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Sara

Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Schriftsteller wie Stephen King sind tief gespalten. Die Literaturkritik rümpft die Nase und sieht über das Phänomen hinweg: Unterhaltungsliteratur, schüttelt sie sich. Die Leser schert dieses Urteil nicht, sie kaufen und kaufen und kaufen. Im Fall Stephen Kings, er ist der erfolgreichste Autor der Welt, tun sie das seit vielen Jahren in einem Ausmaß, daß auch die Literaturkritik nicht mehr an dem Phänomen vorbeikommt. Meist kommt dabei dann eine Untersuchung über die Frage heraus, warum Stephen King so erfolgreich ist. Es wird auf die gekonnte Verbindung des amerikanischen Alltags mit dem langsam einbrechenden Horror hingewiesen, man bemerkt, daß King eine Leerstelle füllt, die das Zusammenbrechen der Religion hinterlassen hat, er stelle metaphysische Fragen nach Existenz und Tod, nach Verantwortung und Schuld. Und seine Antworten seien die Monster.

Peter Michalzik |
    Trotz (oder wegen) solchen Aufwands an Interpretationsintelligenz läßt sich aber niemand einfach begeistern oder abschrecken, niemand sagt so einfach und direkt, wie die Literatur Kings nun einmal funktioniert, was er beim Lesen erlebt. Da aber kann es erst einmal gar keinen Zweifel geben: King lesen macht Spaß, enormen Spaß sogar, man ist nicht nur gebannt, man entspannt auch ungeheuer bei der Lektüre und fühlt sich hinterher einfach besser. Das liegt daran, daß King wie wenige Schriftsteller die Fähigkeit hat, beiläufige Gefühle deutlich zu machen. Er nimmt zum Beispiel Unsicherheiten, wie sie jedes Gespräch begleiten, gekonnt auf, reduziert sie nicht auf rationale Erklärungen, die sich letztlich immer als Beruhigungen entpuppen, sondern spinnt sie mit Genuß ins Grauen aus. Genau da hat der Horror seinen Ursprung. Das Paradoxe ist: King wirkt dabei wie ein Staubsauger, der diesen Gedankenmüll aufnimmt und entsorgt. Seine Gespenster verstopfen den Geist nicht, sondern machen ihn frei.

    Dies alles trifft auch auf Kings neuesten Roman zu. "Sara" erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der nach dem Tod seiner Frau eine Schreibblockade und eine tiefsitzende Verunsicherung erlebt und sich in sein Haus am Ufer eines abgelegenen Sees im amerikanischen Bundesstaat Maine zurückzieht. Dort kommt er mit Hilfe seiner toten Frau langsam dem Schrecken einer unbewältigten Vergangenheit auf die Spur, der in diesem Haus und der ganzen Gegend wohnt. Das Buch spielt 1998, die Vorgeschichte reicht bis zur vergangenen Jahrhundertwende zurück, als sich die Bluessängerin Sara Tidwell für einige Jahre hier niederließ. Das sind allesamt vertraute King-Muster. Neu sind in "Sara" nur juristische Auseinandersetzungen um das Sorgerecht bei Kindern, aber auch hier kreist King mehr um eines seiner alten Themen, die Bedingungen kindlicher Existenz, als die diffizilen Unterscheidungen des Rechtsstaats oder eine Justizstory à la Grisham.

    Ein neues Kultbuch wird "Sara" wohl nicht werden, dazu bewegt es sich zu sehr im gewohnten "King of Fear"-Fahrwasser. Aber es ist solider, teilweise sogar brillianter King. "Sara" ist geschickt aufgebaut, einfach und immer auf den Gruseleffekt hin konstruiert, der Stoff wird immer so entfaltet, daß man trotz aller Monstren tatsächlich glaubt, es hätte so geschehen können.

    Außerdem zeigt "Sara" wieder einmal, daß Stephen Kings Werk im wesentlichen um ein einziges Wort kreist: Schatten. Die Wiederkehr der Toten erfolgt in Form von Schatten, überall lauern Verdoppelungen und verborgene Bedeutungen hinter der Oberfläche, merkwürdige Konstellationen scheinen, einmal bemerkt, durch die dann schattenhaft werdende Realität. Wie in allen seinen Büchern webt King auch an einem Text, der hinter der sogenannten Realität wirkt.

    Hier hat auch ein Vergnügen ganz anderer Art als Angst und Schrecken seine Wurzeln. Die ersten zweihundert Seiten, immerhin ein Drittel des Buchs, erzählt King vor allem von der Schreibhemmung seines Protagonisten. Eine Blockade, unter der King selbst offensichtlich nicht leidet, obwohl es nicht das erste Mal ist, daß er sie zu seinem Thema macht. Auf jeden Fall wirkt dieser Teil, eben wegen der Lust an Doppelbödig- und Vieldeutigkeiten, weitgehend autobiographisch. King umkreist hier das Thema der Inspiration, er spürt den Jungs im Keller nach, wie er das Unbewußte nennt.

    Wenn diese Seiten von Nicholson Baker geschrieben worden wären, dann wären sie wahrscheinlich noch raffinierter und die Frau des Schriftstellers käme nicht zu Tode, sondern wäre nur zeitweise aus der Welt. Trotzdem ist unübersehnbar, daß Kings Schreiben hier Verwandtschaft mit einem der Lieblinge der Literaturkritik hat: ähnlich verzwickt ist das Spiel um die Doppelbödigkeiten der Fiktion, er schreibt mit ähnlichem Genuß am amerikanischen Alltag, und ähnlich sanft wie Baker geht King hier zu Werke. Vielleicht also ist die Kluft zwischen E und U weitaus geringer, als sich so mancher träumen läßt.

    Gegen Ende von "Sara" erklärt der - nicht mehr - schriftstellernde Ich-Erzähler, daß Morde, auch literarische, die schlimmste Form von Pornographie sind, die er nicht mehr verantworten will, und daß er den Geschmack an Spukgeschichten verloren hat. Es ist nicht vollkommen ausgeschlossen, daß hier tatsächlich Stephen King spricht. Gibt es also doch eine Schreibblockade?

    Ein Moralist reinsten Wassers jedenfalls war King schon immer. Hochgradig naiv ist er wahrscheinlich das, was man einfach einen guten Menschen nennt. Zuletzt ist es gar nicht so unwahrscheinlich, daß das mehr als alles andere zu seinem Erfolg beigetragen hat.