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Saša Stanišić
Vom Suchen, Verlieren und Wiederfinden

Mit dem Erzählband "Fallensteller" liefert der Schriftsteller Saša Stanišić nicht einfach eine Fortschreibung seines Romanerfolges "Vor dem Fest". Zwar widmet er sich auch ein paar offenen Enden, doch zudem erzählt er neue Geschichten vom Suchen, sich Verlieren und Wiederfinden - und von sich selbst.

Von Holger Heimann | 03.08.2016
    Der deutsch-bosnische Autor Sasa Stanisic freut sich während der Verleihung des Preis der Leipziger Buchmesse auf der Messe in Leipzig. Er erhielt den Preis für Belletristik. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 für herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen verliehen und ist in drei verschiedenen Kategorien mit je 15.000 Euro dotiert.
    Auch sich selbst hat der deutsch-bosnische Autor Saša Stanišić in seine Erzählungen eingeschrieben – als "verweichlichten Jugo-Schriftsteller". (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Als vor zwei Jahren der großartige Roman "Vor dem Fest" erschien, begeisterte Saša Stanišić darin nicht zuletzt mit einer schier grenzenlosen Lust am Geschichtenerzählen. Das Porträt eines beschaulichen uckermärkischen Dorfes steckte voller Einfälle und unvergesslicher Figuren. Der Autor hatte lange dafür recherchiert, mit Menschen gesprochen, sie belauscht. Doch die überbordende Fülle drohte den Roman zu sprengen. Saša Stanišić hat das seinerzeit selbst eingeräumt:
    "Ich hatte fast 400 Seiten mehr Text und noch viel mehr Gestalten. Daraus, aus diesem Urwald einen lichten Wald zu roden, da wäre mir ohne Hilfe nicht gelungen. Meine Lektorin hat tagelang nur damit verbracht, die Sachen in eine Ordnung zu bringen, die nicht nur für den Leser eine Ordnung wäre, der er folgen könnte, sondern auch für mich als Autor. Weil ich irgendwann selber verloren war."
    Noch lange nicht fertig mit der Uckermark und Fürstenfelde
    Einen Teil der Texte, die nicht in das Buch aufgenommen wurden, kann man mittlerweile unter der Internetadresse fuerstenfelde.de nachlesen. Stanišić hat die Seite, benannt nach dem Dorf seines Romans, eigens angelegt, um auch einige der aussortierten Geschichten zugänglich zu machen. Doch sein Erzählband "Fallensteller" zeigt nun, dass er mit der Uckermark und Fürstenfelde trotzdem längst noch nicht fertig ist. Die mit Abstand längste, titelgebende Erzählung führt noch einmal in die ländliche Gemeinschaft:
    "Als ich das entschied, dass ich mich da weiter bewegen möchte in dem Dorf, habe ich gemerkt, dass der Sound noch da ist. Diese Erzählstimme, die eine eigene Sprache hat, die ein bisschen lokal gefärbt ist, aber doch eine Kunstsprache ist, das fiel mir sehr leicht. Und ich bemerkte, dass mir einige Figuren wichtig waren, aber kein Ende gefunden hatten in "Vor dem Fest". Das war eine zusätzliche Motivation. Es gab so ein paar offene Enden. Das habe ich jetzt zu Ende geführt, merke aber nach wie vor, dass mir das Spaß macht. Also ich könnte mir vorstellen, dass im Laufe meines Lebens immer wieder Geschichten aus Fürstenfelde kommen, dass das ein Kosmos bleibt und mich ans Schreiben bringt."
    Die Zeit im Dorf ist weitergegangen
    "Fallensteller" ist nicht einfach eine Fortschreibung von "Vor dem Fest" – wenngleich der Sound, der schelmische Kollektiverzählungston sogleich an den Roman erinnert. Auch das alte Personal ist nahezu vollständig wieder beisammen und wird komplettiert durch einen rätselhaften Fremden, der allerlei eigenartig konstruierte Fallen mit sich führt – und mit Tieren ebenso wie mit Menschen spricht.
    Aber die Zeit im Dorf ist weitergegangen: Literaturtouristen kommen mittlerweile in Scharen und sind enttäuscht, weil der Ort in der Realität doch nicht ganz dem Bild entspricht, das im Roman gezeichnet wird. Auch sich selbst hat Saša Stanišić eingeschrieben – als "verweichlichten Jugo-Schriftsteller". Aber damit nicht genug: Ausgerechnet der unberechenbarste Halbstarke im Dorf, Spitzname Lada, der immer zu schnell fuhr und deshalb sein Auto regelmäßig im See versenkte, wird in der Erzählung selbst zum Schriftsteller:
    Wir sind überrascht und froh: Das, was Lada die ganze Zeit aufgeschrieben hat, hat einen Preis bekommen. Einen Literaturpreis. Wir wussten nicht mal, dass man für Literatur noch andere Preise gewinnen kann als den Nobelpreis und den einen, den der Jugo gewonnen hat. Aber es geht! Es gibt richtige Wettkämpfe dafür. Komisch, dass man so etwas gegeneinander vermessen kann, aber vielleicht ist es ein bisschen wie beim Eiskunstlaufen: Niemand kann ehrlich erklären, warum die besser ist als die andere, es sei denn, die andere ist auf dem Hintern gelandet.
    Verloren im Schnee der bosnischen Berge
