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Sarrazin-Debatte: "Man kann nicht einfach jemanden rauswerfen"

Thilo Sarrazin zeigte sich in fünfstündigen Parteiauschluss-Verhandlungen augenscheinlich geläutert - die SPD sieht keinen Grund, ihn wegen seiner umstrittenen Migrantenthesen aus der Partei zu werfen: Alles Teil der Meinungsfreiheit, meint Andrea Nahles.

    Tobias Armbrüster: Es war eine überraschende Wende, die die SPD-Spitze am Gründonnerstag kurz vor Ostern präsentiert hat. Thilo Sarrazin, Autor des umstrittenen Bestsellers "Deutschland schafft sich ab", darf Parteimitglied bleiben. Er muss sich noch nicht einmal entschuldigen, lediglich erklären, dass er nie vorhatte, Migranten zu diskriminieren, oder sozialdemokratische Grundsätze zu verletzen.
    Am Telefon begrüße ich die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Schönen guten Morgen.

    Andrea Nahles: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Frau Nahles, "einen Möchtegern-Darwin wie Sarrazin können wir in der SPD nicht dulden", hatte Ihr Parteichef Sigmar Gabriel im vergangenen Jahr gesagt. Jetzt kann sie ihn sehr wohl dulden, er muss sich noch nicht einmal entschuldigen. Sieht so konsequentes Handeln aus in der SPD?

    Nahles: Thilo Sarrazin hat seine sozial-darwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich auch von diskriminierenden Äußerungen distanziert. Das ist eine weitreichende Erklärung, die er da abgegeben hat. Wenn man das auch vergleicht: Noch vor dieser Schiedskommissionssitzung hat er erklärt, er wolle kein Jota abweichen von seinen Äußerungen. Da ist einiges passiert in diesen fünf Stunden Verhandlungen. Es handelt sich auch nicht um einen Deal, um das sehr klar zu sagen, sondern um ein Schiedsverfahren, was durch das deutsche Parteiengesetz vorgeschrieben ist und was gute Gründe hat. Man kann nicht einfach jemanden rauswerfen, auch nicht, wenn er sich noch so kontrovers verhält, sondern es gibt ein faires Verfahren und das hat an Gründonnerstag stattgefunden.

    Armbrüster: Heißt das, es war alles halb so schlimm, auch das Buch, das sich über eine Million Mal verkauft hat und dessen umstrittene Thesen nun im Umlauf sind?

    Nahles: Mit den Distanzierungen und Relativierungen, die in der Erklärung ja jetzt nachzulesen sind von Thilo Sarrazin, macht sich die Parteispitze oder auch das Land und der Kreis, die ja mit auch dieses Verfahren geführt haben, seine Thesen nicht zu eigen. Es ist aber trotzdem zu prüfen, ob jemand die Grenzen der innerparteilichen Meinungsfreiheit überschritten hat. Meiner Meinung nach – und das war die Meinung von allen an der Parteispitze – hatte Thilo Sarrazin das gemacht. Er hat sich davon jetzt distanziert. Damit hat er sich wieder sozusagen auf den Boden der Meinungsfreiheit innerhalb der Partei begeben, die man wohl aushalten muss in einer demokratischen Partei. Und von daher, kann ich nur sagen, ist es im Grunde genommen ein Weg, der versucht, jetzt die ohnehin gespaltene Partei, die wir haben, es hätte wahrscheinlich keinen Weg gegeben, der alle zufriedenstellt, aber es ist hier ein kluger Weg beschritten worden.

    Armbrüster: Heißt das, es ging hier darum, auch die Wahlchancen der SPD in Zukunft zu verbessern?

    Nahles: Darum ging es überhaupt nicht. Es ist auch kompletter Unsinn, was von einigen Medien behauptet wurde, das sei irgendwie ein Deal, den der Regierende Bürgermeister eingegangen wäre, sondern ...

    Armbrüster: Herr Sarrazin hat das ja auch selber gesagt, dass sich nun die Wahlchancen gerade in Berlin verbessern.

    Nahles: Nun gut. Was er da für eine Meinung hat, das sei dahingestellt. Das ist für mich nicht maßgeblich. Maßgeblich ist, dass fälschliche Behauptungen in die Welt gesetzt worden sind, dass es sich hier um ein taktisches Manöver handelt. Wir haben fünf Stunden miteinander verhandelt. Die Schiedskommission, die Vorsitzende der Schiedskommission hat den Vorschlag gemacht für diese Erklärung, den dann beide Seiten akzeptiert haben. Das ist im Grunde genommen auch ein ganz normales Verfahren gewesen. Da kam kein Einfluss von außen, da hat niemand gedealt, das möchte ich noch mal klarstellen.

    Armbrüster: Ist das auch normal, dass so eine Entscheidung dann kurz vor Ostern, sozusagen wenn alle in Urlaub fahren, am Gründonnerstag veröffentlicht wird?

    Nahles: Es ist letztendlich ein Stück weit, das muss ich auch sagen, dadurch entstanden, dass ich jetzt einige Monate im Mutterschutz war, und die Frist läuft Anfang Mai einfach aus. Es gab kein großes Zeitfenster mehr, sodass es halt zu dieser Terminierung kam. Da vermutet man jetzt auch wieder einiges, was wahrscheinlich überhaupt nicht der Fall gewesen ist.

