Den privaten Samuel Beckett kannte man bislang nur als besessenen Fahrradfahrer und notorischen Schweiger, der in seiner Freizeit Haydn-Sonaten spielt und sich der Öffentlichkeit systematisch entzieht. Journalisten und Literaturwissenschaftler waren ihm ein Graus, selbst den Nobelpreis 1969 weigerte er sich, persönlich in Empfang zu nehmen.
Dem französischen Schriftsteller Martin Page ist das Kunststück gelungen einen Zeitzeugen aufzutreiben, der den menschenscheuen Schriftsteller zwanglos und unkompliziert erlebte und über diese Begegnung Aufzeichnungen machte. Diese unglaubliche Flaschenpost wurde erst vor einigen Jahren und durch Zufall im Beckett-Archiv der Universität Reading entdeckt und Page zugespielt.
Der unbekannte Berichterstatter, ein Vorläufer der génération précaire, stellt sich uns in seinem Tagebuch als Student der Anthropologie vor, der sich mit seiner Doktorarbeit herumschlägt und froh ist, nebenbei etwas dazu verdienen zu können. Im Sommer 1985 (genauer, am 29. Juni laut Eintragung) habe er den Nobelpreisträger über einen Buchhändler in Paris kennengelernt und ihm bis zum Oktober beim Ordnen seiner Papiere geholfen. Denn alle zehn Jahre trenne sich Samuel Beckett …
" … von seinen Manuskripten, Notizen, Heften, Schnipseln, von Papiertischdecken und bekritzelten Metrotickets, und schenke sie begierigen Forschern."
Der damals 79-jährige Schriftsteller sah - wie die erste Begegnung zeigt - ganz und gar nicht wie Beckett aus:
"Beckett machte auf. Zuerst glaubte ich, die falsche Tür erwischt zu haben, denn ich hatte nicht das Gesicht vor mir, das ich aus den Zeitungen kannte: Er hatte lange Haare und einen Bart. Er trug ein geblümtes Seidenhemd, eine schwarze Baumwollhose, Hausschuhe und eine Schiffermütze."
Beckett spielt Bowling, macht Crêpes, isst Sauerkraut und trinkt Coca-Cola. Wären da nicht ein paar Schnurren - man würde ihn für einen braven Biedermann halten. Verwundert notiert der anonyme Tagebuchschreiber:
"Es hat etwas Verwirrendes, mit Beckett zu verkehren und zu merken, dass er ganz normal ist."
Wozu brauchte Beckett überhaupt einen Gehilfen? Der Leser erfährt lediglich: Er hätte einfach keine Lust gehabt, seinen Nachlass alleine zu ordnen. Überdies habe ihm der moderne Reliquienkult der Archive und Archivare missfallen. In den Archiven werden unzählige uninterpretierbare Dokumente überflüssigerweise aufbewahrt, deren Existenz nur dazu führe, dass statt der großen unsterblichen Werke die dürftige Alltagspost ihrer Verfasser gelesen werde. Aus solchen Zufallsschnipseln ein Leben erfassen und rekonstruieren zu wollen, sei mehr als absurd.
"Es kommt vielmehr auf die Biografie derer an, die meine Bücher lesen, als auf meine eigene. Die Wissenschaftler täten gut daran, ihr eigenes Leben zu untersuchen, wenn sie von meinem Werk etwas verstehen wollen. ... Mein Leben zu erforschen ist ein Mittel, nicht zu sehen, was sich in ihrem eigenen Leben abspielt und was meine Bücher aufzudecken versuchen."
Die moderne Archivwirtschaft als nationale Sinnstiftungseinrichtung lässt sich wohl schwer bremsen, aber man kann diesen aus Becketts Sicht kolossalen Nonsens, zumindest unterminieren, indem man wie ein Fallensteller vorgeht und systematisch falsche Fährten legt:
"Die wollen Archive? Dann werde ich ihnen welche fabrizieren."
Erklärt Beckett seinem Gehilfen verschwörerisch lächelnd. In der Erfindung von frischem Archivfutter sind der Dichter und sein Helfer äußerst kreativ. Wir wollen nicht verraten, was sich die beiden alles einfallen lassen, um künftige Beckett-Forscher und Archivnutzer an der Nase zu führen. Nur so viel. Sie geben sich rechtschaffen Mühe und vollführen ihre Arbeit mit großem Spaß - wie die fleißigen Bienen dieser Erzählung aus Becketts Bienenstöcken.
