Dies alles trifft auch auf Kings neuesten Roman zu. "Sara" erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der nach dem Tod seiner Frau eine Schreibblockade und eine tiefsitzende Verunsicherung erlebt und sich in sein Haus am Ufer eines abgelegenen Sees im amerikanischen Bundesstaat Maine zurückzieht. Dort kommt er mit Hilfe seiner toten Frau langsam dem Schrecken einer unbewältigten Vergangenheit auf die Spur, der in diesem Haus und der ganzen Gegend wohnt. Das Buch spielt 1998, die Vorgeschichte reicht bis zur vergangenen Jahrhundertwende zurück, als sich die Bluessängerin Sara Tidwell für einige Jahre hier niederließ. Das sind allesamt vertraute King-Muster. Neu sind in "Sara" nur juristische Auseinandersetzungen um das Sorgerecht bei Kindern, aber auch hier kreist King mehr um eines seiner alten Themen, die Bedingungen kindlicher Existenz, als die diffizilen Unterscheidungen des Rechtsstaats oder eine Justizstory à la Grisham.
Ein neues Kultbuch wird "Sara" wohl nicht werden, dazu bewegt es sich zu sehr im gewohnten "King of Fear"-Fahrwasser. Aber es ist solider, teilweise sogar brillianter King. "Sara" ist geschickt aufgebaut, einfach und immer auf den Gruseleffekt hin konstruiert, der Stoff wird immer so entfaltet, daß man trotz aller Monstren tatsächlich glaubt, es hätte so geschehen können.
Außerdem zeigt "Sara" wieder einmal, daß Stephen Kings Werk im wesentlichen um ein einziges Wort kreist: Schatten. Die Wiederkehr der Toten erfolgt in Form von Schatten, überall lauern Verdoppelungen und verborgene Bedeutungen hinter der Oberfläche, merkwürdige Konstellationen scheinen, einmal bemerkt, durch die dann schattenhaft werdende Realität. Wie in allen seinen Büchern webt King auch an einem Text, der hinter der sogenannten Realität wirkt.
Hier hat auch ein Vergnügen ganz anderer Art als Angst und Schrecken seine Wurzeln. Die ersten zweihundert Seiten, immerhin ein Drittel des Buchs, erzählt King vor allem von der Schreibhemmung seines Protagonisten. Eine Blockade, unter der King selbst offensichtlich nicht leidet, obwohl es nicht das erste Mal ist, daß er sie zu seinem Thema macht. Auf jeden Fall wirkt dieser Teil, eben wegen der Lust an Doppelbödig- und Vieldeutigkeiten, weitgehend autobiographisch. King umkreist hier das Thema der Inspiration, er spürt den Jungs im Keller nach, wie er das Unbewußte nennt.
Wenn diese Seiten von Nicholson Baker geschrieben worden wären, dann wären sie wahrscheinlich noch raffinierter und die Frau des Schriftstellers käme nicht zu Tode, sondern wäre nur zeitweise aus der Welt. Trotzdem ist unübersehnbar, daß Kings Schreiben hier Verwandtschaft mit einem der Lieblinge der Literaturkritik hat: ähnlich verzwickt ist das Spiel um die Doppelbödigkeiten der Fiktion, er schreibt mit ähnlichem Genuß am amerikanischen Alltag, und ähnlich sanft wie Baker geht King hier zu Werke. Vielleicht also ist die Kluft zwischen E und U weitaus geringer, als sich so mancher träumen läßt.
Gegen Ende von "Sara" erklärt der - nicht mehr - schriftstellernde Ich-Erzähler, daß Morde, auch literarische, die schlimmste Form von Pornographie sind, die er nicht mehr verantworten will, und daß er den Geschmack an Spukgeschichten verloren hat. Es ist nicht vollkommen ausgeschlossen, daß hier tatsächlich Stephen King spricht. Gibt es also doch eine Schreibblockade?
Ein Moralist reinsten Wassers jedenfalls war King schon immer. Hochgradig naiv ist er wahrscheinlich das, was man einfach einen guten Menschen nennt. Zuletzt ist es gar nicht so unwahrscheinlich, daß das mehr als alles andere zu seinem Erfolg beigetragen hat.