    Auf dem Hintern landet Saša Stanišić in seinen Erzählungen nie, wenngleich er eine Menge ausprobiert – an unterschiedliche Schauplätze führt und beständig neue Tonlagen anstimmt. Immer wieder erzählt er dabei Geschichten vom Verschwinden. Da ist zum Beispiel der Brauerei-Justiziar Georg Horvath, der während einer Geschäftsreise im Flugzeug zunächst in eine veritable Sprachkrise stürzt: Ist das ins Blickfeld kommende Rio wirklich "Ein Meer der Lichter" oder eher ein "Lichterteppich", wenn nicht gar eine "Urbane Glühwürmchenplage"? In Brasilien angekommen, lässt er sich widerstandslos in die Irre chauffieren und entfernt sich schließlich auch emotional immer weiter von seinem bisherigen Leben.
    In der kürzesten Erzählung "Die Fabrik" verliert sich ein Mann im Schnee der bosnischen Berge. Hirten retten ihn aus seiner Notlage und nehmen ihn mit zu ihrer Unterkunft, einer mit EU-Geldern gebauten Fabrik, die nie fertig geworden und längst zur Ruine verfallen ist. Alles ist hier wie eingefroren: Vergangenheit, Gegenwart und unbestimmte Zukunft lagernd wie durchsichtige Eisschichten übereinander.
    "Ich mag Erzählungen, die mich immer wieder irgendwo anders hin mitnehmen, sei es geografisch anders, sei es vom Sound her anders. Mein eigener Versuch war es, so viele Stimmen wie möglich zu versammeln, die nicht unbedingt durch Themen verbunden sind oder durch Orte. Es war mir eher angenehm, nicht zweimal den gleichen Ton zu haben als mich in einer Haltung zu wiederholen. Das kann man schon als Testen verschiedener Tonlagen bezeichnen. Ich wollte durchaus gerne eine Heterogenität dieser Geschichten haben, dass der Leser jedes Mal das Gefühl hat, er kommt auch sprachlich in eine ganz neue Welt. Ich wollte gern schauen, wohin mich die Sprache führt, sie abhängig machen von den Protagonisten."
    Zwischen Traurigkeit und Unbeschwertheit
    Die Sprache führt Saša Stanišić überallhin. Er spielt mit ihr, lockt und umschmeichelt sie. So wird bei ihm das Schwere leicht und das Leichte schwer. In der letzten und anrührendsten Geschichte des Bandes verwebt er so raffiniert wie behutsam die Ferienreise eines beruflich sehr erfolgreichen jungen Mannes durch Frankreich mit seinen Erinnerungen an die ferne Kindheit in Bosnien. Dort liegt zur selben Zeit sein Großvater im Sterben. Der alte Mann hatte ihm einst die Angst vor dem Fluss genommen, in dessen Wasser sein Vater verschwunden war. Später trug der Fluss den Jungen weg vom Krieg – über vier Grenzen in die Fremde, zu einem neuen Leben.
    Großvater war immer dort geblieben. Besucht hat er mich nicht. Warum eigentlich nicht? Ich habe nie nachgefragt. Seine Gesundheit ist seit Jahren nicht die beste gewesen, vielleicht war es das. Am Telefon wollte er gelegentlich, dass ich beschreibe, wie ich aussah. Fotos misstraute er. Und immer: Was ich las. Seit der Flucht habe ich ihn nicht gesehen. Auch all die Jahre auf seine Frage gewartet, warum ich nicht kam. Ich hatte die Antwort parat: Weil ich in das Land des Hasses nicht zurückwollte, den Tätern, die frei herumliefen, nicht in die Augen sehen wollte. Was für eine egoistische Ausrede.
    Wie beiläufig schwebt über dieser Erzählung, die von unwiederbringlichen Verlusten grundiert ist, eine leise Traurigkeit. Die gewaltsame Geschichte, die ihre Spuren im Leben der Menschen hinterlassen hat, ist immer wieder präsent, lastet jedoch nicht wie ein Sargdeckel. Und so kann Stanišić zugleich auch von einer sommerlichen Unbeschwertheit erzählen – mag diese auch trügerisch sein.
    "Aus der Zerrissenheit entstehen Texte, die zwischen den Welten spielen"
    Womöglich hat diese Erzählung die tiefsten Berührungspunkte mit der Biografie des Autors, der selbst im Kindesalter seine alte Heimat Bosnien zusammen mit seinen Eltern auf der Flucht vor dem Krieg verlassen musste:
    "Ein Teil von mir würde gern mehr Verbindung haben zu dem, was meine Kindheit war, zu Bosnien, was mal mein Land war, und der andere Teil kann das gar nicht gewährleisten. Man kann sich die Emotion nicht zurechtbiegen in der Art, dass man sagt, jetzt fühlst du dich hier wohl und willkommen. Genau das ist auch ein Thema. Aus dieser Zerrissenheit entstehen Texte, die zwischen den Welten spielen, wie die letzte Erzählung in dem Band, und es ist ein Geschenk, aber ich würde gern auf das Geschenk verzichten. Ich wäre gern jemand, der sagt, ich fühle mich in beiden Welten wohl. Das ist ja durchaus möglich, dass man durch das, was man tut oder die Art und Weise des Bezugs zu den Personen vor Ort nie diese Art von Entfremdung erlebt hat und dass man immer wieder gern zurückkommt. Und das kann ich aber bei mir eben nicht sagen."

    Wir, die Leser, können dankbar sein für das Geschenk, das Saša Stanišić uns mit seinen Büchern macht. In "Fallensteller" erzählt er virtuos vom Suchen, sich Verlieren und Wiederfinden. Die besten Stücke des Bandes tun dies mit einer Dringlichkeit, wie sie wohl auch der Biografie des Autors selbst eingeschrieben ist.
    Saša Stanišić: "Fallensteller"
    Erzählungen, Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, 19,99 Euro.