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Samuel Beckett. Eine Biographie

Auf dem Buchmarkt schiebt sich das Genre der biographischen Literatur immer aufdringlicher in den Vordergrund, besonders wenn es um Personen geht, die gerade "in" sind. Dabei ist es gar nicht wichtig, ob ihr Leben interessant genug ist, aufgerollt zu werden. Im Gegenteil; wer oft genug mit seiner Medienvisage auftaucht, ist von Bedeutung. Aber wie lange? Das Verfallsdatum droht. Da wird die Biographie als Werbeträger eingesetzt, bevor alles zu spät ist.

Ria Endres | 08.07.2001
    Um solche Strategien mußte sich der Romanist James Knowlson nicht kümmern, als er vor fünf Jahren seine Biographie über Samuel Beckett, einen der ungewöhnlichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, vorlegte. Er kann eher in der Tradition eines Quentin Bell oder eines Richard Ellmann gesehen werden. Trotzdem ist Knowlsons Arbeit weit entfernt von der Vorgehens-weise Quentin Bells, der in seiner Biographie über Virginia Woolf von 1972 eine einmalige Entmystifizierungsarbeit geleistet hat und mit fast traumwandlerischer Sicherheit eine luzide Strukturierung ihres Lebens erreichte. Und Knowlsons Biographie reicht auch nicht an Richard Ellmann heran, wohl einen der bedeutendsten Biographen unseres Jahrhunderts. Dessen Biographie über James Joyce von 1959 leuchtet wie ein Juwel in der Landschaft der Biographien. Ellmann wurde als literarischer Detektiv bezeichnet, weil er allen Beziehungen und Lebensumständen des Dichter nachgegangen ist. Groß wird die Joycebiographie aber vor allem deshalb, weil Ellmann das Kunststück fertig brachte, das Rätselhafte an Joyce in dessen Leben einzubinden und nicht mickrig neben der stilistischen Eigenständigkeit von Joyce dazustehen. Das gleiche Prinzip wandte Ellmann bei seiner 1984 erschienenen Biographie über Oscar Wilde an, die sich genauso spannend liest wie ein Roman. Sowohl Ellmann als auch Bell beweisen in ihren auch sprachlich faszinierend erzählten Lebensgeschichten, dass man das Objekt der Begierde nicht unbedingt kennen muß, um ihm ganz nahe zu sein.

    Und wie steht Knowlson da? Er hat keine sachlichen Fehler gemacht. Seine Arbeit kann getrost als unentbehrliches Quellenwerk für Studenten und Spezialisten benutzt werden, so fundiert und exakt ist sie geschrieben. Weniger vertrauten Lesern erleichtert die Biographie das Bekanntwerden mit Becketts Werk und läßt das 20. Jahrhundert aus seiner Perspektive heraus entstehen. Man bekommt keine Adrenalin-ausschüttung beim Lesen, aber das ist auch nicht beabsichtigt. In seinem Vorwort schreibt Knowlson, der das Beckettarchiv an der Universität Reading aufgebaut hat und als profunder Kenner von Becketts Werk gilt über das Entstehen seiner Arbeit:

    Über fünf Monate hin führten wir wöchentlich ein Gespräch, und Beckett versah mich mit Empfehlungsschreiben, vielen Namen und Adressen und anderen wesentlichen Informationsquellen. Er gestattete mir den Besuch seines Landhauses in Ussy und die Benutzung seines Arbeitszimmers am Boulevard Saint-Jacques. Großzügig und auch um sich zu schützen wollte er, wie er mir schrieb, das Buch erst nach seinem und seiner Frau Ableben veröffentlicht wissen (...). Leider starb er schon sechs Monate nach Beginn meiner Arbeit an diesem Buch. Keine zensierenden oder verändernden Eingriffe in meinen Text wurden seither unternommen. (...) Becketts Erben, Edward und Caroline Beckett, sowie sein Nachlaßverwalter und Verleger Jérôme Lindon halfen mir, wie vorher Beckett, durch leihweise Überlassung seiner Notizen aus seiner Studienzeit, eines Arbeitsbuchs aus dem Jahre 1931/32, der Aufzeichnungen zu seiner philosophischen, psychologischen und literarischen Lektüre Mitte der 30er Jahre, seiner Terminkalender 1964 bis 1986, vieler Familienfotos und einiger Materialien im Zusammenhang mit seiner Arbeit in der französischen Résistance. Als neue Quelle war am aufregendsten ein Fund in Becketts Keller. Dort fand Edward Beckett in einer Kiste sechs hochformatige, engbeschriebene Notizbücher mit detaillierten Tagebuchaufzeichnungen, die Beckett während seiner Deutschlandreise 1936/37 niederschrieb.

