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Sanfter Revolutionär

"Angelo, nimm dich nicht so wichtig", habe ihm jeden Morgen sein Schutzengel zugeflüstert. Doch Angelo Roncalli, der 1958 zum Papst gewählt wurde, wurde wichtig. Er warf überkommene Vorstellungen im Vatikan über Bord und stellte wichtige Weichen für die katholische Weltkirche.

Von Peter Hertel | 25.11.2006
    11. Oktober 1962, Petersdom in Rom. Papst Johannes XXIII. eröffnet das Zweite Vatikanische Konzil. Kein Zweifel, ein Reform-Konzil will er. Nachdem er gut zehn Minuten gesprochen hat, wird es mucksmäuschenstill. Wohl jeder der Bischöfe merkt, dass er sich nunmehr die Bremser in der katholischen Kirche vornimmt:

    "Oft verletzt es uns, wenn wir uns bei der Ausübung unseres päpstlichen Amtes Vorhaltungen anhören müssen von eifernden, nicht gerade differenziert denkenden, nicht gerade taktvollen Leuten. (…) Sie nehmen nur Missstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie behaupten, unsere Zeit entwickle sich, verglichen mit der Vergangenheit, hin zum Schlechteren. Sie tun so, als ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten. (…) Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehe."

    Eine erstaunliche Attacke, ein überraschender Aufbruch eines fast 80-jährigen Greises. Angelo Roncalli, seit vier Jahren Papst Johannes XXIII., hat beschlossen, die katholische Kirche zu reformieren, sie von Enge und Erstarrung zu befreien und sie so auf das dritte Jahrtausend vorzubereiten. Die katholische Kirche soll aus einem Jahrhundertschlaf erwachen, einen Sprung nach vorn machen. Dass Johannes XXIII. diese Vision entwarf und sie gegen die überaus starken Unglückspropheten zu verwirklichen begann, das hat seine Bedeutung und seinen Ruhm begründet.

    Geboren am 25. November 1881 als Bauernsohn in Sotto il Monte unweit der Bergamasker Alpen, hat er seine Weltsicht bei den einfachen Leuten gewonnen. Am Tag, als er 50 wird, schreibt er seinen Eltern:

    "Das Beste, was ich besitze, habt Ihr mir bis zu meinem 10. Lebensjahr beigebracht."

    Später wird er Bischof, päpstlicher Gesandter, Kardinal, Papst. Seinen Ursprüngen aber bleibt er treu, selbst wenn er mit den Großen dieser Welt spricht:

    "Wenn ich mit ihnen verhandle, denke ich immer an die Einfachheit unserer Felder, unserer Familie."

    So steht er fest auch auf dem schwankenden Parkett der Diplomaten, zeigt sich aufrichtig vom Scheitel bis zur Sohle. Als ein Neffe ihn fragt, warum er auch bei Politikern Erfolg habe, antwortet er:

    "Weil ich immer die Wahrheit sage, obwohl die anderen das Gegenteil vermuten."

    Seine vermittelnden Appelle, gestärkt durch sein hohes Ansehen in der Welt, trugen mit dazu bei, dass 1962 in der Kubakrise der Ausbruch eines Dritten Weltkrieges verhindert wurde. Frieden und Gerechtigkeit - das war neben der Kirchenreform sein zweites großes Wirkungsfeld. Als erster Papst bezog er in seiner Enzyklika "Mater et magistra" die notleidenden Völker außerhalb Europas in die so genannte soziale Frage ein. Und ohne sich von seiner Kurie, ja von Politikern einschüchtern zu lassen, drängte dieser sanfte Revolutionär bereits im Angesicht des Todes darauf, dass seine ebenfalls sehr bedeutsame Enzyklika "Pacem in terris - Friede auf Erden" umgehend veröffentlicht werde. Ohne Wenn und Aber verurteilte der Papst in diesem Rundschreiben unter anderem die atomare Bewaffnung. Es war das erste päpstliche Lehrschreiben, das sich an alle Christinnen und Christen richtete, ja sogar an alle "Menschen guten Willens".

    Johannes XXIII. starb Pfingsten 1963. Nach seinem Tode gewannen jene Unglückspropheten, die Johannes XXIII. in die Schranken gewiesen hatte, wieder die Oberhand. Die Restauration hielt Einzug im Vatikan. Doch im Herzen des Kirchenvolkes lebt Angelo Roncalli, der nur knapp fünf Jahre Papst war, auch heute noch weiter. Selbst jenseits der Konfessionsgrenze wird wohl kein anderer Pontifex des 20. Jahrhunderts mit so großer Sympathie genannt wie er. Unzählige Sprüche von ihm und Anekdoten über ihn sind immer noch im Umlauf. Sie tradieren seine Volksverbundenheit und seine Originalität, seinen Humor und seine unvergessene Menschenfreundlichkeit.