkennen, die erste Szene, die am Morgen in einem Garten spielt: * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - aus: "Luci mie traditrici" Wie im einstimmigen Chanson zu Beginn wird von zwei Stimmen, einer männlichen und einer weiblichen, italienisch gesungen: "Venite, mia vita, mirate quella mezza nascosta. Voglio coglierla" - Kommt, mein Leben, seht diese halb Verborgene. Ich will sie pflücken. - Gemeint ist eine im Garten wachsende Rose. Nun aber bildet das Gesungene keine zusammenhängende Melodie mehr, schmiegt sich sozusagen der Sprache Satz für Satz, Satzteil für Satzteil, Wort für Wort, Geste für Geste an, um gelegentlich in eigenartige Melismen zu münden, Melismen der Erregung, des Seufzens, der Liebe und des Schmerzes. Und der Gesang wird von einigen kaum hörbaren, erst einmal auch kaum erkennbaren Instrumenten begleitet. Die Instrumente erzeugen ganz unmaterielle denaturierte Instrumental-Geräusche und -Klänge, gehauchte Blasinstrumentengeräusche, mit dem Bogen gestrichene Streichinstrumentengeräusche und geisterhafte tremolierende geräuschhafte Flageolett-Klänge aller Art. An diesen Instrumentalklängen ist der Komponist am ehesten zu identifizieren, ja, sie sind geradezu eine Art Markenzeichen für den 1947 in Palermo geborenen Mailänder Salvatore Sciarrino.

Reinhard Oehlschlägel |
    Seit Mitte der sechziger Jahre hat Sciarrino Instrumental- und Vokalmusik in kleinen und großen Besetzungen komponiert mit Titeln wie "Berceuse", "Notturni brillanti", "Capricci", "... da un Divertimento", "Arabesque", "Rondo", "Romanza", "Siciliano" und "Toccata", um nur einige zu nennen. Und alle diese Stücke bewegen sich auf eine höchst virtuose Weise im extrem Leisen zwischen Klang und Geräusch, perfektionieren geradezu eine Fülle von brüchigen Klangerzeugungen von Instrumenten aller Art. Durch die Brüchigkeit der Klangverläufe aber schimmern die Genreformen des Barock und der Romantik, die in den Titeln angedeutet sind, hindurch. Ein Anfang der siebziger Jahre bei einer Reihe von Aufführungen diskutiertes Element dieser kompositorischen Handschrift sind schließlich die zahlreichen wörtlichen Wiederholungen von ganzen Satzteilen mit Hilfe der herkömmlichen Wiederholungszeichen und der außerordentlich symmetrische Formaufbau der Musik von Sciarrino. Diese verschiedenen, stets in Varianten wiederkehrenden Merkmale machen die Musik von Sciarrino leicht wiedererkennbar, geben ihr einen spezifischen höchst artifiziellen manieristischen Klang, der im Laufe der siebziger und achtziger Jahre allerdings auch zu einem eher nachlassenden Interesse an seiner Musik beigetragen haben mag.

    Inzwischen hat eine jüngere Generation an Interpreten ein neues Interesse an der Musik von Sciarrino entdeckt, so dass es in den letzten Jahren zu einer Art Sciarrino-Renaissance in Paris, Brüssel, Wien und an verschiedenen Plätzen auch in Deutschland gekommen ist. Das zweite rein instrumentale Intermezzo zeigt Sciarrinos Instrumentalbehandlung hier offenbar als Verfremdung einer Art Vorlage angewandt: * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - aus: "Luci mie traditrici" Das dritte Intermezzo kurz vor Schluss geht in dieser Hinsicht noch weiter, so dass auch keine Vorlage mehr erahnbar ist, auch wenn ihm ebenso gut eine solche zugrunde liegen könnte. * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - aus: "Luci mie traditrici" Das erste Intermezzo ist andererseits ein Bläsersatz aus der Renaissance. * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - aus: "Luci mie traditrici" Im vorliegenden Stück bekommt nun Sciarrinos instrumentaler Manierismus eine neue Dimension. Abgesehen von einigen Stellen, an denen auch die Stimmen flüstern und damit entmaterialisiert erscheinen, singen und sprechen die Darsteller naturale, also mit ungebrochener Stimme. Dadurch bekommen die sehr leisen Geräuschklänge der Instrumente eine eindeutig begleitende, schattierende, kommentierende Funktion, ohne die Verständlichkeit der Stimmen zu beeinträchtigen. Wenn man so will, eine sehr konsequente Anti-Wagner-Haltung, noch konsequenter als bei Claude Debussys "Pelléas et Mélisande". Sciarrino spricht gar von einem "Neuen Entstehen der Musiktragödie", von "Oper im wahrsten Sinne des Wortes". Seine Kammeroper mit dem schwer übersetzbaren Titel "Luci mie traditrici" 1998 für die Schwetzinger Festspiele entstanden, ist auf ein eigenes Libretto komponiert, das sich Sciarrino aus dem Theaterstück "Il tradimento per l'onore" - der Verrat der Ehre - von Giacinto Andrea Cicognini aus dem Jahr 1664 durch konsequentes Wegstreichen aller zeitkoloristischen Elemente ausgearbeitet hat. Es hat dadurch etwas Symbolistisches nach Art von Maurice Maeterlincks Dramen, etwas an die lakonische Sprache Samuel Beckett Erinnerndes. Im Stück wird in dialogischen Andeutungen das Eifersuchtsdrama zwischen Graf Malaspina und der schönen jungen Gräfin dargestellt, in die sich erst der Diener und dann ein namenloser männlicher Gast verlieben, in den sich aber auch die Gräfin ihrerseits verliebt. Der Diener verrät aus Eifersucht den Gast an den Grafen, der schließlich der Gräfin einen Spiegel in Form des getöteten in ihrem Bett liegenden Gasts vorhält und sie schließlich in der Umarmung ihres toten Liebhabers erdolcht und das Stück mit dem Satz abschließt: "Sempre vivrò in tormento" - ich werde ewig in Qualen leben. Hier der Schluss dieser Kammeroper: * Musikbeispiel: Salvatore Sciarrino - Schluss aus: "Luci mie traditrici" Salvatore Sciarrinos Kammeroper "Luci mie traditrici" ist wenige Tage vor Ostern in dem neuen Wiener Label Kairos in einer Aufnahme mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Beat Furrer und mit den Solisten Annette Stricker als Gräfin Malaspina, Otto Katzameier als Graf, dem Altisten Kai Wessel als Gast und mit Simon Jaunin als Diener in einer sehr sorgfältig edierten Aufmachung unter Abdruck des Librettos und von Übersetzungen ins Französische, Englische und Deutsche erschienen. - Damit ist diese preziöse Kammeroper, die zuletzt in einer sehr streng inszenierten, ja sozusagen choreographierten Interpretation von Trisha Brown in Bildern und Kostümen von Roland Aeschlimann im Malibran-Saal der Brüsseler Oper zu erleben war und demnächst im Lincoln Center in New York und in der Oper von Rouen in Frankreich aufgeführt wird, für den Sammler und Liebhaber von Compactdiscs und Sciarrinos Musik erstmals zugänglich.