    Immerhin hatte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Deirde Bair bereits 1978 eine erste große Beckettbiographie publiziert. Trotz einiger Fehler wurde ihre Arbeit anerkannt und war nicht leicht zu übertreffen. Ein wirklich neues Beckettbild konnte also nicht entstehen; aber ein vollständigeres, detailreicheres, denn es umfaßt sein ganzes Leben. Beckett, der immer wieder betont hat, dass sein Leben furchtbar langweilig gewesen sei, hat 1989 in seinem Todesjahr grünes Licht für Knowlsons gewiß nicht einfaches Vorhaben gegeben.

    Knowlson muss nicht beweisen, wie bedeutend dieser Autor ist. Der Nobelpreisträger von 1969 hat sich längst als Jahrhundertdichter ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Er hasste journalistisches Geplapper über seine Person. Vielleicht hat sich gerade deshalb um ihn ein hartnäckiger Personenkult aufgebaut. Fern von Betrieb und Vermarktung griff Beckett nach dem zweiten Weltkrieg doch immer wieder ins kulturelle Geschehen ein, vor allem, wenn es um seine Theaterarbeit ging. Auf den Proben wurde er oft photographiert, als wollte man ihn, der bei der Premiere längst wieder verschwunden war, auf diese Weise länger festhalten. Auf den Photos wirkt er konzentriert, streng, manchmal abweisend, ist aber stets im Zentrum einer enormen Ausstrahlung. Die Photographien bekamen ikonographischen Wert und sind genauso einprägsam wie die Portraits von Pasolini oder Beuys. Vielleicht rührt das daher, dass sich in diesen Gesichtern Leidenschaft und Askese verbinden und in geheimer Korrespondenz zur Kunst stehen. Knowlsons Ehrgeiz richtet sich darauf, Becketts Portrait so vollständig wie möglich erstehen zu lassen, und dieses Ziel hat er erreicht.

    Samuel Beckett wurde 1906 in Foxrock, in einem Villenvorort von Dublin geboren. Er liebt seinen Vater, William Beckett, einen wohlhabenden Baukalkulator. Seiner Mutter May sieht er sehr ähnlich. Auf das Kindheitsparadies fällt der Schatten der Mutter. Ihre Liebeswut verfolgt ihn. Der junge Sam unternimmt Wanderungen mit dem Vater, schwimmt gern, spielt Tennis und Schach. Für Literatur interessiert er sich nicht. Aber seine Umgebung beobachtet er genau. Je älter Beckett wurde, um so deutlicher sah er die Nachtseite der menschlichen Existenz mit all ihren kleinen und großen Katastrophen. Die Wünsche nach Flucht wurden intensiver, vor allem nach seiner Pubertät, als die Mutter ihn zu einem abgesicherten Beruf treiben wollte. Am Trinity College in Dublin studiert er Geisteswissenschaften und moderne Sprachen. Bildungsreisen führen ihn nach Frankreich, Italien und Deutschland. Er graduiert 1927 mit Auszeichnung. Aber die Vorstellung von einer Universitätskarriere versetzte ihn in Panik. Inzwischen ist er mit dem "Schriftstellervirus" infiziert und hasst die Provinzialität Dublins. Gebildet und kompromißlos verläßt er mit 22 Jahren Irland und lässt sich in Paris nieder. Durch die einschneidende Begegnung mit James Joyce begreift er, dass er nicht den gleichen schriftstellerischen Weg gehen kann wie sein Übervater. Gegen den literarischen Reichtum eines Joyce setzt er das Prinzip der Reduktion. Immer, wenn er nach Foxrock zurückkehrt, befallen ihn Panikattacken und Herzrasen. Er begreift, dass er in einem großen Schlamassel steckt:

    Jahrelang war ich unglücklich - bewußt und vorsätzlich, seit ich die Schule verlassen und ins (Trinity College) gegangen bin -, so dass ich mich immer mehr abgesondert, immer weniger unternommen habe und mich in ein Crescendo von Geringschätzung anderer und meiner selbst hineinsteigerte. In all dem war aber nichts, was mir krankhaft vorgekommen wäre. Das Elendsgefühl, die Einsamkeit und Apathie und der Hohn waren die Elemente eines Gradmessers der Überlegenheit und eine Gewähr für das Gefühl arroganten Anderseins, das so richtig und natürlich und so wenig krankhaft erschien wie die Art, in der es, eher unausgesprochen, stillschweigend aufgespart, verfügbar blieb für eine mögliche Äußerung in der Zukunft. Erst als diese Lebensweise oder vielmehr Lebensverneinung solch erschreckende physische Symptome entwickelte, dass sie nicht länger fortgeführt werden konnte, gewahrte ich in mir etwas Krankhaftes. Mit einem Wort, wenn mich das Herz nicht in Todesangst versetzt hätte, würd(e) ich noch immer saufen und spotten und herumlungern und mich für alles andere für zu gut halten.

    Durch eine zweijährige Therapie bei Dr. Bion in London begreift er, dass seine inneren Stimmen, seine Traumgebrechen, kurz: der dunkle Kontinent seiner Psyche das eigentliche schriftstellerische Kapital waren. Es sollte eine Literatur entstehen, die für ihn vor allem Strafarbeit bedeutete. Keine Figur und kein Ort kann für sein früh erwachendes modernes Bewusstsein armselig und schmutzig genug sein. Sein erster Roman "Murphy" wird von 42 Verlagen abgelehnt. Er trinkt viel, schlägt sich weiter mit allen möglichen Krankheiten herum und lernt 1937 bei einer Abendgesellschaft die reiche amerikanische Erbin Peggy Guggenheim kennen. Beckett berät sie in Sachen Malerei und sie werden für einige Monate ein Paar. Sie vergleicht ihn mit Oblomow, weil er ihr oft nachlässig, träge, ohne Energie und Willenskraft erscheint. Zur gleichen Zeit freundet er sich mit den Malerbrüdern van Velde an, macht Übersetzungen, lernt Giacometti und Duchamp kennen. Irgendein Unheil ballt sich zusammen. 1938 stößt ihm ein Zuhälter ein Messer in die Brust. Bekett stirbt fast daran. Suzanne Dumesnil, eine Pianistin, die er noch von der Ecole Normale Supérieure kennt, weicht nicht mehr von seiner Seite. Sie werden später heiraten. Allein schon die gemeinsame Liebe zur Musik verbindet sie, aber auch ihre Vorstellung vom Alltagsleben. Suzanne ist eine moderne Frau, die seine künstlerische Freiheit für selbstverständlich hält. Im 2.Weltkrieg schließen sich die beiden der französischen Widerstandsbewegung an. In Südfrankreich schreibt er den Roman "Watt", für lange Zeit sein letztes Buch in englischer Sprache. Auch in seiner Romanwelt herrscht eine Art Kriegszustand. Die Figuren stellen Fragen, ohne Antworten zu erhalten. Am Ende des Krieges arbeitet er für das Irische Rote Kreuz als Lagerverwalter.

    Wieder in Paris gerät Beckett in die wichtigste Phase seiner Schriftstellerexistenz. Er wählt nun die französische Sprache und schreibt in der "belebenden Luft" des Mißerfolgs, wie er sagt, bis zur völligen Erschöpfung an seiner Romantrilogie. Die Becketts machten sich nichts aus Luxus und Repräsentation. Sie fanden all diejenigen, die sich gern in den Vordergrund drängten, abstoßend, ebenso den Literatur- und Kunstbetrieb. Ihnen war ihre Unabhängigkeit sehr viel wert.

    1949 schreibt er "Warten auf Godot" und Suzanne bringt das Manuskript dem Regisseur Roger Blin. Außerdem schleppte sie die Trilogie des Unbekannten zu allen möglichen Verlegern und kam oft nicht weiter als bis zur Conciérge, während Beckett im Café saß und wartete. Und sie hatte Glück bei dem jungen Verleger Jérôme Lindon, der 1948 die "Editions de Minuit" übernommen hatte und sich für Avantgardeliteratur einsetzte. "Ich verstand nicht, wie man von einer so funkelnden Sternschnuppe nicht sofort hingerissen sein konnte", sagt er über Beckett.