In Ralph Dutli‘s kleine Literaturkulturgeschichte über Bienen und Dichter - sie ist gerade im Wallstein Verlag erschienen - hätte sie fabelhaft hineingepasst. Dutli erinnert an Vergil, der 2000 Jahre vor Beckett bereits Bienen züchtete, die er als "die Himmelsgabe des aus der Luft tauenden Honigs" besang. Interessant auch Dutli‘s Hinweis auf die Künstlergruppe finger. Auf dem Frankfurter Museum für moderne Kunst installierte sie zwölf Bienenkästen. Etwa 650.000 kuratierte Bienen starteten von dort aus, um Nektar für den ersten "Frankfurter Museumshonig" zu sammeln. Vielleicht sind sie ja bis nach Stuttgart geflogen, wo sich Martin Page einige Zeit als Stipendiat aufhielt und haben ihm etwas vorgesummt. Und da sind wir wieder bei diesem anonymen Tagebuch und bei Samuel Beckett, der, wenn wir seinem Gehilfen, Glauben schenken, drei Jahrzehnte vor den Frankfurter Bienenkünstlern schon in der französischen Metropole eine Art "Stadtimkerei" betrieb:
"Beckett bat mich, ihn auf dem Dach seines Hauses zu besuchen. ... Beckett trug einen blauen Overall und eine Imkermaske. ... Die sechs Bienenkörbe bildeten eine kleine Allee in der Mitte des Dachs ... Beckett nahm eine Wabe aus dem Korb. Hunderte von Bienen spazierten darauf herum. Einige flogen auf und setzten sich auf uns. Beckett hielt mir die Wabe hin. Der Honig glitzerte wie flüssiges Gold. 'Ich brauche die Bienen, um mir zu vergegenwärtigen, dass wunderbare Dinge möglich sind.'"
Diese verschmitzte Satire auf den wahren Beckett, auf den Nachruhm und dessen posthume Image-Verwaltung hat Gernot Krämer - um die implizite Komik um so luzider zur Geltung zu bringen - mit großer Dezenz ins Deutsche übersetzt. Durchaus denkbar, dass der folgende lapidare Satz tatsächlich von Samuel Beckett stammt:
"Das Privatleben wird stark überschätzt."
Der sein Aroma erst richtig entfaltet, nimmt man noch diesen kurzen hinzu:
"Man kommt zu billig weg mit Worten."
Martin Page : "Bienenzucht nach Samuel Beckett", aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. 72 Seiten, Merz & Solitude 2011; 15 Euro
Dem französischen Schriftsteller Martin Page ist das Kunststück gelungen einen Zeitzeugen aufzutreiben, der den menschenscheuen Schriftsteller zwanglos und unkompliziert erlebte und über diese Begegnung Aufzeichnungen machte. Diese unglaubliche Flaschenpost wurde erst vor einigen Jahren und durch Zufall im Beckett-Archiv der Universität Reading entdeckt und Page zugespielt.
Der unbekannte Berichterstatter, ein Vorläufer der génération précaire, stellt sich uns in seinem Tagebuch als Student der Anthropologie vor, der sich mit seiner Doktorarbeit herumschlägt und froh ist, nebenbei etwas dazu verdienen zu können. Im Sommer 1985 (genauer, am 29. Juni laut Eintragung) habe er den Nobelpreisträger über einen Buchhändler in Paris kennengelernt und ihm bis zum Oktober beim Ordnen seiner Papiere geholfen. Denn alle zehn Jahre trenne sich Samuel Beckett …
" … von seinen Manuskripten, Notizen, Heften, Schnipseln, von Papiertischdecken und bekritzelten Metrotickets, und schenke sie begierigen Forschern."
Der damals 79-jährige Schriftsteller sah - wie die erste Begegnung zeigt - ganz und gar nicht wie Beckett aus:
"Beckett machte auf. Zuerst glaubte ich, die falsche Tür erwischt zu haben, denn ich hatte nicht das Gesicht vor mir, das ich aus den Zeitungen kannte: Er hatte lange Haare und einen Bart. Er trug ein geblümtes Seidenhemd, eine schwarze Baumwollhose, Hausschuhe und eine Schiffermütze."
Beckett spielt Bowling, macht Crêpes, isst Sauerkraut und trinkt Coca-Cola. Wären da nicht ein paar Schnurren - man würde ihn für einen braven Biedermann halten. Verwundert notiert der anonyme Tagebuchschreiber:
"Es hat etwas Verwirrendes, mit Beckett zu verkehren und zu merken, dass er ganz normal ist."