    Armbrüster: Wie sicher sind Sie denn, Frau Nahles, dass Thilo Sarrazin nicht noch einmal mit einem weiteren Buch oder einem weiteren umstrittenen Zeitungsartikel nachlegt?

    Nahles: Sicher kann man sich da nicht sein, aber ich glaube, er weiß auch, was damit dann für ihn auf dem Spiel steht.

    Armbrüster: 7:23 Uhr ist es, Sie hören den Deutschlandfunk, wir sprechen mit Andrea Nahles, der Generalsekretärin der SPD. – Frau Nahles, ein anderes Thema: Für die SPD, für Ihre Partei ist das eine traurige Woche. Die SPD wird zum ersten Mal Juniorpartner der Grünen, nämlich in Baden-Württemberg. Wie wollen Sie verhindern, dass die Grünen Ihnen in Zukunft den Rang streitig machen?

    Nahles: Nun, die Koalitionsverhandlungen haben ja schon eine sehr gute Entwicklung genommen. Man kann die sozialdemokratische Handschrift hier sehr klar erkennen. Wenn ich zum Beispiel die Verabredung zum Mindestlohn sehe, ein sichtbares Bekenntnis zum Industriestandort Baden-Württemberg, dann ist da sehr viel SPD drin. Und von Anfang an haben wir gesagt, das ist eine Koalition auf Augenhöhe, die beiden Parteien liegen ja nahezu gleich auf, und ich erkenne das auch in den Koalitionsverabredungen, die ich bisher kenne, wieder.

    Armbrüster: Winfried Kretschmann, der designierte Ministerpräsident, hat in einem Zeitungsinterview am Wochenende gesagt, weniger Autos sind natürlich besser als mehr, wir müssen in Zukunft Mobilitätskonzepte verkaufen, dazu gehören Laufen, Fahrrad fahren, Auto fahren, Eisenbahn fahren. Ist das eine Industriepolitik, die auch die SPD gerne unterschreibt?

    Nahles: Na ja, also ich habe geschwankt, ob ich das für naiv, oder für fahrlässig halte. Also ich meine, Baden-Württemberg produziert sehr viele Autos, hat viele Autozulieferer und produziert sehr gute Autos, die sich natürlich umstellen müssen vom Benzinmotor in alternative Energieformen. Aber das ist natürlich das Herzstück auch von Industrie in Deutschland. Das hat uns übrigens besser durch die Krise gebracht, dass wir diese Industrie noch haben, als andere Länder in Europa und der Welt. Deswegen hoffe ich doch sehr, dass hier die Sozialdemokratie in dieser Regierung dafür sorgt, dass es eine Änderung im Konzept der Autoindustrie gibt, das ist für uns unbestritten, aber dass es sie weiter gibt auch in den nächsten Jahrzehnten. Das möchte ich für uns doch klar als Ziel festhalten.

    Armbrüster: Zeigt sich hier also schon ein erster tiefer Riss zwischen Grünen und SPD?

    Nahles: Na ja, sagen wir mal, es gibt da sanftes Kopfschütteln, wenn ich das lese. Ansonsten, wenn wir uns aber die Ergebnisse bei Bildungspolitik angucken, was die Verabredung zu einer soliden Haushaltspolitik als Markenzeichen dieser Regierung angeht, bin ich insgesamt doch recht zuversichtlich, dass das eine gute Regierung wird.

    Armbrüster: Die Grünen sind ja, das muss man festhalten, auch mit solchen Äußerungen zurzeit auf einem Höhenflug. Wie wollen Sie verhindern, dass das fortgesetzt wird? Auch in Berlin könnte es ja in diesem Jahr im Herbst so weit sein, dass die Grünen stärkste Kraft werden, vor der SPD.

    Nahles: Um die Herzen und Köpfe der Menschen kämpfen, die eigenen Themen nach vorne bringen und mit Verlaub, ich glaube, dass die Grünen auch ihren Scheitelpunkt jetzt erreicht haben.

    Armbrüster: Aber ist es nicht ein Problem für Sie, dass die Grünen ihre Kernthemen, gerade wenn es um Umweltschutz und Atomkraftwerke geht, sehr viel glaubwürdiger vertreten können als die Sozialdemokraten?

    Nahles: Die Grünen haben sich praktisch gegen die Nutzung von Atomenergie gegründet. Das ist ihr Gründungsmythos. Da haben sie einfach die Nase vorn, das Thema ist sehr stark im Vordergrund zurzeit. Kernthemen der SPD sind Arbeit, Soziales, Gesundheit, Wirtschaft und natürlich auch der Ausstieg aus der Atomenergie und Energiewende, aber eben nur als ein Teilbaustein. Ich denke, wir haben gute Chancen gerade auch in Berlin, die Themen werden sich ändern noch im Laufe des Jahres. Wir haben eine große Schnittmenge mit den Grünen, das ist ein Konkurrent, aber eben auch ein Partner, wenn es um Politikwechsel geht. Also deswegen sollte man sich jetzt nicht, wie man bei uns im Rheinland sagt, jeckig machen lassen.

    Armbrüster: ... , sagt Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD. Besten Dank, Frau Nahles, für dieses Gespräch.

    Nahles: Vielen Dank, Herr Armbrüster.

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