    Die Uraufführung von Godot wird zu einem der größten Theaterereignisse der Nachkriegsgeschichte. Die Anerkennung seines Werks ist seitdem stetig gewachsen. Nun haben die Becketts keine Geldsorgen mehr. Doch sie machten sich nichts aus Besitz und repräsentativem Luxus. Außerdem finden sie all diejenigen, die sich gern in den Vordergrund drängten, abstoßend, ebenso wie den Literatur- und Kunstbetrieb. Nach dem Erfolg seines Theaterstücks "Endspiel" schreibt er:

    Es ist komisch, sich stark zu fühlen und zugleich am Rand des Zusammenbruchs, und so fühle ich mich und weiß nicht, was von beiden falsch ist, wohl weder das eine noch das andere. So vieles möglich, und so wenig wahrscheinlich. Was ich bei Proust immer am meisten, am besten mitfühlen konnte, war sein Angstzustand in der Droschke auf dem Weg heim von einer Gesellschaft. Fühle mich jetzt oft so, in gebührender Bescheidenheit, nein, unbescheiden. Und denke manchmal, ich werde so fortsabbern bis 80.

    Die Anerkennung seines Werks ist seitdem allerdings stetig gewachsen. Mit seinen Theaterbildern schreibt er sich in das kollektive Gedächtnis ein. Die Anerkennung aus aller Welt war ihm eher lästig. Streben nach materiellem Profit blieb ihm fremd. Seinen Nobelpreis hält er für eine Katastrophe. Er verschenkt das Geld.

    Der Ruhm lähmt ihn und er fürchtet, "sein letztes Pulver verschossen zu haben." Seine Texte werden kürzer. Er muss sich einer Staroperation unterziehen. Klagt, dass er von Besuchern umlagert wird. Er isst wenig, macht sich nichts aus Kleidern, trägt handgestrickte Pullover, im Winter eine alte Baskenmütze. Vor seinem 75. Geburtstag schreibt er:

    Mir graut vor dem Jahr, das wir jetzt auf dem Hals haben, und vor all dem Theater, das mir hier bevor steht, als wär´ es meine Jahrhundertfeier. Ich werde mich dieweil rar machen, wo, weiß ich noch nicht. Vielleicht die chinesische Mauer, verkriech mich dahinter, bis die Luft rein ist.

    Er geht allerdings keineswegs denen aus dem Weg, die sich für sein Werk wirklich interessieren, vor allem Theaterleute, Regisseure, Schauspieler, Übersetzer, Wissenschaftler, Photographen. Mehr als ihm lieb ist, muß er sich seinem angeschlagenen Körper widmen. Mit seinem Werk blieb er immer verbunden, überließ nichts dem Zufall, sonst hätte er auch nicht die Anstrengung auf sich genommen, seine Bücher zu übersetzen.

    Aber was ist das Leben für ihn? Ein Abtragen der Schuld, geboren worden zu sein. Auch deshalb nimmt er seine Krankheiten geradezu stoisch an. An den Maler Avihgdor Arikha schreibt er 1984: Mein alter Kopf nichts als Seufzer (der Erleichterung?) absterbender Zellen. Eine letzte Chance, wills versuchen.

    In "Stirrings still", seinem letzten Text heißt es: "Der Himmel ist über den Dächern, so blau, so still." Bald kommt er nicht mehr ohne Sauerstoffgerät aus; beim Überqueren des Boulevard Saint Jacques stürzt er und zieht danach in ein Altenheim unweit seiner Wohnung. Sechs Monate nach Suzannes Tod stirbt er und wird 1989 am zweiten Weihnachtsfeiertag neben ihr auf dem Friedhof Montparnasse begraben. Nur ein paar Verwandte und Freunde sind zugegen. Als sein Tod bekannt wird, ist das Grab noch wochenlang übersät mit Blumen.

    Wer es heute nicht als altmodisch und überholt betrachtet, sich mit dem Entstehen von Literatur und dem Lebensweg eines Literaten zu beschäftigen, wer Anpassung an den Zeitgeist nicht als allerhöchstes Gut ansieht, wird die Lektüre dieser Biographie als Gewinn verbuchen. Beckett ist eine Art Gegengift, stärkt unser Immunsystem, hält uns den Spiegel vor. Er, der die Stille so liebte, hat nun eine unaufdringliche, fast stille Biographie dazubekommen.

    Doch das letzte Wort hat das Werk. In ihm zeigt sich der Bilderschöpfer und Visionär mit all seinem Widerspruchsgeist. Seine Welt war seine Sprache, der er sich aufopfernd widmete und alles andere dahinter verschwinden ließ. Knowlsons Portrait bringt es fertig, dass man wieder einmal ein Buch von Beckett zur Hand nimmt. "Alles, was geschieht, sind Wörter", heißt es in seinem Roman "Der Namenlose". Und diese Wörter sind unsterblich.