Wozu brauchte Beckett überhaupt einen Gehilfen? Der Leser erfährt lediglich: Er hätte einfach keine Lust gehabt, seinen Nachlass alleine zu ordnen. Überdies habe ihm der moderne Reliquienkult der Archive und Archivare missfallen. In den Archiven werden unzählige uninterpretierbare Dokumente überflüssigerweise aufbewahrt, deren Existenz nur dazu führe, dass statt der großen unsterblichen Werke die dürftige Alltagspost ihrer Verfasser gelesen werde. Aus solchen Zufallsschnipseln ein Leben erfassen und rekonstruieren zu wollen, sei mehr als absurd.
"Es kommt vielmehr auf die Biografie derer an, die meine Bücher lesen, als auf meine eigene. Die Wissenschaftler täten gut daran, ihr eigenes Leben zu untersuchen, wenn sie von meinem Werk etwas verstehen wollen. ... Mein Leben zu erforschen ist ein Mittel, nicht zu sehen, was sich in ihrem eigenen Leben abspielt und was meine Bücher aufzudecken versuchen."
Die moderne Archivwirtschaft als nationale Sinnstiftungseinrichtung lässt sich wohl schwer bremsen, aber man kann diesen aus Becketts Sicht kolossalen Nonsens, zumindest unterminieren, indem man wie ein Fallensteller vorgeht und systematisch falsche Fährten legt:
"Die wollen Archive? Dann werde ich ihnen welche fabrizieren."
Erklärt Beckett seinem Gehilfen verschwörerisch lächelnd. In der Erfindung von frischem Archivfutter sind der Dichter und sein Helfer äußerst kreativ. Wir wollen nicht verraten, was sich die beiden alles einfallen lassen, um künftige Beckett-Forscher und Archivnutzer an der Nase zu führen. Nur so viel. Sie geben sich rechtschaffen Mühe und vollführen ihre Arbeit mit großem Spaß - wie die fleißigen Bienen dieser Erzählung aus Becketts Bienenstöcken.
In Ralph Dutli‘s kleine Literaturkulturgeschichte über Bienen und Dichter - sie ist gerade im Wallstein Verlag erschienen - hätte sie fabelhaft hineingepasst. Dutli erinnert an Vergil, der 2000 Jahre vor Beckett bereits Bienen züchtete, die er als "die Himmelsgabe des aus der Luft tauenden Honigs" besang. Interessant auch Dutli‘s Hinweis auf die Künstlergruppe finger. Auf dem Frankfurter Museum für moderne Kunst installierte sie zwölf Bienenkästen. Etwa 650.000 kuratierte Bienen starteten von dort aus, um Nektar für den ersten "Frankfurter Museumshonig" zu sammeln. Vielleicht sind sie ja bis nach Stuttgart geflogen, wo sich Martin Page einige Zeit als Stipendiat aufhielt und haben ihm etwas vorgesummt. Und da sind wir wieder bei diesem anonymen Tagebuch und bei Samuel Beckett, der, wenn wir seinem Gehilfen, Glauben schenken, drei Jahrzehnte vor den Frankfurter Bienenkünstlern schon in der französischen Metropole eine Art "Stadtimkerei" betrieb:
"Beckett bat mich, ihn auf dem Dach seines Hauses zu besuchen. ... Beckett trug einen blauen Overall und eine Imkermaske. ... Die sechs Bienenkörbe bildeten eine kleine Allee in der Mitte des Dachs ... Beckett nahm eine Wabe aus dem Korb. Hunderte von Bienen spazierten darauf herum. Einige flogen auf und setzten sich auf uns. Beckett hielt mir die Wabe hin. Der Honig glitzerte wie flüssiges Gold. 'Ich brauche die Bienen, um mir zu vergegenwärtigen, dass wunderbare Dinge möglich sind.'"
Diese verschmitzte Satire auf den wahren Beckett, auf den Nachruhm und dessen posthume Image-Verwaltung hat Gernot Krämer - um die implizite Komik um so luzider zur Geltung zu bringen - mit großer Dezenz ins Deutsche übersetzt. Durchaus denkbar, dass der folgende lapidare Satz tatsächlich von Samuel Beckett stammt:
"Das Privatleben wird stark überschätzt."
Der sein Aroma erst richtig entfaltet, nimmt man noch diesen kurzen hinzu:
"Man kommt zu billig weg mit Worten."
Martin Page : "Bienenzucht nach Samuel Beckett", aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. 72 Seiten, Merz & Solitude 2011; 15 Euro